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Die letzte Heimkehr

James A. Sullivan

Er wartete, bis meine Schicht im Lagerhaus vorüber war, und lauerte mir in der Gasse auf, die zwischen zwei Warendepots verlief und durch die ich oft den Weg zu meinem Wagen abkürzte. Er zog erst an meinem Rucksack, dann an meinem Haar, und schließlich trat er mir die Beine weg und verspottete mich. Und bei all dem konnte er nicht ahnen, worauf er sich einließ und wie es deswegen für ihn enden musste.

Sein starker deutscher Akzent ließ mich vermuten, dass dieser Mann in Irland fremd war – fremder noch als ich. Er erklärte mir, dass ich in solchen Sommernächten als Sexarbeiterin mehr Geld verdienen könne als im Lagerhaus als Nachtwächterin. »Alle stehen auf exotische Frauen«, fügte er hinzu.

Ein überhebliches Grinsen zog sich über seine gerötete Miene. Doch der Tritt in den Magen, der mich noch weiter hätte demütigen sollen, wurde zu einem Angriff gegen einen Körper, der sich gedankenschnell verwandelt hatte, als sammelten sich kalte Steine unter meiner Haut, ohne dass sich etwas nach außen hin andeutete.

Es knackte, als hätte mein Widersacher meinen Magen verfehlt und sich an meiner Hüfte den Fuß gebrochen. Während in mir der Schmerz nur kurz aufflackerte, stachelte er meinen Gegner zu einem langen Schrei an und brachte ihn aus dem Gleichgewicht, sodass er aus dem Licht der Laterne hinaustaumelte und stöhnend zu Boden fiel.

Ich nahm meine verborgene Verwandlung zurück, und das Verschwinden des Druckgefühls bescherte mir für einen Moment die Empfindung von Leerstellen zwischen Haut und Fleisch.

Langsam erhob ich mich vor dem Fremden. Er fluchte, löste vor Schmerz grunzend die Hände von seinem Fuß und griff in seine Jackentasche.

Ich musste lachen. Hier draußen in dem kleinen Gewerbegebiet am Rande von Tallaght würde uns mitten in der Nacht niemand hören – außer vielleicht Glenn, der mich drüben bei Almandine Logistics abgelöst hatte und wenig Sympathie für Menschen hegte, die nachts Leute überfielen.

Mein Angreifer fluchte mir variierende Bezeichnungen für Sexarbeiterinnen entgehen und zog einen Elektroschocker aus der Innentasche seiner Jacke.

»Ich hätte ja mit einem Messer gerechnet«, erwiderte ich. »Vor einer Pistole hätte ich sogar Respekt gehabt.«

Mit seinen Flüchen fand er schließlich das, was solche Kerle so oft finden, wenn sie mit mir zu tun haben und merken, dass sie unterlegen sind: Er verknüpfte rassistische und sexistische Schimpfwörter miteinander, als wären es Zaubersprüche, die im Verbund mehr Kraft entfalteten.

Mit einer schnellen Bewegung und angetrieben von der kühlen Magie, die in mir pulsierte, packte ich mit der einen Hand den Arm meines Angreifers, mit der anderen entriss ich ihm den schmalen Elektroschocker und warf diesen zur Seite.

Der Fremde griff nach meinem Arm, aber ich versetzte ihm einen Tritt zwischen die Beine und brach damit seine Angriffslust. »Das war von einer exotischen Frau!«, stieß ich ihm entgegen, während er nur ein Wimmern ausstieß. Ich trat ihm in den Magen. »Das war für die unverlangte Karriereberatung.« Ich trat immer wieder auf ihn ein. »Und der ist dafür, dass du was gegen Sexarbeiterinnen hast! Der hier ist für das N-Wort! Und das ist für die jämmerlichen Wortkompositionen!«

Mein Widersacher schaute schließlich mit hassverzerrter Miene zu mir auf und ballte seine Faust.

»Und der ist für all die, denen du vorher aufgelauert und was auch immer angetan hast«, sagte ich und versetzte dem Mann einen Schlag ins Gesicht. Er sank zusammen und starrte mich nur noch an.

Die Versuchung war groß, mich vor seinen Augen komplett in meine andere Gestalt zu verwandeln. Bisher war ich für ihn ein Mensch, der sich als wehrhaft erwiesen hatte. Zu gerne hätte ich ihm gezeigt, wie meine braune Haut ebenso ergraute wie meine schwarzen Locken. Früher hatte ich mich an den vor Angst geweiteten Augen meiner Widersacher erfreut. Aber damit hätte ich hier zu viel offenbart. Natürlich hätte man ihm zunächst einmal nicht geglaubt, dass er einer Frau aus Stein begegnet war. Aber es gab da draußen Leute, die es glauben würden – Leute, die nur darauf warteten, dass Meinesgleichen sich zu etwas hinreißen ließen.

»Wenn ich rauskriege, dass du noch mal irgendwem auflauerst, leg ich dich um«, sagte ich, und was immer der Angreifer, den ich gerade zum Opfer gemacht hatte, in meinem Gesicht fand, es brachte ihn zum Zittern.

Ich prüfte, ob mit meinem Rucksack alles in Ordnung war, und setzte den Weg zu meinem Wagen fort. Als ich am Ende der Gasse noch einmal zurückblickte, lag mein Opfer noch immer schwer atmend da und starrte mir hinterher.

In aller Ruhe näherte ich mich meinem Wagen – einem kotzgelben Haufen Schrott, der mich daran erinnerte, dass ich meinen geliebten Viertürer hatte verkaufen müssen, weil das Geld sonst nicht gereicht hätte.

Ich legte meinen Rucksack auf den Beifahrersitz ab, und nach dem üblichen Widerstand des Wagens und meinem Ritual des guten Zuredens sprang der Motor an. Während ich in Tallaght durch leere Straßen vom Industriepark in Richtung M50 fuhr, fragte ich mich, wie lange ich dieses Spiel des allmählichen Niedergangs noch spielen konnte.

Das neue Jahrhundert war nicht gut zu mir. Im letzten hatte ich mehr Geld gehabt, als ich gebraucht hätte. Aber mit meiner Ankunft in Dublin, abgeschnitten von fast allem, hatte ich nur von dem leben müssen, was mir geblieben war.

Als Schwarze Frau, am Akzent leicht als Amerikanerin zu erkennen, war meine Irland-Erfahrung eine der Fremdheit gewesen. Die Iren waren überwiegend freundlich zu mir, aber auch neugierig. Ich hatte lernen müssen, nicht viel zwischen mir und anderen entstehen zu lassen. Ich ging nicht mehr aus, wie ich es in den frühen 1920ern in New York mit Sema noch gerne getan hatte, oder mit ihren Vertrauten in den 1970ern in und um Seattle und Vancouver. All das war vorüber. Semas Vertraute waren fort, die wenigsten von ihnen dürften die Angriffe unserer Feinde überlebt haben – und falls doch, sind sie nun uralt und sehen ihrem Ende entgegen.

Das Altern ist eine Last, von der Sema mich befreite, indem sie mich zu einer Gargoyle machte. Aber was nützte es mir, nicht mehr zu altern, wenn ich einsam war und jedes Sichtbarmachen meiner selbst die Gefahr barg, dass dadurch auch Sema sichtbar wurde.

Glenn und die anderen kannte ich nur von der Arbeit. Es gab keine Überschneidung mit meinem Privatleben. Und bei den Leuten in meiner Straße, den Ladenbesitzern und bei den anderen Menschen, auf die ich immer wieder traf, achtete ich darauf, dass ich sie viel über sich selbst reden ließ, ich aber nur Unverfängliches von mir preisgab.

Die Neugier der Menschen zu befriedigen fiel mir leicht. Anders als die Schwarzen Iren war ich fremd in diesem Land und beantwortete gerne, woher ich kam und wie mein Leben in den USA gewesen war. Dabei merkte niemand, dass ich einen Teil meiner Erfahrungen aus dem 19. aufs 20. und 21. Jahrhundert übertrug.

Egal, wie gut ich darin war, das Gespräch vom Kern meines Wesens und meiner Erfahrung fernzuhalten, früher oder später würde irgendjemand merken, dass ich nicht alterte. Irgendwann würde ich auf die Verbindungen zurückgreifen müssen, die mir mit neuen Papieren eine neue Identität bescherten – ein neues Geburtsdatum.

Anders als Sema konnte ich mein menschliches Äußeres nicht nach Belieben anpassen. Mein menschlicher Körper sträubt sich gegen jede Veränderung. Schneide ich mir das Haar ab, wird es binnen Tagen nachwachsen. Nur in meiner Steingestalt kann ich mein Aussehen ein wenig verändern, habe es dabei aber nie so weit gebracht wie manche meiner Geschwister, die sich in alle möglichen Formen verwandeln können.

Offiziell war ich damals Anfang vierzig, sah aber auch da aus wie Mitte Zwanzig. Mein natürliches Haar verbarg viel meines Gesichtes. Dennoch würde ich die Leute, die mich kannten, nicht ewig täuschen können. Die Frage war: Durfte ich die alten Verbindungen nutzen – wie das letzte Mal vor einundzwanzig Jahren? Jeder der alten Kontakte barg die Gefahr, dass unsere Feinde uns auf die Spur kamen.

Aber selbst, wenn ich das Wagnis einging, konnte ich diese Kontakte nur gegen Bezahlung nutzen. Und an Geld mangelte es mir seit Jahren. Das erinnerte mich an die bitteren Jahre, ehe meine Eltern Sema gefunden hatten. Ich hatte in schlimmster Armut begonnen und fürchtete nun, dort wieder zu enden.

Trotz der nachtstillen M50, von der ich nach einer Weile auf die ebenso ruhige R148 abfuhr, hielt ich mich an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Jede noch so kleine Abweichung mochte die Polizei oder irgendwen sonst auf mich aufmerksam machen. Der alte Wagen mit seiner unmöglichen Farbe stach schon genug hervor.

Damals, als Sema und ich noch menschliche Vertraute gehabt hatten, die alles für uns regelten, war ich nur selten einmal aus meinem Statuenschlaf aufgewacht – meist nur, wenn die Vertrauten mich weckten, weil sie meine Gesellschaft genießen wollten. Sie waren gewöhnliche Menschen gewesen, die ihr Wissen und die ihnen verliehene Verantwortung von Generation zu Generation weitergaben. Diese Gemeinschaft hatte sich wie ein Schutzwall um uns geschlossen.

Als unsere Feinde – die Söhne des Perseus – uns damals in Vancouver aufgespürt hatten und unsere Vertrauten Sema und mich – beide als scheinbare Statuen – per Frachtschiff auf Umwegen nach Europa geschickt hatten, da rechnete ich bei unserer Ankunft in Italien mit neuen Vertrauten. Aber da erwartete uns niemand. Also war es an mir, die Verantwortung zu übernehmen.

Fast aller Beziehungen beraubt blieb mir nur das Geld. Ich zog von Stadt zu Stadt und verwischte unsere Spuren. Erst in Dublin fand ich eine echte Zuflucht. Inzwischen aber war mir kaum etwas geblieben als das schmale Haus in der Amberson Street, das mir nur noch auf dem Papier gehörte. Und der Wagen, der nicht mehr lange durchhalten würde. Dagegen standen all die Schulden, die ich jonglierte.

Je weiter ich in dieser Nacht in die Stadt kam, um so dichter wurde der Verkehr. Nicht nur hatte Irland am Abend im Männerfußball gegen England gewonnen; die Band Seas of Hypnos hatte heute ein großes Konzert gegeben – ausgerechnet heute, da ich nach dem Angriff in der Gasse nur noch schnell nach Hause wollte.

Ich war zwar erleichtert darüber, dass es nur einer der üblichen Straßenlurche gewesen war, der mich angegriffen hatte, aber im ersten Augenblick, noch ehe er mich zu Boden geschickt hatte, war ich vom Schlimmsten ausgegangen: dass die Söhne des Perseus uns aufgespürt hatten. Sie hätten wahrscheinlich darüber gelacht, dass ich die Einzige war, die Sema beschützte. Oft flüsterte ich ihr verzweifelt zu, dass sie aufwachen müsse, um mir dabei zu helfen, eine neue Gemeinschaft aufzubauen. Aber sie schwieg jedes Mal.

Als ich mich im Stadtzentrum endlich aus dem triefenden Verkehr über die Talbot Street in die Amberson Street rettete, freute ich mich, dass ich diesmal einen Parkplatz kurz vor unserem Haus fand.

Niemand war unterwegs, und obwohl auf den Hauptstraßen Autos hupten und Fans sangen, drang kaum etwas in die kleine Straße zwischen der Marlborough Street und der Gardiner Street ein. Ich liebte es hier – mitten in der Stadt und doch weitgehend vor dem Lärm und der Geschäftigkeit verborgen.

Ich weiß noch, wie ich damals, als ich zum ersten Mal nach Dublin kam, das ganze Zentrum der Stadt zu Fuß erkundete und die Stellen sah, von denen man mir erzählt hatte – wo früher unser Untergrund gewesen war, an den heute nur noch einige tief hinabführende Einfahrten unter Gebäudekomplexen erinnerten. Wo heute Waren angeliefert wurden, hatten sich früher Alte Wesen verborgen. In geheimen Tunneln hatten sie sich unbemerkt durch die halbe Stadt bewegen können.

Doch all das war längst vorüber. Die Polizei war dem Untergrund zu nah gekommen. So hatte sich die Gemeinschaft aufgelöst und war nach England übergesiedelt – einige Gruppen in die Midlands, die meisten aber nach London. Dublin galt daraufhin als Ort, an dem es zu gefährlich war, um sich als magisches Wesen verborgen zu halten.

Ich war – soweit ich das sagen kann – die Erste, die in Dublin wieder Fuß fasste. Nach langem Zögern und zahlreichen Umwegen hatte es mich dorthin verschlagen. Aber ganz gleich, wohin ich gezogen wäre, meine Konten wären irgendwann leer gewesen, und ich hätte mir wie hier Jobs suchen und mich damit sichtbarer und sichtbarer machen müssen.

Ich näherte mich unserem Haus. Das Licht im Wohnzimmer brannte. Es war mein jämmerlicher Versuch zu signalisieren, dass jemand daheim war. Denn jedes Mal, wenn ich nachts ausging, fürchtete ich, jemand könne einbrechen, in meinem Schlafzimmer die verschlossene Tür aufbrechen und Sema finden. Mit der Zeit verblasste diese Angst, aber das Licht ließ ich immer noch an.

Unser schmales Haus wirkte im schwachen Schein der Straßenlaterne wie ein Lückenfüller zwischen zwei richtigen Häusern. Ich schloss die Haustür auf und war froh, sie schnell wieder abschließen zu können. Das Licht aus dem Wohnzimmer fiel auf die Wendeltreppe zur Rechten. Wie jeden Abend stellte ich meinen Rucksack auf der Treppe ab und betrat dann das Wohnzimmer, das sich neben dem Flur und der Küche entlang zog. Es war einmal gemütlich gewesen, nun aber gab es hier nur die Stehlampe und die alte Kommode.

Ich sehnte mich nach der Atmosphäre zurück, die dieser Raum früher versprüht hatte. Das ganze Haus hatte nach und nach seinen Charme eingebüßt. Zuerst hatte ich meinen Schmuck und all die anderen Wertsachen verkauft, die ich in den Jahren, in denen Sema wach gewesen war, zusammengetragen hatte. Dann hatte ich die Möbel versteigert. Mit meinen Erinnerungsstücken verlor ich den klaren Blick in meine Vergangenheit. Es gab nichts mehr, das mich beim Anblick zu einer Erinnerung stimulierte. Alles war nun von meinen Sehnsüchten nach besseren Tagen getrieben.

Ich knipste die Stehlampe aus, sah aber noch die kahle Umgebung mit meinem grauen Blick, der alles wie an einem trüben Tag erscheinen ließ.

Ein Knarzen von oben ließ mich erstarren. Ich lauschte, ob sich auf der Treppe jemand bewegte. Ich hatte zwei Gedanken, und beide drehten sich um Sema. Der eine wurde von meinen Wünschen bestimmt, der andere von meiner Sorge. Und wie so oft war meine Sorge stärker.

Ich wagte mich in den Flur und schaute die Treppe hinauf. Es war unmöglich, sich geräuschlos auf ihr zu bewegen. Dennoch stieg ich lauschend Stufe um Stufe empor und sog den starken Holzduft ein, den ich über die Jahre zu schätzen gelernt hatte. Auf den letzten Schritten hatte ich die geschlossene Badezimmertür im Blick. Links, wo die Treppe in den zweiten Stock begann, war es dunkel, rechts aber stand die Schlafzimmertür einen Spalt offen. Der Schein, der dort schlummerte, machte mich unruhig. Sollte es nun so weit sein? War sie endlich erwacht?

Trotz meiner Erwartung missachtete ich nicht die Vorsicht, die sich über die Jahre tief in mich eingeprägt hatte. Langsam schob ich die Tür auf, und mein Blick fiel auf mein Bett, auf dem sechs schwere Taschen lagen. Aus einigen von ihnen quollen Werkzeuge heraus. Ich schob die Tür weit genug auf, um alles zu sehen.

Die Tür zu Semas Zimmer hätte dreifach verschlossen sein sollen, aber sie stand offen und bot den Blick auf zwei Gestalten. Ich stürmte sofort auf sie los, doch kaum war ich über die Türschwelle, hielt ich inne, denn diese beiden Gestalten – zwei junge Männer mit verzweifelten Mienen und ausgestreckten Armen – waren offenbar auf ihrem Weg zu Semas Bett in der Bewegung zu Stein erstarrt.

Semas Bett – es war leer.

Auf dem Boden neben den Versteinerten lag ein Dolch mit gewundener Klinge. Ich kannte solche Waffen – magische Waffen, die Sema und ihren Schwestern schaden konnten und auch für mich – selbst in meiner Steingestalt – eine Gefahr darstellten. Der Dolch hatte einen goldenen Knauf, der das Haupt der Medusa zeigte. Es hätte unser Zeichen sein sollen – ein Zeichen, vor dem sich unsere Feinde fürchteten. Aber sie hatten es missbraucht. So wie Perseus in den Sagen Medusas Haupt wie eine toxische Trophäe vor sich hertrug, so trugen sie unsere Feinde auf Dolchen, an Halsketten, auf Ringen und anderen Schmuckstücken als Macht- und Siegessymbol. Aber beim Anblick der Versteinerten und bei dem würzigen Duft, der sie umgab, musste ich lächeln. Sema hatte sie für ihr Eindringen bestraft.

Meine Schadenfreude verschwand sofort, als mich ein weiteres Knarzen auf der Treppe daran erinnerte, dass da noch jemand auf mich lauerte. Sema hätte mir mit einem Schwall Magie, für die ich empfänglich war, signalisieren können, dass sie da war. Deswegen fürchtete ich, dass unsere Feinde sie entführt und einen oder mehrere Mörder zurückgelassen hatten, die sich um mich kümmern sollten.

Ich hob den Dolch vom Boden auf. Seine Magie war ein Kribbeln in der Luft. Diese Waffe konnte mir zwar schaden, aber es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ich die magische Waffe, die für mich oder Sema gedacht war, gegen unsere Feinde einsetzte. (Ja, ich habe schon Menschen getötet.)

Aus meiner Schadenfreude wurde Sorge; aus meiner Sorge wurde Tatendrang; und alles in mir drängte auf die Verwandlung. Als schöben sich Steinchen unter meiner Haut entlang, durchfuhr mich ein Schauer, dann festigte sich alles und wurde zäh. Im ersten Moment fühlte sich jede meiner Regungen an, als müsste ich meinen Körper dehnen und winden, damit er das tat, was ich wollte. Man sagt uns nach, unsere Bewegungen wären stockend und knirschend, aber das stimmt nicht. Wir sind zwar aus Stein, aber so flexibel wie Schlangen.

In meinem Menschen-Körper war ich von Semas in mein Zimmer gegangen, in meiner Gargoyle-Gestalt betrat ich nun den Flur. Da knarzte es erneut auf der Treppe.

Ich war bei den ersten Stufen angelangt, als mich ein Luftsog von rechts überraschte. Ein Mann stürzte mir aus dem Badezimmer entgegen, packte mich und stach mit einem Dolch zu. Eine gewöhnliche Klinge wäre an meinem steinernen Körper abgeprallt oder sogar zerbrochen, aber die Magie dieser Klinge öffnete unterhalb der linken Schulter einen Weg in mein Inneres.

Vom Schmerz gedrängt sprang ich zurück und wäre beinahe die Treppe nach unten gestürzt. Der magische Dolch wies darauf hin, dass mein Angreifer, ein blasser Mann, den ich auf kaum älter als dreißig schätzte, auf eine magische Kreatur gewartet hatte. Seine verwirrte Miene ließ mich jedoch vermuten, dass er noch nie ein Wesen wie mich gesehen hatte. Hätte ich das Licht im Schlafzimmer ausgeschaltet oder auch nur die Tür hinter mir geschlossen, hätte er mich nun nicht im Schein, der in den Flur fiel, sehen können.

Die Verwirrung verschwand aus dem Gesicht meines Angreifers, und er griff mich erneut mit seinem Dolch an. Ich wich zur Seite aus und riss den Dolch, den ich in Semas Zimmer gefunden hatte, quer durch die Luft.

Mit einem Schrei sprang der Fremde zurück zur Badezimmertür und hielt die freie Hand auf die Hüfte gepresst. Ich wollte die Atempause nutzen, um aufzustehen, doch er trat mir den Arm weg, auf den ich mich stützte. Und wenngleich es meinem Gegenüber so vorkommen musste, als hätte er gegen eine Steinsäule getreten, verlor ich den Halt und stürzte wieder zu Boden.

Der Schmerz schien meinem Widersacher Kräfte zu verleihen, und ich fragte mich, ob er wirklich ein Mensch war. Er trat mir den Dolch aus der Hand, und mit weit aufgerissenen Augen holte er aus, um mir mit seiner Klinge eine weitere Wunde zu bescheren.

Ich war bereit, mich rückwärts die Treppe hinunterzustürzen. Es würde weh tun, aber brechen würde ich mir nichts. Da knarzte es erneut oben auf der Treppe, und der Mann verharrte – den Dolch erhoben, mit Hass in der Miene und Angst in den Augen. Mit einem schlürfenden Geräusch verwandelte er sich. Sein Gesicht, eben noch blass, wurde nun grau und hob sich nicht mehr von der Farbe seiner Jacke ab. Alles war grau geworden; alles war miteinander zu einer steinernen Masse verschmolzen: das Haar, die Finger – selbst sein linker Arm war mit dem Körper verwachsen. Der Dolch aber entglitt seiner erhobenen Hand und fiel zu Boden.

Langsame Schritte drangen auf der Treppe zu mir herab. Meine Angst schwand dahin, nur der Schmerz durch den Stich, den der nun Versteinerte mir eben noch versetzt hatte, strahlte über die Schulter in meinen Arm.

Da war sie – Sema. Sie trug das schwarze Kleid, das ich ab und zu wechselte, wenn es zu sehr Staub ansetzte. Da war sie – meine Gorgone. Ihre Magie drängte sich mir wie ein kühler Luftschwall entgegen, in den sich der würzige Duft des Versteinerten mischte.

Sema tauchte mit ihrem Schlangenhaupt unter dem Arm des Versteinerten weg, ging um ihn herum und lächelte mir entgegen. Ihre glänzenden Augen waren komplett schwarz. Als Kind hatte ich mich zuerst vor dieser Gestalt gefürchtet – besonders vor den einundzwanzig langen Schlangen, von denen jede ein eigenes Leben zu haben schien und die auch nun die Umgebung musterten und leise zischelten – waldfarbene Schlangen mit silbernen Augen.

Sema reichte mir die Hand, wie damals, als meine Eltern tot waren, und sie mich vor den Söhnen des Perseus in Sicherheit brachte. Sie hatte mir geholfen, und dann hatte ich ihr geholfen.

»Elena«, sagte sie mit ihrer hauchenden Stimme, nach der ich mich jahrzehntelang gesehnt hatte.

Ich fasste Semas Hand. Sie war kühl. »Ich bin es«, sagte ich leise. »Und ich habe dich vermisst.«

»Ich dich auch.« Sie atmete tief ein und weit aus. Nach einem Blinzeln strich sie mir über die Wange und verwandelte sich vor meinen Augen in eine Menschengestalt zurück – in die, als die ich sie kennengelernt hatte. Die graue Haut wurde braun, aus Rehaugen wurden braune Menschenaugen, und aus Schlangen wurde langes Lockenhaar. Sie war eine Schwarze Frau – Schwarz wie ich und Schwarz wie meine Eltern. Unser Schwarzsein hatte uns zusammengebracht. Sie war mitten im Bürgerkrieg erwacht, und ohne meine Eltern, die miteinander aus der Sklaverei geflohen waren und mit mir der anschließenden Armut entkommen wollten, wäre sie verloren gewesen. So groß Semas Macht war, so hilflos hatte sie damals der jahrhundertelange Schlaf gemacht.

Sie hatte sich mir auch in anderen Gestalten gezeigt, aber mit dieser Frau, die nun wieder vor mir stand, hatte ich gelebt. Sie hatte ich geliebt und liebte sie noch immer.

»Ich spüre meine Schwestern«, sagte sie. »Einige sind tot; einige sind erwacht. Die Zeit der Entscheidung ist nicht mehr fern. Und ich bin froh, dass du es bist, die mir geblieben ist.«

Sie fuhr mir durchs Haar. Nur sie durfte das. »Du trägst es wieder offen.«

»Das fällt heute weit weniger auf als früher«, sagte ich.

Ein Klingelton erklang. Sema stutzte. Ich aber ging ins Schlafzimmer und erblickte das Smartphone, das zwischen den Taschen lag. Auf dem Display sah ich das Bild des Mannes, der mich auf dem Heimweg attackiert hatte. Als Name stand dort: »Felix«.

»Was ist los?«, fragte Sema und strich mir von der Seite über den Rücken. »Was ist das für ein Ding? Und wer ist Felix?«

»Wir müssen los«, erwiderte ich. Ich ging in Semas Zimmer und holte die schwarze Reisetasche heraus, in dem sich neben ein wenig Kleidung vor allem Semas Papiere und auch ein Teil meiner Unterlagen befanden. »Uns ist nicht viel geblieben«, sagte ich. »Keine Zeit für Erklärungen, kein Besitz und kaum Geld.« Ich packte die beiden magischen Dolche in die Tasche, denn ich wollte nicht, dass sie noch einmal gegen Wesen wie uns eingesetzt werden.

Sema schob ihre Hände auf meine Schultern.

Der Schmerz durchfuhr meine linke Körperhälfte.

Semas Blick fiel auf das Loch in meinem Shirt. »Wir haben einander«, sagte sie und küsste mich auf den Mund. Mit dem Kuss von ihren weichen Lippen erfasste mich ein Kribbeln. Es war Magie, die meine Wunde schloss und damit den Schmerz fortwischte, als wäre er nur ein Fleck gewesen.

»Danke«, sagte ich und atmete erleichtert auf.

»Wie viel Zeit haben wir?«, fragte Sema.

»Wahrscheinlich nur Minuten«, antwortete ich und verließ vor ihr das Zimmer. »Ohne Geld und ohne Kontakte werden sie uns aufspüren.«

Wir passierten den Versteinerten im Flur, und auf der Treppe sagte Sema: »Unterm Dach habe ich noch einen zur Statue gemacht.«

»Ums Aufräumen werden sich wohl unsere Feinde kümmern müssen«, erwiderte ich.

»Wie in alten Zeiten«, sagte Sema und ich erinnerte mich an unsere Eskapaden in Maryland in den 1880ern, als kaum eine Woche ohne Konfrontation mit den Söhnen des Perseus vergangen war.

Als wir unten vor der Haustür standen und ich mir meinen Rucksack aufgelastet hatte, fragte Sema leise: »Wo sind wir hier?«

»In Dublin«, antwortete ich.

Sema nahm die Reisetasche an sich. Wie immer wollte sie einen Teil der Last tragen. Von einer Dunkelheit umgeben, die unseren grauen Blicken nichts anhaben konnte, breitete sich das freche Lächeln auf ihrem Gesicht aus, das ich so vermisst hatte. »In Irland liegt vieles verborgen«, sagte sie. »Du erzählst mir alles über diese Zeit, und ich zeige dir alte Pfade, die gewiss kein Mensch je gefunden hat.«

Ich fasste ihre Hand, und das erste Mal seit Jahrzehnten hatte ich das Gefühl, nicht alleine zu sein. Ich war heute Abend ein letztes Mal in dieses Haus heimgekehrt, und was nun immer auch geschehen würde, sobald wir durch diese Tür ins Freie traten: Meine Hoffnung war endlich wiedererwacht.

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Urban Fantasy: going intersectional

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