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Vegan für fortgeschrittene Tote

Annie Waye

Ron!«, rief Christina durch die Tür der Umkleide-kabine. »Beeil dich gefälligst, ich hab Hunger.«

Ich knöpfte schnell mein Hemd zu, schnappte mir meine Sporttasche und kam nach draußen. »Hier bin –«

»Oh Gott«, stieß sie hervor. »Was ist das?« Sie deutete auf mein Schlüsselbein.

Weil ich mein Hemd unsauber zugemacht hatte, war meine Haut dort deutlich sichtbar. Genauer gesagt die Bissspuren, die mein One-Night-Stand letzte Nacht an dieser Stelle hinterlassen hatte und die einfach nicht abheilen wollten. »Frag nicht«, stöhnte ich, als ich an die schlimmste Nacht meines Lebens dachte. »Frag einfach nicht.«

»Mache ich nicht«, gab sie zurück. »Überrascht mich nicht mal.« Sie rümpfte die Nase. »Du hast ihn schließlich im Internet kennengelernt.«

»Wo soll ich denn sonst tolle Männer kennenlernen?«, seufzte ich und setzte mich in Bewegung.

»Wenn ich das Geheimnis eines Tages selbst gelüftet habe«, erwiderte sie niedergeschlagen, »weihe ich dich gerne ein.«

Ich hatte mich am ersten Tag meines Design-Studiums geoutet. Ein neuer Lebensabschnitt, ein neues Ich – der bloße Gedanke daran hatte mir den Mut gegeben, den ich achtzehn Jahre zuvor nicht aufgebracht hatte. Manchmal wusste ich immer noch nicht, ob ich es bereuen sollte.

Im Jahr 2006 war es nicht besonders einfach, schwul zu sein – nicht einmal in München, der Stadt, in der eigentlich alles möglich sein sollte. Männer verabscheuten einen, wenn sie nicht gerade selbst homosexuell waren. Sie riefen einem miese Sprüche hinterher und hatten schwul inzwischen schon als universelle Beleidigung für alles und jeden etabliert. Frauen fanden einen entweder komisch oder hingen einem aus den falschen Gründen am Rockzipfel.

So wie Christina. Sie war meine beste Freundin. Um nicht zu sagen: eine meiner wenigen Freundinnen. Ich hatte sie im ersten Semester kennengelernt, und auch wenn unsere Schwerpunkte uns in verschiedene Kurse geführt hatten, trafen wir uns immer noch jede Woche.

An manchen Tagen glaubte ich nicht, dass ihr etwas an mir persönlich lag. Wie jedes Mädchen in ihrem Alter brauchte sie unbedingt einen schwulen besten Freund. Damit ließ sich nämlich besser angeben als mit einer Handtasche.

Ich mochte sie trotzdem, nicht zuletzt, weil es sonst niemanden gab, den ich Woche für Woche zum Yoga schleifen konnte. Nicht mal meinen Mitbewohner, den ich pünktlich alle sieben Tage damit nervte.

Kev war ein typischer Mann. Bei ihm ging Fußball über Fitness, Bierabende über Badeurlaube und Feiern über Frisörbesuche. Wenn er abends auf der Couch fläzte und Chips in sich reinfutterte, widerte er mich an. Wenn er dann aber nur mit einem Handtuch bekleidet aus dem Bad kam, konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen.

Er wusste, dass ich schwul war. Ich war mir sogar ziemlich sicher, dass er wusste, dass ich auf ihn stand. Er hatte mir noch nie eine klare Abfuhr gegeben – zumindest nicht, dass ich es kapiert hätte. Ein Teil von mir hoffte, dass er mich einfach nur hinhielt, weil er ein Fan von Slowburn war. Oder dass er sich erst noch selbst finden musste, weil er sein ganzes Leben gedacht hatte, hetero zu sein. Ich hatte schließlich auch lange genug dafür gebraucht.

Da mein Schwulenradar mich normalerweise nie im Stich ließ, gab ich ihm Zeit, sich über seine Gefühle klar zu werden.

Der Gedanke an ihn beflügelte mich, sodass der Nachhauseweg wie im Flug verging. Bis mir von einer Sekunde auf die andere kotzübel wurde. Und damit meine ich: kotzübel. Ich öffnete den Mund, um Christina zu sagen, dass ich mich nicht gut fühlte, doch stattdessen kam mir mein Mittagessen wieder hoch. Ich krümmte mich im letzten Moment und verteilte den halbverdauten Bulgursalat mit einem Platsch! auf dem Bürgersteig.

Christina kreischte, und ich sah aus dem Augenwinkel, dass sie einen Satz zurückmachte. Dabei war der Spuk schon längst vorbei. Alles, was rausgewollt hatte, war draußen. Aber ich richtete mich nicht wieder auf. Der Geruch meines eigenen Erbrochenen stach mir in die Nase und ließ eine neue Welle der Übelkeit in mir aufsteigen. Gleichzeitig bemerkte ich, wie die Ränder meines Sichtfelds sich dunkel färbten.

Mir wurde schwindelig – wieder so schnell und unerwartet, dass mir schwarz vor Augen wurde, bevor ich vornüber in meine Kotze kippte.

Als ich später im Krankenhaus zu mir kam, fühlte ich mich furchtbar. Nicht körperlich – sondern weil mir die ganze Sache so unglaublich peinlich war.

»Sie haben nichts gefunden, Ron«, beruhigte Christina mich. »Vielleicht hast du nur was Falsches gegessen.« Sie legte den Kopf schief. »Du siehst etwas blass um die Nase aus. Hier.« Sie schob das Tablett, das auf der Kommode neben mir stand, etwas näher in meine Richtung. »Du musst was essen.«

Ich beäugte es argwöhnisch und rümpfte die Nase. Neben einer undefinierbaren Pampe, in der man bestimmt Milchprodukte verarbeitet hatte, lag da ein Käse-Wurst-Sandwich. »Das einzig Vegane daran ist das Brot. Wenn überhaupt«, murmelte ich.

Das Leben war nicht immer einfach, wenn man schwul war. Noch schlimmer wurde es aber, wenn man ein schwuler Veganer war.

Kein Witz – manchen nimmt man damit jeglichen Wind aus den Segeln. Sobald sie wissen, dass du schwul bist, liegen ihnen schon hunderte von Sprüchen auf der Zunge. Wenn sie dann aber noch erfahren, dass du Veganer bist, sind sie vollkommen überfordert. Dasselbe Spiel andersherum – sie wissen gar nicht mehr, wo sie anfangen sollen. Ich war eine Goldgrube der blöden Sprüche oder der Kobold am Ende des Regenbogens, der anstelle eines Topfs mit Gold einfach nur grenzenlose Verwirrung dabei hatte.

Umso glücklicher war ich, jemanden wie Christina zu haben. »Richtig.« Sie lächelte mich triumphierend an. »Aber ich hab mir so was schon gedacht. Und deshalb« – sie kramte in ihrer überdimensionalen Handtasche – »hab ich dir den hier mitgebracht!« Sie streckte mir etwas hin, das sich als mein Lieblings-Schokoriegel entpuppte. Vegan, Bio, Fairtrade – allein die drei Worte waren Musik in meinen Ohren und Grund genug, warum ich auf dem Schulhof den einen oder anderen Fausthieb ins Gesicht kassiert hatte.

»Danke«, sagte ich und meinte es von Herzen. Ich nahm den Schokoriegel und riss die Plastikverpackung weg. Obwohl mir normalerweise beim bloßen Anblick (ich gönnte mir nicht oft Süßigkeiten) das Wasser im Mund zusammenlief, zögerte ich. Ich hatte überhaupt keine Lust, auch nur davon abzubeißen. Mein Hungergefühl hatte sich auf Nimmerwiedersehen verabschiedet.

»Alles in Ordnung?«, fragte Christina vorsichtig.

Ich rang mir ein Lächeln ab. »Ja.« Ihr zuliebe biss ich ein großes Stück des Riegels ab. In meinem Mund fühlte er sich irgendwie zäh an, sodass ich gefühlt fünf Minuten darauf herumkauen musste, bis ich ihn endlich herunterschlucken konnte. Ich konnte förmlich spüren, wie der Brei meine Speiseröhre hinabsackte und in meinem Magen landete.

Sofort wurde mir wieder schlecht. Ich atmete tief durch und versuchte, den Würgereiz zu bekämpfen, der langsam meine Kehle hinaufwanderte –

Plötzlich ging die Tür auf, und Kev stand im Zimmer.

Ich war so schockiert, dass ich mich an mir selbst verschluckte. Ich hustete und war froh, dass mir der Riegel dabei nicht hochkam. »Was machst du denn hier?«, fragte ich, als ich wieder Luft bekam.

Er runzelte die Stirn. »Die haben mich angerufen. Ich bin dein Notfallkontakt.«

»Was?« Christina zog eine Schnute. »Warum bin ich nicht dein Notfallkontakt?«

»Du bist doch auch da.«

»Das ist nicht dasselbe!«

»Die Ärzte haben gesagt, ich soll dich abholen«, meldete Kev sich wieder zu Wort. »Los geht’s.«

Ich blinzelte. »Willst du nicht mal wissen, was mir zugestoßen ist?«

»Du hast aus Versehen Fleisch gegessen, dir den Finger in den Hals gesteckt und bist wie eine Diva in Ohnmacht gefallen.«

Ich riss die Augen auf. »So war das –«

»Können wir jetzt gehen?«, fragte Kev gelangweilt. »Ich verpasse das Spiel.« Damit meinte er natürlich kein Fußballtraining, sondern die blöde WM.

Christina schenkte mir einen scharfen Blick. Und auf den stehst du?, stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Hilflos zuckte ich die Achseln, ehe ich mich aus dem Bett schälte – und bemerkte, dass ich nur einen Krankenhauskittel trug.

»Oh!« Christina sprang auf. »Ich bringe dir deine Klamotten!« Sie stolzierte zu einem Tisch auf der anderen Seite des Raums und brachte mir einen Kleiderstapel – und das mit einem solchen Engagement, als wollte sie mir beweisen, dass sie der bessere Notfallkontakt war.

»Danke.« Ich schickte mich an, den Kittel an Ort und Stelle auszuziehen.

Kevs Augen weiteten sich entsetzt. »Ich warte draußen.«

»Hab dich doch nicht so!«, rief Christina ihm grinsend hinterher, während er die Tür hinter sich schloss. »Der beißt schon noch an«, sagte sie dann.

An diesem Abend war alles wie immer. Kev starrte in den Fernseher, während ich betont sexy Yogaposen im Wohnzimmer übte. Doch mit den nächsten Tagen kamen die Veränderungen.

Ich aß nichts mehr. Ich konnte, wollte nichts mehr essen. Was auch immer in meinem Magen landete, beschwor einen neuen Würgereiz in mir herauf. Irgendetwas musste sich entzündet haben, aber nicht mal die sanfteste Detox-Kur konnte mich kurieren.

Am Anfang war es noch nicht so schlimm. Aber dann bekam ich Hunger. Allerdings auf nichts, das ich in meinen Kühlschrankfächern lagerte. Meine vorgekochten Mittagessen für diese Woche landeten entweder nach einem gescheiterten Essversuch in der Toilette oder gammelten vor sich hin. Immer, wenn ich die Kühlschranktür öffnete, blieb mein Blick an Kevs Vorräten hängen. Jedes Mal etwas länger.

Während ich Veganer war, war Kev bekennender Fleischfresser. Nach drei Tagen ertappte ich mich selbst dabei, wie ich eine ekelhafte Discounter-Plastikpackung mit Salamischeiben darin aus einem Fach nahm. Ich aß sie nicht. Ich roch nur daran – und mein Hunger wuchs ins Unermessliche.

Angewidert von mir selbst schleuderte ich das Fleisch zurück in den Kühlschrank. Wo mir sonst vom Geruch von Wurst immer schlecht geworden war, passierte jetzt das absolute Gegenteil. Ich wollte mehr. Viel mehr.

Ich hatte mir geschworen, nie wieder Fleisch, Fisch oder Milchprodukte zu essen – den Tieren zuliebe.

Ich hatte schon von Frauen gehört, die in der Schwangerschaft wieder zu Fleischfressern geworden waren, weil sie ihre Gelüste nicht unter Kontrolle gehabt hatten. Doch ich war nicht schwanger. Ich war schwul, aber im Gegensatz zu dem, was mir oft hinterhergerufen wurde, immer noch ein Mann. Was stimmte dann nicht mit mir?

Und das war noch nicht alles. Obwohl ich mich jeden Abend meiner Skincare-Routine widmete, wurde meine Haut immer blasser und spröder. Ich hatte mir ein Knie aufgeschlagen, als ich bewusstlos geworden war, und anstatt, dass die Wunde abheilte und verkrustete, blieb sie feucht und eitrig. Mit der Zeit befürchtete ich sogar, dass sie sogar größer wurde, und fing an, jeden Tag ein Foto davon zu machen, so sehr ich mich auch davor ekelte.

Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Obwohl Kev seine nervigen Freunde zum Fußballschauen eingeladen hatte, ging ich ins Wohnzimmer. »Irgendwas stimmt nicht mit mir.«

Alle Blicke richteten sich auf mich. Jemand schnaubte. »Fällt dir das jetzt erst auf?«

»Hast du deine Tage bekommen?«

Kev hatte noch nie etwas Böses zu mir gesagt, nur weil ich schwul war – sondern nur, weil ich Veganer war. Seine Kumpel tickten aber ganz anders.

»Schnauze«, brummte mein Mitbewohner, ehe er schwerfällig von der Couch aufstand. Wir verzogen uns in mein Zimmer, und allein, dass er mir zuhören wollte, rührte mich so sehr, dass ich am liebsten losgeflennt hätte. »Was ist los?«

»Ich … weiß auch nicht«, sagte ich leise. Ich erzählte ihm von meinen Beobachtungen und zeigte ihm meine Wunde, woraufhin er angewidert das Gesicht verzog. »Wenn ich es nicht besser wüsste«, endete ich, »würde ich sagen, ich bin ein Zombie.« Ich wollte lachen, aber alles, was aus meiner Kehle drang, war ein nervöses Kichern. Ich schluckte. »Könntest du … mal meinen Puls fühlen?«

Kevs Brauen schossen in die Höhe. »Dein Ernst?«

»Mach’s einfach!«

Widerstrebend ergriff er meine Hand und presste seinen Daumen in mein Handgelenk. Runzelte die Stirn. Machte dasselbe an meiner Halsschlagader. Blinzelte. »Ähm.«

Ein altes Blutdruckmessgerät war schnell gefunden. Ergebnis: null. Kein Blutdruck. »Wenn ich es nicht besser wüsste«, sagte Kev, »würde ich sagen, du bist tot.«

Ich drohte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. »Aber … ich lebe doch! Ich bin doch hier!« Ich starrte auf meine bleichen Hände. »Ich …«

Kev war vollkommen ruhig. »Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.«

»Welchen?«

»Morgen«, entgegnete er. »Jetzt wird erst mal Fußball geschaut.«

Entgeistert starrte ich ihn an. »Was?«

»Hallo?«, entrüstete er sich. »Wir schreiben gerade ein Sommermärchen!«

Meine Kinnlade sackte herab. »Ernsthaft?«, fragte ich. »Die WM ist dir wichtiger als die Tatsache, dass dein Mitbewohner sich in einen verdammten Zombie verwandelt hat!?«

»Na ja«, fragte er gedehnt. »Hast du vor, mich zu fressen?«

»Nein!«, gab ich zurück. Zumindest nicht auf diese Weise.

Er zuckte die Achseln. »Na dann. Du wirst schon nicht dran sterben.«

»Ich bin schon tot!«, rief ich ihm hinterher.

Alles änderte sich, als ich am nächsten Tag nach Hause kam und ein Gehirn in der Küche fand.

Ich holte tief Luft. »Kev!«, schrie ich, sodass man mich wahrscheinlich im ganzen Gebäude hören konnte.

Wie mit Hummeln im Hintern schlitterte mein Mitbewohner in die Küche. »Was –« Er stockte. »Ach ja. Hab dir was mitgebracht.«

Wie versteinert stand ich da. »W-w-was ist das?«

»Ein Schweinegehirn. Hab’s vorhin bei einem Bauern abgeholt.«

In einer mechanischen Bewegung drehte ich den Kopf und starrte ihn an. »Warum!?«, stieß ich hervor.

»Na ja, bevor er es wegwirft –«

»Du weißt genau, was ich meine!«, keifte ich.

Er zuckte die Achseln. »Wenn du ein Zombie bist, ist das vielleicht genau das Richtige für dich.«

Entgeistert schüttelte ich den Kopf. »Ich bin Veganer!«

Kev hob abwehrend die Hände. »Okay. Weißt du was? Ich lass euch zwei jetzt einfach alleine, und du entscheidest selbst, was du machst. Wenn du mich suchst …«

»Fernseher«, brummte ich. »Schon klar.«

Ich konnte den Blick nicht von dem Gehirn reißen. Sein Anblick war gleichermaßen schmack- und ekelhaft. Es glänzte im Licht, das durchs Fenster hineinfiel, und ein metallisch-fleischiger Geruch stieg mir in die Nase, der meinen Magen knurren ließ.

Ich hatte Hunger. Ich hatte solchen Hunger. Der bloße Gedanke daran trieb mir Tränen in die Augen. Und sorgte dafür, dass ich die Kontrolle über meinen Körper verlor. Dass ich, ohne mich auch nur nach der Besteckschublade umzusehen, auf das Hirn zutrat und ein Stück davon mit den Fingern abriss. Ich drehte es nur ein paar Sekunden lang zwischen den Fingern – dann wurde der innere Drang unerträglich, und ich schob es mir einfach in den Mund.

Im Gegensatz zum Schokoriegel musste ich nicht lange darauf herumkauen. Das Verlangen war so groß, dass ich es als Ganzes herunterschluckte.

Als das Gehirn in meinem Magen landete, traf mich die Gewissheit, was ich gerade getan hatte, wie ein Schlag.

Während ich still und leise vor mich hin weinte, riss ich noch ein Stück Hirn ab und aß es. Und noch eines. Und noch eines. Bis der Teller leer war, ich nichts mehr hatte, womit ich mir selbst das Maul stopfen konnte, und meine Schluchzer neue Ausmaße annahmen, die sogar Kev auf den Plan riefen.

»Hey«, sagte er hilflos und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Ist doch nur ein bisschen Hirn. Es gibt nichts, wofür du dich schämen müsstest.«

»Das tue ich aber!« Ich verbarg das Gesicht in meinen Händen. »Ich bin der abartigste, widerwärtigste –«

Mein Herz machte einen Satz, als Kev mich in den Arm nahm. »Bist du nicht«, sagte er sanft. »Du bist der coolste Zombie, den ich kenne.«

»Das wollte ich doch gar nicht sagen.«

»Ist mir – Wow«, stieß er hervor. »Du hast das ganze Hirn gegessen?«

Ich antwortete nicht. Ich konnte nicht. Seine Körperwärme betäubte mich, und ich war froh, dass ich davon nicht hungrig wurde. Stattdessen spürte ich dieselben Schmetterlinge in meinem Bauch wie immer, wenn wir einander so nah waren. »Wirst du mich jemals lieben?«, flüsterte ich.

»W-was?« Kev wollte von mir abrücken, aber ich klammerte mich an ihm fest, weil ich Angst davor hatte, ihm jetzt noch in die Augen zu sehen. »Lieben? Ähm, sorry«, sagte er vorsichtig. »Aber ich hab wirklich kein romantisches Interesse an dir.«

Widerstrebend löste ich mich von ihm. »Ist es, weil ich ein Zombie bin?«, fragte ich ernst.

Er schnaubte. »Nein, weil du ein Veganer bist. Ich könnte nie einen Veganer daten!«

Meine Augen weiteten sich. Hatte er sich gerade vor mir geoutet?

Kev stockte, als wäre ihm das auch aufgefallen. »… oder einen Mann«, fügte er halbherzig hinzu. Zu spät.

Ein paar Sekunden herrschte Stille zwischen uns. Peinliche Stille.

Ich räusperte mich. »Damit stellen sich drei Fragen. Wie ist das passiert«, zählte ich auf, »wie kann ich wieder normal werden, und wie kann ich bis dahin dafür sorgen, dass ich vegan bleibe?«

»Wirklich?«, brummte Kev.

»Veganes Fleisch schmeckt furchtbar …«

»Und du musstest erst sterben, damit dir das auffällt?«

»… aber ich werde auf keinen Fall noch mal so was essen!«

Kev verschränkte die Arme. »Mit Hirnen tötest du kein Tier, weißt du. Das ist’n Abfallprodukt. Das Schwein wäre sowieso –«

»Nie wieder!«, unterbrach ich ihn.

Mein Mitbewohner kratzte sich am Kopf. »Was die erste Frage betrifft – bist du in letzter Zeit von jemandem gebissen worden?«

Ich erstarrte. Und dachte an meinen One-Night-Stand, der … »Oh Mann.« Die Bissspuren sahen inzwischen ähnlich schlimm wie mein Knie aus. »Ich hatte Sex mit einem Zombie.« Man konnte wirklich niemandem aus dem Internet über den Weg trauen!

Kevs linkes Augenlid zuckte. »Okay. Dann wäre das … schon mal geklärt, schätze ich.« Er dachte kurz nach. »Kennst du 3D-Drucker? Vor ein paar Jahren haben sie damit eine künstliche Niere gemacht. Vielleicht geht das ja auch mit Hirn. Wäre ja irgendwie vegan, oder?«

»Und warum in aller Welt sollte jemand ein Hirn drucken? Das kann man schließlich niemandem mehr einsetzen.«

»Warum nicht?«, fragte er verwundert.

»Weil derjenige, der ein neues Hirn braucht, schon tot ist.«

Er stutzte. »Oh.«

Ich rief bei meinem Hausarzt an, woraufhin mir die Nummer eines Psychiaters durchgegeben wurde. Als ich diesem mein Problem schilderte, wollte er sofort einen Termin mit mir ausmachen, aber auf einmal bekam ich ein komisches Gefühl bei der Sache und legte auf.

Die nächsten Tage über war ich auf Diät, während ich das Internet nach einer Wiederbelebungskur für Zombies durchsuchte. Ich schlug mich ganz gut. Aber alles änderte sich, als ich mit Christina über den Campus schlenderte und einer Gruppe Viertsemester entgegenkam.

Ich hatte in meiner ersten Woche in der Mensa mit ihnen gegessen. Einer von ihnen hatte mich dafür verurteilt, dass ich mir kein Schnitzel genommen hatte, sondern nur einen Salat, woraufhin ich erklärt hatte, Veganer zu sein. Seitdem erzählten sie überall herum, ich würde bei jeder Gelegenheit herumerzählen, dass ich Veganer war. Dass ich schwul war, machte die Sache auch nicht besser.

»Was will die Schwuchtel denn schon wieder hier?«, schleuderten sie mir entgegen.

»Geh Gras fressen!«

»Wann lässt du dich endlich umoperieren?«

Was sie sagten, traf mich mitten ins Herz. Gleichzeitig machte es mich unglaublich hungrig.

»Ron, nicht –«, wollte Christina mich aufhalten, konnte sie aber nicht.

Ich näherte mich einem von ihnen, bis ich direkt vor ihm stand.

Er zuckte nicht mit der Wimper. »Willst du mich jetzt küssen oder was?«

Knapp daneben. Ich öffnete den Mund und biss ihm ins Gesicht.

Mein Plan war es, ihm seine Wange mit einer scharfen Kopfbewegung aus seiner Visage zu reißen und in einem Stück herunterzuschlucken. Es gab nur eine Sache, die ich vor lauter Fleischeslust vergessen hatte. Ich war zwar ein Zombie, aber ich war nicht besonders stark. Jemand schlug mir mit voller Wucht gegen die Schläfe, und ich ging zu Boden. Benommen wollte ich mich auf den Rücken rollen, als ein Fuß in meine Magengrube krachte, dann noch einer.

»Aufhören!«, kreischte Christina, und nach zwei, drei gezielten Tritten ließen sie tatsächlich von mir ab und zogen davon, nicht ohne mit wüsten Beleidigungen und Drohungen, dass sie mich anzeigen würden, um sich zu werfen.

Was mich endgültig aus der Bahn warf, war nicht ihr Verhalten, sondern die Tatsache, dass ich keinen Schmerz spürte.

Und noch etwas: »Ich werde ins Gefängnis kommen.«

»Ach was«, winkte Kev am Abend ab. »Christinas Vater ist Anwalt, der boxt dich schon wieder raus.«

»Ich habe einem Menschen ins Gesicht gebissen!«, rief ich aus. »Ich hab es so was von verdient, in den Knast zu wandern!« Resigniert ließ ich mich neben ihm aufs Sofa fallen. »Ich bin eine Gefahr für die Menschheit«, flüsterte ich. »Wir müssen irgendetwas unternehmen, und zwar schnell.«

»Ach ja, ich hab wieder etwas Hirn für dich besorgt.«

»Nicht so etwas!«, knurrte ich. »Etwas, das mich wieder normal werden lässt!«

»Sorry, aber normal warst du vorher auch nicht.«

»Das ist doch –«

»Frostschutzmittel«, sagte er plötzlich.

Ich blinzelte. »Was?«

»Ich hab heute im Internet gesucht und eine Anleitung gefunden, wie man Zombies wieder normal bekommt. Du musst Frostschutzmittel trinken.«

Entgeistert starrte ich ihn an. »Wo in aller Welt hast du das gelesen?«

»Auf dieser Website, wikiHow. Da gibt es Anleitungen für alles.«

Das Internet mal wieder. »K-kann man an so was nicht sterben?«

»Na und? Du bist doch schon tot.«

Ich konnte kaum glauben, dass wir beide zehn Minuten später gegenüber voneinander im Wohnzimmer standen, ich mit einer Flasche Frostschutzmittel in der Hand. »Ich habe Angst«, gab ich zu. »Was, wenn etwas schiefgeht? Wenn ich … doch noch ganz sterbe?«

Kev zuckte die Achseln. »Dann mach’s nicht. Du kannst auch als Zombie weiterleben. Müsstest halt nur ab und zu ein Hirn –«

»Kommt überhaupt nicht infrage!«, unterbrach ich ihn.

Entgeistert schüttelte er den Kopf. »Du würdest lieber sterben, als kein Veganer mehr zu sein?«

Unsicher sah ich ihn an. »Ich … weiß nicht …«

»Ernsthaft?« Auf einmal wirkte er unbeschreiblich wütend. »Ich weiß, dass dich meine Meinung sowieso nicht interessiert, aber …« Er holte tief Luft. »Mir wäre es lieber, du würdest Hirne fressen und dafür leben.«

Ich biss mir auf die Unterlippe und schmeckte sofort Blut. Mein Tempel von untotem Körper war eingestürzt. »Weil du Veganer so sehr hasst?«

Seine Schultern sackten herab. »Nein!«, sagte er, ehe er kraftlos wiederholte: »Nein …« Ich wusste nicht, wie mir geschah, als er mein Gesicht in seine Hände nahm und seine Lippen auf meine drückte. Mein Herz setzte mehrere Schläge aus, in denen ich die Flasche fallen ließ, meine Arme um ihn schlang und den Kuss erwiderte. Ich hatte so lange auf diesen Moment gewartet. Wer hätte gedacht, dass ich erst sterben müsste, um Kev endlich rumzukriegen?

»Du schmeckst nach Hirn«, sagte er leise. Plötzlich verzog er das Gesicht.

»S-so schlimm?«, fragte ich, zwei Sekunden bevor er sich auf mein Hemd übergab.

Einen unendlich langen Moment starrten wir beide einander nur aus weit aufgerissenen Augen an. »Oh Mann«, stöhnte er, ehe er das Bewusstsein verlor und in meine Arme fiel.

Ich atmete tief durch – und erinnerte mich an meine blutige Unterlippe. »Oh Mann.«

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Urban Fantasy: going intersectional

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