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Das Innerste der Welt

Lena Richter

Andere würden vielleicht sagen, du seist verflucht, dass du jetzt hier stehen musst, im Haus deiner Kindheit, nein, in dem, was die Flammen davon übriggelassen haben. Dass du in der Asche graben musst, und noch dazu allein. Doch das hier ist kein Fluch, das weißt du, denn alle, die ihn aussprechen könnten, sind tot. Du stehst in der Asche, und du bist allein, und seit zwei Wochen schon bist du die letzte Hexe von Berlin.

Als der Anruf kam, dachtest du eigentlich, du hättest zum ersten Mal seit Jahren alles im Griff. Dein Sohn schlief endlich die Nächte durch, die Augenringe deiner Frau waren weniger tief. Du hattest das Gefühl, dass deine Medikamente richtig eingestellt waren, deine Ärztin war zufrieden, und du warst es auch. Im Entwürfe-Ordner deines Mailpostfachs befanden sich Bewerbungsschreiben, und du hofftest, bald den Mut zu haben, sie abzuschicken.

Du hattest gerade ein Foto deines ersten selbst gekochten Essens seit Wochen gemacht, um es auf WitchCraft zu teilen, als das Festnetztelefon durch dein Glück schrillte.

Sie bedauern, dir mitteilen zu müssen. Deine Cousine Tina. Du bist die letzte lebende Verwandte. Komplett niedergebrannt. Du stellst das Gespräch auf Lautsprecher, damit deine Frau mithören kann, damit keine wichtigen Informationen von dem Nebel verschluckt werden, der dein Gehirn in solchen Situationen überfällt. Während die Polizistin noch spricht, suchst du nach Zugfahrplänen. Deine Frau schüttelt den Kopf, aber du weißt, was auf dem Spiel steht.

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Und jetzt bist du hier. Zwei Wochen warten, fünf Stunden Zugfahrt quer durch die Republik. Dann die Taxifahrt, die du dir eigentlich nicht leisten kannst. Aber das, was jetzt kommt, wird anstrengend, und du brauchst jedes Quäntchen Kraft. Löffel gespart, denkst du müde, als du dem Taxifahrer Geld in die Hand drückst.

Die Ruine, die einmal ein Haus war, das einmal dein Zuhause war, ist ein Chaos aus Mauerresten, verkohlten Dachbalken und Bergen von Asche. Obwohl du weißt, dass kein Feuer mehr darunter schwelt, fühlt sie sich warm an. Die Feuerwehr hat das Gelände freigegeben, doch aufgeräumt hat niemand. Zwischen Asche und Schutt blitzen andere Dinge auf, wenn das Licht auf sie fällt. Scherben aus Glas, Porzellan und Ton. Du denkst an die Blumentöpfe voller Kräuter, die deine Mutter früher auf allen Fensterbänken verteilt hatte. Holzstücke, die das Feuer nicht vollständig verzehrt hat, Bruchstücke von Schränken, Regalen, Tischen. Du erkennst die verschnörkelten Endstücke einer Gardinenstange, den geschwärzten Einband eines dicken Lexikons. Dutzende kleine Gegenstände, die das Feuer zurückgelassen hat. Und alles, was du zu tun hast, bevor du endlich mit diesem Teil deines Lebens abschließen kannst, ist, unter ihnen den richtigen zu finden.

Alles hat einen Kern, eine Essenz, etwas Wahrhaftiges im Zentrum seines Daseins. Auch normale Häuser, von normalen Menschen, du weißt das, du spürst es manchmal, wenn du über die Schwelle trittst. Manchmal ist offensichtlich, was es ist – die alte Standuhr im Flur, deren Ticken seit Jahrzehnten die Sekunden verzehrt, nur einmal, da blieb sie stehen, und niemand weiß, warum (eigentlich wissen sie es doch, aber manches Wissen kann nur dort existieren, wo nicht genau hingedacht wird). Oder der eine Teller in der WG-Küche, von dem niemand mehr weiß, wo er hergekommen ist. Manchmal ist es ein Geheimnis, das Bündel verborgener Briefe unter der losen Parkettbohle, die Zeitung unter vier Lagen Tapete. Manchmal ist es nicht das Haus selbst, sondern der Johannisbeerstrauch im Garten, gepflanzt über Generationen geliebter Haustiere. Und manchmal ist es schrecklich, manchmal ist es die Gedenkplakette am Haus, der Stolperstein vor der Tür. Was für normale Häuser gilt, gilt für dieses hier besonders. Irgendwo zwischen Trümmern und Asche liegt etwas, das die Essenz des Hauses in sich trägt. Starke magische Schleier sind in den Gegenstand gewoben, zu gefährlich wäre er sonst. Du wünschtest, sie wären nicht da, denn wie sollst du ihn finden? Und finden musst du ihn, heute noch, ehe die Schleier fallen, der Schutz erlischt und die Kräfte beginnen, unkontrolliert alles in ihrer Umgebung zu beeinflussen.

Eigentlich hast du keine Ahnung von solchen Dingen. Zum Glück kennst du die richtigen Leute. Billie ist eine der schlauesten Personen, die du kennst, und xier hat dich schon vor Jahren gewarnt, dass dein Ausstieg aus dem Hexendasein nicht so einfach sein wird, wie du dir das vorgestellt hast. Magie ist Magie, hat xier dir in einer privaten Nachricht auf WitchCraft geschrieben. Du kannst aufhören zu zaubern, aber du bleibst immer eine Hexe. Es folgte eine Liste von Eventualitäten, die deine Pflichten als Hexe erfordern würden. Dank Billie hast du gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Du wünschtest, das würde irgendwas leichter machen.

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Du hast Angst vor dem, was du tun musst. Magie hat ihren Preis.

Der erste Schritt ist einfach. Mit einer Nadel stichst du in deinen Finger, presst ein paar Tropfen Blut hervor und lässt sie in die Asche fallen. Hexerei braucht ihren Fokus, die Stofflichkeit, die Verbindung zu der Person, die sie wirkt. Deine Urgroßmutter hat dich gewarnt, niemals ein Haar zu verlieren in Gegenwart deiner Feinde. Deine Tante hat dir beigebracht, deine Tränen in einem Reagenzglas zu fangen. Du hattest den größten Streit deiner Teenagerjahre mit deiner Mutter, als sie darauf bestand, dass du benutzte Tampons nicht auf öffentlichen Toiletten zurücklassen darfst. Manchmal denkst du daran, wenn du auf der mit weißem Kunstleder bezogenen Laborliege sitzt und zusiehst, wie dein Blut in kleine Röhrchen rinnt, drei Stück, vier Stück, manchmal mehr als das. Wie die kleinen Etiketten sorgsam darauf geklebt werden. Winkler, Jennifer. Anschrift, Blutgruppe, Diagnose. Hättest du Feinde, sie könnten dich leicht finden. Aber die Zeiten von widerstreitenden Hexenzirkeln sind vorbei. Ihr seid nur noch wenige, und ihr habt verstanden, dass ihr einander braucht.

Noch nie warst du der WitchCraft-Community so dankbar wie heute. Du hast aufgehört, eine Hexe zu sein, ehe du gelernt hast, das Innerste eines Hauses mit einem einzigen Zauber zu finden. Du erinnerst dich an die elegante Abfolge von Worten, die deine Tante benutzt hat, wenn sie den Dingen auf den Grund ging. An ihre langen Finger, die sich im Takt der Worte bewegten, während vor ihren Augen, nur für sie selbst sichtbar, Schicht um Schicht der Realität abblätterte. Häuser, Menschen, Geschichten. Tante Moni konnte den Kern von allem finden, und wenn sie ihn gefunden hatte, dann zupfte sie behutsam an ihm, in die eine oder andere Richtung, und die Dinge änderten sich.

Du warst oft dabei, als du noch ein kleines Mädchen warst. Jemand musste schließlich dafür sorgen, dass Tante Moni den Weg nach Hause schaffte. Es zehrt an einem Menschen, das Wahrhaftige zu sehen. Wenn ihr Werk getan war, sah deine Tante blass aus, erschöpft auf eine Art, die über Müdigkeit hinaus ging. Dann warst du an der Reihe, in deinem Beutel Wasser, ein belegtes Brot und eine Tafel Zetti-Schokolade, im Kopf die Telefonnummer, um notfalls Hilfe holen zu können. Aber meist war das nicht nötig. Tante Moni lächelte mit blassen Lippen, biss einen Riegel Schokolade ab und drückte dir die Hälfte in die schweißnassen Finger. Dann nahmst du sie an der Hand, vielleicht auch sie dich, und ihr fandet gemeinsam den Weg nach Hause.

Niemand in deiner Familie ist alt geworden.

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Du hast natürlich nie aufgehört, eine Hexe zu sein. Wäre deine Tante noch am Leben, würde sie ihre eleganten Worte sprechen, um in dein Inneres, den Kern deines Daseins, zu schauen, dann stünde dort unter anderem in klaren, unzerstörbaren Worten: Hexe. Mit einem Zusatz vielleicht. Hexe, inaktiv. Hexe, unfreiwillig. Hexe, stümperhaft.

Und stümperhaft beginnst du nun, zu zaubern. Du behilfst dir mit zwei simplen Kniffen, die du schon als Kind gelernt hast. Du sprichst die Worte, die dich die Aura eines Gegenstands sehen lassen, die umso heller leuchtet, je mehr Erinnerungen an ihn geknüpft sind. Und du sprichst die Worte, die die Wirkung auf den nächsten überspringen lassen, wenn du die Erinnerung gelesen hast. Dein Können reicht nicht, um den Zauber mehr als einmal zu wirken, und deine Kraft erst recht nicht. Aber mit diesem Trick wird die Magie sich selbst von einem Ding zum nächsten tragen. Du wärst niemals selbst auf die Idee gekommen. Aber Inaya und Amal haben sich zusammengetan, dir eine Anleitung geschickt, Schritt für Schritt, sogar ein Video mit den richtigen Handbewegungen war dabei. Du rufst es noch einmal in der WitchCraft-App auf deinem Handy auf, lächelst kurz, als du ihre ermutigenden Worte hörst. Du sprichst die englischen Formeln nach, der Magie ist die Sprache egal, haben sie dir versichert. Dann vollführst du die Gesten, wartest, was passiert. Fragst dich, was der Zauber dich kosten wird.

Das erste Aufleuchten ist so grell, dass du die Hände vor die Augen schlägst und vor Schmerz aufschreist. Du schimpfst laut, suchst in deiner Tasche nach deiner Sonnenbrille. Irgendwie hast du erwartet, dass magisches Licht anders ist, einen Weg findet, deine geschädigte Netzhaut zu umgehen. Aber es tut dir den Gefallen nicht. Früher hättest du das grellgrüne Leuchten vielleicht gemocht. Aber seit das Medikament, das es dir möglich macht, überhaupt hier zu stehen, deine Augen für immer geschädigt hat, ist alles Licht zu grell. Medizin unterscheidet sich für dich nicht besonders von Magie. Sie ist wie die böse Hexe in alten Sagen, die für alles, was sie dir gibt, einen Preis verlangt.

Das grüne Licht stammt von einem winzigen Bilderrahmen, gerade so groß wie deine Handfläche. Im Inneren des Rahmens befindet sich hinter dem gesprungenen Glas kein Bild, sondern ein kreisrunder Aufkleber in grün-gelben, inzwischen verblassten Farben. Fast schneidest du dich in den Finger, als du ihn unter einem Trümmerstück hervorziehst.

Du zeichnest das allsehende Auge in die Asche, sprichst die Worte, die dich das Innere sehen lassen, den Kern jedes Wesens, jedes Gegenstandes. Kurz fragst du dich, was dein wahres Wesen ist, jetzt, in diesem Moment. Tochter, vielleicht, aber bist du noch Tochter, wenn du keine Mutter mehr hast? Mutter, vielleicht, aber bist du eine Mutter, wenn du das Kind nicht selbst im Leib getragen hast? Kurz denkst du an das Adoptionsverfahren, die vielen Formulare, die du noch ausfüllen musst, um Mutter des Sohnes zu sein, den deine Frau geboren hat. Deine Frau, die du deine Frau nennst, obwohl sie das nicht sein darf. Kann das Innere eines Menschen überhaupt eingetragene Lebenspartnerin lauten? Ist das nicht ein viel zu sperriger Begriff?

Du musst dich konzentrieren, verdammt. Einatmen, ausatmen. Es ist schon beinahe Mittag, und du stehst noch ganz am Anfang einer Kette aus Erinnerungen.

Langsam senkt der Zauber deine Gedanken hinab in den gerahmten Aufkleber, es fühlt sich an wie ein vorsichtiges Abtauchen. Der Kern des Bildes ist eine Erinnerung an einen Supermarktbesuch, bunte Waren in scheinbar endlos vollen Regalen, fröhliche Menschen, ein kleiner Auflauf an Personen, die um einen hellblauen Trabbi stehen. Und die bräunliche, leicht stachelige Frucht, auf der einst der Aufkleber prangte. Kiwi, sagt eine lachende Männerstimme. Was das wohl ist? Sieht aus wie eine Art Kartoffel. - Egal, pack ein, erwidert die Stimme deiner Tante. Das Begrüßungsgeld wird schon reichen.

Du fühlst dich auf einmal, als würde der Sprung im Bilderrahmen sich vergrößern, zu einem gähnenden Riss im Boden werden, der dich in sich hineinzieht. Es ist wie der alte Spruch mit dem Abgrund, der in dich zurückblickt. Nur müsste er hier wohl heißen, dass man keine Erinnerung erhält, ohne eine eigene preiszugeben. Aber es ist nicht eine einzelne Erinnerung, die in dir aufsteigt, es sind viele Fetzen von Erinnerungen. Manche sind leicht und hell, wie das Lachen deiner Frau, als ihr euch scherzhaft darüber streitet, ob ihr das Geschirr gerade auf- oder abwascht. Manche sind dumpf und dunkel, der Sachbearbeiter, der deinen Dialekt verspottet, die alte Frau, die im zufälligen Gespräch auf der Party fragt, ob deine Heimatstadt auch auf Kosten ihrer Steuergelder saniert wurde. Manche sind kaum greifbar, die vage Ahnung eines kratzigen Tuchs um deinen Hals, der Jubel einer Menschenmenge, der von fern durch das gekippte Fenster deines Kinderzimmers klingt.

Seit du in der Schule gelernt hast, dass es das Land, in dem du geboren wurdest, nicht mehr gibt, seit du die Bilder aus jener Novembernacht kennst, fragst du dich, ob es Zufall war, dass deine Großmutter kurz darauf starb. Dass sie innerhalb von Wochen zu schrumpfen schien, weniger zu werden, bis sie mit dem ersten Schnee aus der Welt wehte.

Die Welt läuft nicht einfach von allein, hat deine Mutter gesagt. Wütend war sie, am Tag, als du ausgezogen bist, am Tag, als du ihnen allen gesagt hast, dass du das Hexenwerk nicht weiter lernen willst. Du wusstest noch nicht, weshalb dir so viel Kraft fehlt, du wusstest nur, dass dein Herz zu schwer und deine Knochen zu weich waren. Die Welt braucht uns, hat sie gesagt, wir sind die einzigen, die sie verstehen. Die bis ins Innerste sehen können. Du hast das nie gewollt, ins Innerste der Welt zu sehen. Und jetzt sitzt du hier, die Hände voller Asche, in den Fingern einen Bilderrahmen mit einem Sprung. Das Innerste der Welt ist dir egal, aber das Innerste dieses Hauses musst du finden. Vor Mitternacht. Wie in einem verdammten Märchen.

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Das grüne Leuchten um das Bild ist erloschen. Du schaust dich um, wartest auf das nächste Licht, aber es kommt nicht. Wut steigt in dir hoch, hilflose, unbeherrschte, sprachlose Wut, auf dich selbst, auf die Ascheberge, auf diese ganze absurde Situation. Du möchtest nicht hier sein. Möchtest das nicht tun müssen. Schon beginnen deine Hände zu zittern, während Tränen in deine Augen schießen und das Blut hinter deinen Schläfen pulsiert. Du kämpfst, einige gequälte Atemzüge lang, gegen die Wut. Du kannst sie dir nicht leisten. Aufregung macht alles schlimmer, lockt die Schmerzen in deine Gelenke, legt noch mehr Nebel in dein Gehirn. Du atmest tief, betont ruhig. Zählst von Zehn an rückwärts und als du bei Drei angekommen bist, leuchtet unter der Asche ein violettes Licht.

Mit einem verkohlten Etwas in der Hand, das du zwischen Stein- und Holzstücken ausgegraben hast, zeichnest du erneut das Allsehende Auge. Du weißt nicht einmal, was du da eigentlich gefunden hast, es ist ein rechteckiges, flaches Ding, zur Unkenntlichkeit geschwärzt. Das Leuchten, ein dunkles, pulsierendes Violett, geht unverkennbar davon aus.

Dieses Mal ist die Erinnerung kein sanftes Abtauchen, sondern scharf und unmittelbar. Kein Bild, kein Ton, nur ein Gefühl. Du weißt, dass der Gegenstand in deiner Hand die Zugehörigkeit zu etwas repräsentierte, vielleicht war es ein Mitgliedsausweis, ein Parteibuch, ein Abzeichen. In dem Moment, den du nachfühlst, fand sie ein Ende. Ein unschönes, schmerzliches Ende, selbstgewählt und voller Gefahren. Es gibt Dinge, denen man nicht den Rücken zudreht, ohne Konsequenzen zu erfahren. Das schwarzverbrannte Ding in deinen Fingern ist im tiefsten Inneren das Gefühl eines Moments, in dem sich alles verändert hat.

Deine eigene Erinnerung ist ebenso unvermittelt. Das Behandlungszimmer, in dem du auf ein abstraktes Bild in fröhlichen Farben schaust, während die Worte deiner Ärztin an dir vorbeiziehen. Vielleicht ist es nicht wahr, wenn du nicht zuhörst? Vielleicht träumst du gerade? Das Sie werden mit dieser chronischen Erkrankung leben müssen trifft auf deinen Ohren auf und bohrt sich unnachgiebig in dein Bewusstsein. Die Frau, die damals deine neue Freundin war und heute die Mutter deines Sohnes ist, drückt deine Hand ganz fest.

Du hast deine Mutter nie gefragt, ob sie dich gesund zaubern kann. Wir bestimmen nicht über Leben und Tod, hat sie immer gesagt. Wir beeinflussen nur manchmal, was die Menschen damit anfangen. Seit sie tot ist, fragst du dich, ob sie es doch versucht hat. Ob der schwere Verkehrsunfall, zwei Monate nach deiner Diagnose, eine Lüge war. Dir wird klar, dass du auf diese Frage keine Antwort mehr erhalten wirst, jetzt, wo auch deine Cousine fort ist. Du schiebst die Gedanken weg, zu den anderen Dingen, an die du jetzt nicht denken kannst.

Nachdem das violette Leuchten vergangen ist, brauchst du eine Pause. Ein halber Liter Wasser, das Sandwich, das deine Frau dir belegt hat, drei Tabletten. Du kaust und schluckst, sitzend auf einem verkohlten Dachbalken. Betrachtest die Tabletten in deiner Hand. Legst zwei weitere nach. Du wirst für diesen Tag bezahlen, schon jetzt spürst du den nächsten Schub in deinen Fingerspitzen und Zehen. Deine Energie ist ein Konto mit hohem Dispositionszins, jede Überziehung zahlst du in Raten zurück, und deine stümperhaften Zauber kosten Kraft. Du spürst in dich hinein, fragst dich, ob es reichen wird. Dabei bist du Meisterin darin, deine Kraft einzuteilen, jeder deiner Tage ist sorgsam organisiert. Du führst Schlachtplanungen mit dir selbst, morgens, wenn du darauf wartest, dass die Beweglichkeit in deine Glieder zurückkehrt.

Du schickst eine kurze Nachricht an deine Frau, mir geht es gut, schreibst du. Natürlich geht es dir nicht gut. Aber jede Beziehung kennt ihre eigene Geheimsprache, und mir geht es gut ist deine Art, ihr zu sagen, dass du es aus eigener Kraft nach Hause schaffen wirst. Die Rückfahrt ist schon gebucht, ein Ticket für den letzten Zug, der heute fährt. Du weißt nicht, was du tun wirst, wenn du bis dahin den Kern des Hauses nicht gefunden hast.

Du tippst eine weitere kurze Nachricht an Billie, damit xier den anderen aus der Community sagen kann, dass ihre Tricks und Tipps funktioniert haben. Works like a charm, schreibst du, mit drei Zwinkersmileys, während du dich fragst, ob sie noch mit dir Kontakt halten werden, wenn das alles hier vorbei ist.

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Der Nachmittag vergeht, während du einen Gegenstand nach dem anderen aus der Asche gräbst. Ein türkis leuchtender, halb geschmolzener Metallkrug, im Innersten der Gedanke an den ersten Schluck Wasser für einen Heimgekehrten, der in dir die Erinnerung an deinen ersten Kuss hervorruft. Ein bis zur Unkenntlichkeit geschmolzenes Metallfigürchen, im Kern die Gewissheit, jemanden nie wiederzusehen. Du denkst an Tante Moni, die starb, als du zwölf warst. Die eines Tages wieder loszog, um den Dingen auf den Grund zu gehen, und mit einem Lächeln abwinkte, als du fragtest, ob du sie begleiten sollst. Pass gut auf dich auf, sagte sie, ein Abschied, von dem nur sie wusste.

Die Farben wechseln, du taumelst von Gegenstand zu Gegenstand, Erinnerung zu Erinnerung. Längst bist du jenseits aller Kräfte, die du einteilen könntest. Das Kribbeln und Stechen hat sich zu deinen Knöcheln und Handgelenken vorgearbeitet. Es fällt dir immer schwerer, dich zu konzentrieren, die rettenden Tabletten scheinen deinen Kopf voller Watte zu zaubern. In einer Pause legst du eine Erinnerung im Handy an, neue Rezepte von deiner Ärztin zu holen.

Als die Abenddämmerung einsetzt, bist du endlich am Ende der Kette angelangt.

Die verbogene Schatulle aus Blech leuchtet orange-rot, wie Feuer. Ehe du es als magisches Licht erkennst, fragst du dich kurz, ob es unter der Asche immer noch irgendwo brennt. Deine Finger zittern und schmerzen, als du die verkohlte Schachtel aufbiegst. In ihr findest du, in Lagen aus Stoff und Wachspapier, einen winzigen Umschlag. Im Inneren liegt ein einzelnes Samenkorn.

Du hast ihn kaum berührt, als du dich erinnerst. Die Eberesche stand im Hinterhof, als du ein Mädchen warst. Als du elf warst, wurde sie gefällt. Zur Jugendweihe hat dein Onkel dir eine Schmuckschatulle aus ihrem Holz gebaut, die heute auf deiner Kommode steht. Niemals hättest du geraten, dass an dem Baum etwas besonders war. Aber der Zauber wirkt noch immer zuverlässig, Erinnerungen hüllen dich ein, diesmal fühlen sie sich beinahe wie eine Umarmung an. Du hast gewusst, dass deine Familie nicht immer schon in Berlin lebte. Jetzt erzählt dir das Samenkorn, dass der Baum im Hinterhof aus einem Setzling aus ihrer alten Heimat stammte. Das Innerste des Hauses liegt endlich vor dir, ein Gefühl von Hoffnung, von Neuanfang.

Deine eigene Erinnerung, die wie ein Spiegelbild dazu passt, ist ziemlich genau ein Jahr her. Deine Frau und du, auf der Schwelle der neuen Wohnung, die amtliche Lebenspartnerschaftsurkunde in ihrer Hand. Ihr lacht darüber, wie keine die andere über irgendwelche Schwellen tragen kann, sie hochschwanger, du chronisch krank.

Du lächelst, und mit dem Lächeln endet der Zauber, du lässt ihn und die Erinnerungen los.

Du fragst dich, was du anfangen sollst mit diesem Korn, das so viel bedeutet. Lässt du es einfach hier? Zerstörst du es, entzündest ein weiteres Feuer in der Asche, verbrennst das letzte Vermächtnis deiner Familie? Nimmst du es mit?

Du hältst das Samenkorn in den Händen. Es ist winzig, halb so lang wie dein Daumennagel. Der Kern des Hauses, im wörtlichen Sinne, kurz schnaubst du wütend-belustigt über diese Ironie. Doch dann wirst du still, als du die Magie des Innersten zum ersten Mal selbst begreifst, in den Händen hältst. Für endlose Augenblicke siehst du, was der Samen in sich birgt, was er werden könnte, werden wird. Siehst alle Varianten gleichzeitig.

Der riesige stolze Baum, gewachsen über Nacht in den Ruinen dieses Hauses. Die Wurzeln, die Straßen aufreißen, die Äste, die in die Nachbarhäuser greifen. Unkontrollierte Magie, die so sehr ausstrahlt, dass selbst die Menschen, die sie nicht sehen können, sich instinktiv fernhalten. Tage vergehen im Zeitraffer, Monate, Jahre. Wo Berlin war, sind nur noch Holz und Äste und Blätter, rote Beeren, die bis in die Wolken wachsen. Die Zweige des Baumes reichen in den Himmel, seine Wurzeln bis ins Innerste der Welt.

Das Samenkorn, verbrannt, jeder Lebensfunke erloschen. Die Ruine, voller Asche und verkohlter Balken. Wieder vergeht Zeit, die Ruine verschwindet, ein neues Gebäude entsteht. Ein Haus ohne magischen Kern, ohne Erinnerungen und Geister. Die Menschen in Berlin wissen es nicht, aber zum ersten Mal treffen sie ihre Entscheidungen wirklich selbst.

Der Baum, die Eberesche, in deinem Garten. Die Äste reichen nicht bis in die Wolken, nur bis zur Höhe des Dachs. Dein Sohn weiß inzwischen, dass die roten Beeren giftig sind, erklärt es seiner kleinen Schwester. Du kannst das Gift sehen, wenn du richtig hinschaust, sagt er ernsthaft. Auch dein Sohn kann den Kern der Dinge sehen. Familie ist mehr als Blut.

Eine Myriade weiterer Varianten entsteht aus diesen dreien, weitere Bilder blühen kurz in deinem Geist auf. Eine geheime Stadt im Inneren der Weltenesche. Ein futuristisches Berlin, von einer Glaskuppel geschützt vor Magie. Ein Stammbaum von neuen Hexen, deren Ahnin du bist. Für einen Moment bist du gleichzeitig Samenkorn und aufblühende Knospe, Stamm und Wurzel, in den Wolken und im Innersten der Erde, du fühlst dich unsterblich und zerbrechlich, unendlich groß und unendlich klein.

Und dann schießt der Schmerz von deinen Füßen und Händen aus in alle Gelenke, in alle deine Knochen. Der Schub, den du mit purer Willenskraft hinausgezögert hast, hat dich eingeholt. Mit bitterer Klarheit erkennst du, wie tief im Minus deiner Kräfte du gelandet bist, aktivierst die App, um ein Taxi zu rufen. Dir bleiben nur noch Minuten, bis Schmerzen und Müdigkeit dich überwältigen. Minuten, um diese Entscheidung zu treffen.

Alle Zauber sind verflogen, und du bist wieder du. Nur Jennifer, Mutter und Tochter und irgendwie auch Hexe, geliebt und glücklich und traurig und krank, und allein in der Asche.

Das Innerste der Welt ist ein Samenkorn, kleiner als dein Daumennagel. Was damit geschieht, liegt allein in deiner Hand.

Was tust du?

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