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Vorwort
ОглавлениеSteffi Morkötter, Katja Schmidt & Anna Schröder-Sura
Der Begriff „sprachenübergreifendes Lernen“ verweist auf die Förderung von mehrsprachiger und plurikultureller Kompetenz als einer komplexen Kompetenz anstelle eines additiven Nebeneinanders einzelzielsprachlicher Kompetenzen, wie es bereits im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen (Europarat, 2001, S.17) vor nahezu zwei Jahrzehnten dargestellt wurde1. Diese mehrsprachige und plurikulturelle Kompetenz wurde im Referenzrahmen für plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (REPA) (Candelier et al., 2012) modelliert und in ihre Bestandteile Wissen, Einstellungen und Haltungen sowie Fertigkeiten zerlegt. Zuletzt wurde der Begriff im Begleitband zum Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen (Europarat, 2020) ebenfalls in Form von Deskriptoren fortgeführt und die mehrsprachigkeitsdidaktische Orientierung wie folgt zum Ausdruck gebracht: „Wenn man Lernende als plurilinguale und plurikulturelle Wesen sieht, muss man ihnen nötigenfalls auch den Einsatz all ihrer sprachlichen Ressourcen gestatten und sie dazu ermutigen, sowohl Ähnlichkeiten und Gesetzmäßigkeiten als auch Unterschiede zwischen Sprachen und Kulturen zu entdecken“ (Europarat, 2020, S.34). Mit dieser Beschreibung werden aktuelle bildungspolitische Anforderungen treffend zusammengefasst.
Sprachenübergreifendes Lernen schließt sprachenverbindendes und sprachenvernetzendes Lernen mit ein (vgl. Hallet, 2015; Meißner, 2005), Begriffe, die die zwischensprachlichen und kulturellen Bezüge in den Vordergrund stellen.
Die Vorstellung von einer mehrsprachigen und plurikulturellen Kompetenz und die Berücksichtigung der Gesamtheit sprachlicher Ressourcen der Lernenden verweisen auf die Notwendigkeit, neben Schulsprache(n), sowohl Herkunftssprachen der Lernenden („lebensweltliche Mehrsprachigkeit“) als auch Fremdsprachen („schulische Mehrsprachigkeit“) in Sprachlernprozesse einzubeziehen.
Methodisch schlägt der REPA zu diesem Zweck vier so genannte „Plurale Ansätze“ zur Förderung herkunftsbedingter und schulischer Mehrsprachigkeit vor (vgl. z.B. Melo-Pfeifer & Reimann, 2018): die Interkomprehensionsdidaktik, Interkulturelles Lernen, die integrative bzw. integrierte Sprachendidaktik und den Ansatz Eveil aux langues / awakening to languages. Allgemein gefasst handelt es sich um „Lehr- und Lernverfahren […], die zugleich mehrere Sprachen bzw. sprachliche Varietäten und Kulturen einbeziehen“ (Candelier et al., 2012). Sie widmen sich verschiedenen Schwerpunktsetzungen herkunftsbedingter und schulischer Mehrsprachigkeit und Plurikulturalität sowie der Entwicklung (meta)sprachlicher, inter- und transkultureller und strategischer Kompetenzen. Der Eveil aux langues-Ansatz wird eher dem frühbeginnenden (Fremd-)Sprachenunterricht zugeordnet und kann prinzipiell alle Sprachen und sprachlichen Varietäten und die Förderung eines sensiblen und respektvollen Umgangs mit sprachlicher und kultureller Vielfalt einbeziehen (Candelier, 2003; Mertens, 2018). Im Rahmen der integrierten Sprachendidaktik hingegen werden Verbindungen zwischen einer begrenzten Anzahl von Sprachen hergestellt mit dem Ziel, Kompetenzen in allen unterrichteten Sprachen bzw. die Entwicklung von Teilkompetenzen in bestimmten Sprachen zu fördern (Neuner, 2005; Wokusch, 2005). Die Interkomprehensionsdidaktik zielt entweder auf die parallele Auseinandersetzung mit zwei oder mehreren Sprachen einer Sprachenfamilie (germanische, romanische, slawische Sprachen usw.), wobei systematisch die Ähnlichkeiten für den Aufbau vor allem rezeptiver Kompetenzen genutzt werden, oder auf das Lernen einer Zielsprache unter starkem Rückgriff auf erst-, zweit- oder fremdsprachliches Wissen in einer oder mehreren anderen (nah)verwandten Sprache(n). Interkomprehension kann zum einen als eine Kommunikationsform und zum anderen als ein Verfahren zur Förderung des Sprachen- und Sprachenlernwachstums betrachtet werden (vgl. auch Doyé, 2010; Meißner, 2007). Das interkulturelle Lernen ist ein pluraler Ansatz für sich, ist aber auch in allen anderen Ansätzen enthalten2.
Die Erforschung und Förderung von lebensweltlicher und schulischer Mehrsprachigkeit bringen seit Jahrzehnten bedeutende Entwicklungen hervor. Für romanische Sprachen hat die Interkomprehensionsdidaktik im deutschsprachigen Raum u.a. in schulischen Kontexten beispielsweise vielversprechende Ergebnisse geliefert (z.B. Bär, 2009; Mordellet-Roggenbuck, 2011). Darüber hinaus liegen mittlerweile Vorschläge für und Erfahrungen mit einer Vernetzung der zumeist ersten Fremdsprache Englisch mit romanischen Sprachen (vgl. z.B. Leitzke-Ungerer et al., 2012) sowie mit Russisch und vorhandenen nicht-slawischen Sprachkenntnissen (Mehlhorn, 2014) vor. Eine Ausweitung sprachenübergreifender Projekte und Untersuchungen, auch für ‚kleinere‘ Sprachen wie beispielsweise Schwedisch (vgl. z.B. Kordt, 2015), ist im Sinne einer Mehrsprachigkeitsförderung wünschenswert und entspricht einer internationalen Vergleichsstudie zufolge ebenfalls SchülerInnenwünschen (vgl. Schröder-Sura et al., 2009, S.10). Auch im Bereich der fokussierten Kompetenzen ist in der Mehrsprachigkeitsdidaktik eine Erweiterung erkennbar, in diesem Fall insbesondere auf die produktive Ebene. Beispiele sind unter anderem mehrsprachige Kommunikation (z.B. in Foren und Chats: Prokopowicz, 2017) und Sprachmittlung, die sich zum Teil mit einer Annäherung lebensweltlicher und schulischer Mehrsprachigkeit verknüpfen lassen (vgl. hierzu für Sprachmittlung zwischen Türkisch und Spanisch z.B. Reimann & Siems, 2015; Fernández Ammann et al., 2015). Im Bereich lebensweltlicher Mehrsprachigkeit lassen sich insbesondere Untersuchungen und Maßnahmen ansiedeln, die dem Ansatz des Eveil aux langues bzw. awakening to languages folgen:
Discovering at school the diversity of languages and cultures, listening to dozens of languages, including some of the languages spoken by classmates, marvelling at the way those languages are written, comparing them and understanding how they work, taking an interest in those who speak them … (Candelier et al., 2004, S.209; unsere Hervorhebungen)
Auch hier existieren darüber hinaus Projekte, die das Erstellen eigener Produktionen durch SchülerInnen in einer internationalen und -kulturellen Perspektive in den Blick nehmen, wie beispielsweise das KOINOS-Projekt (siehe unten).
Die Beiträge des vorliegenden Bandes sind in ihrer thematischen Ausrichtung bewusst weit gestreut, um einen Einblick in die Vielfalt der Ansätze und Entwicklungen, die in der Mehrsprachigkeitsdidaktik mittlerweile entstanden sind, zu ermöglichen. Sie reichen von Modellen und Forschungsergebnissen im Bereich der LehrerInnenausbildung (Barbara Hinger, Eva Maria Hirzinger-Unterrainer & Katrin Schmiderer, Benjamin Fliri, Sílvia Melo-Pfeifer) und Projekten in verschiedenen schulischen Kontexten (Grundschule, Sekundarbereich) bis hin zu Überlegungen zu sprachenübergreifendem Lernen und zum sprachsensiblen Fachunterricht (Michel Candelier) sowie zu sprachenübergreifenden Übungs- und Aufgabenformaten (Christiane Neveling). Auch unterschiedliche Zielsprachen und Sprachfamilien sind vertreten wie Russisch (Ursula Behr) sowie germanische (Birgit Kordt) und romanische Sprachen (Christian Helmchen, Sílvia Melo-Pfeifer, Tanja Prokopowicz).
Gerade weil die einzelnen Beiträge in ihren Ausrichtungen sehr unterschiedlich sind, ist das Ziel einer solchen Bündelung verschiedener pluraler Ansätze und Zielsprachen in einem Band, einen Austausch und eine Kooperation von Didaktiken (Deutsch-, Englisch-, Französisch-, Russisch-, Spanischdidaktik, Sachfachdidaktiken …) auf Schul- und Universitätsebene in den Bereichen Forschung, Unterricht, Lehrmaterialentwicklung und LehrerInnenaus- und -fortbildung anzuregen, um einer „Zersplitterung der mehrsprachigkeitsdidaktischen Bemühungen“ (Candelier, 2018, S.342) entgegenzuwirken.
Zu den einzelnen Beiträgen:
Im Rahmen von Mehrsprachigkeit und kultureller Vielfalt in der Primarstufe stellt Christian Helmchen das so genannte KOINOS-Projekt vor, das in Kooperation zwischen Universitäten und Schulen in Deutschland, Portugal und Spanien entstanden ist. Es wurden Konzepte zur Förderung von interkulturellen Kompetenzen und Multiliteralität von SchülerInnen entwickelt. Das Projekt lädt zur aktiven Teilhabe vieler sozialer AkteurInnen ein.
Für die Sekundarstufe wirft Tanja Prokopowicz die Frage auf: „Pourquoi apprendre le français – est-ce que l’anglais ne suffit pas ?“ Der Beitrag widmet sich einer Unterrichtsreihe aus dem Französischunterricht, die auf eine Förderung von individueller Mehrsprachigkeit und Sprachlernkompetenz abzielt. Ursula Behr geht mit Bezugnahme auf Russischunterricht in der Jahrgangsstufe 8 auf das vergleichsweise weniger bearbeitete Thema der Leistungseinschätzung beim sprachenübergreifenden Lernen ein und gibt Anregungen für die Konstruktion und Bewertung von Aufgaben, die sprachenübergreifende Kompetenzen erfordern. Die Ausführungen werden ergänzt um Informationen über die Erprobung, die Einschätzung der Anforderungen in den Aufgaben durch die Russischlernenden und die Beurteilung der Praktikabilität des Bewertungsansatzes durch die Russischlehrkräfte.
Der thematische Teil zu Mehrsprachigkeitsdidaktik in der LehrerInnenbildung beginnt mit einem Beitrag von Sílvia Melo-Pfeifer, die eine explorative Studie an der Universität Hamburg präsentiert. Es wird den Forschungsfragen nachgegangen, inwiefern die strukturierte Integration von pluralen Ansätzen im Rahmen von Erstausbildungsprogrammen den Abbau einer monolingualen Denkweise von künftigen FremdsprachenlehrerInnen unterstützt, wie diese die unterschiedlichen pluralen Ansätze und deren pädagogische und didaktischen Vorteile betrachten und welche Irritationen und Dilemmas plurale Ansätze am Anfang des Professionalisierungsprozesses auslösen. Benjamin Fliri, Eva M. Hirzinger-Unterrainer, Katrin Schmiderer und Barbara Hinger geben empirische Einblicke in subjektive Sichtweisen von Studierenden des so genannten ‚Innsbrucker Modells der Fremdsprachendidaktik‘ (IMoF) zu mehrsprachigkeits- und teambezogenen Aspekten zu Beginn ihrer fremdsprachendidaktischen Ausbildung. Ebenfalls im österreichischen Kontext angesiedelt ist der Beitrag von Benjamin Fliri, der der Frage nachgeht, wie die Wirksamkeit und die Bedeutung der Mehrsprachigkeitsdidaktik aus studentischer Perspektive in der Initialausbildung wahrgenommen werden und welche Rückschlüsse sich hieraus für eine mehrsprachigkeitsorientierte LehrerInnenausbildung ziehen lassen.
Der Band schließt mit drei Beiträgen zu konzeptionellen Überlegungen zu mehrsprachigkeitsförderndem Lernen. Birgit Kordt widmet sich in ihrem Beitrag der Frage der Eignung des EuroComGerm-Konzepts für das sprachenübergreifende Lernen in der Schule. Die Besonderheiten dieses Konzepts werden anhand dreier Metaphern dargelegt. Anschließend werden anhand verschiedener Beispiele Überlegungen zur Konzeption EuroComGerm-basierter Sprachlernangebote in der Schule angestellt. Christiane Neveling arbeitet heraus, nach welchen Kriterien Aktivitäten zum sprachenübergreifenden Lernen analysiert bzw. konzipiert werden können, damit sie den Desiderata der mehrsprachigkeitsdidaktischen Forschung im Rahmen der Unterrichtsprinzipien des neo-kommunikativen Ansatzes entsprechen. Für eine Systematisierung werden vier Leitlinien genutzt: kognitive Prozesse bei mehrsprachigkeitsdidaktischen Aktivitäten, Ziele der Übungen und Aufgaben, Gütekriterien bzw. Konstruktionsprinzipien von Übungen und Aufgaben sowie methodische Formate. Überlegungen zur Erweiterung des Referenzrahmens für plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen um die Dimension des sprachsensiblen Fachunterrichts stellt Michel Candelier an. Die dargelegten Überlegungen verstehen sich sowohl als Vorarbeit für eine solche Ergänzung des REPA als auch als Hinweise auf den Nutzen von pluralen Ansätzen in diesem Bereich.