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1. Einleitung
ОглавлениеSprache kommt in der post-industriellen Wissensgesellschaft (vgl. bspw. Bell, 1976) ein herausragender Stellenwert zu. Sie ist der Schlüssel zum Erwerb von Fähigkeiten und Kompetenzen. Der Grad ihrer Beherrschung entscheidet in bedeutendem Maße über den Bildungserfolg eines Individuums und mithin über dessen ökonomisches Potential und sozialen Status. Sie befähigt in Schule, Ausbildung und Arbeitspraxis zum Zugang, zur Verarbeitung, zur Nutzung und Weitergabe komplexer Informationen; der angemessene Umgang mit ihren verschiedenen Registern erlaubt situationsgerechtes Handeln in unterschiedlichen sozialen Kontexten.
Die Bedeutung, die der Grad der Sprachbeherrschung für den Kompetenzerwerb in allen Schulfächern hat, zeigt sich in den Ergebnissen der PISA-Studien sehr deutlich. In ihrer Analyse konstatiert Gogolin, „dass das Verfügen über ‚Sprache‘ eine notwendige Grundlage dafür ist, Kompetenz in der Sache zu erlangen“ und dass „den sprachlichen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler […] eine überaus bedeutende, die Schule insgesamt durchdringende und Fächergrenzen kreuzende Rolle“ (Gogolin, 2006, S.37) zukommt. Dies zeige sich schon allein daran, dass für den Begriff der Grundbildung, der in der deutschen Fassung der PISA-Tests verwandt wurde, im Englischen die Bezeichnungen Mathematical bzw. Scientific Literacy gewählt wurden. Es könne deshalb kaum verwundern, so Gogolin, dass sich geringe Lesekompetenzen negativ auf die Leistungsfähigkeit in anderen Wissensdomänen auswirken (vgl. ebd.).
Gogolin bezieht sich hier auf (Lese-)Kompetenzen in der deutschen Sprache. Im Hinblick auf eine in hohem Maße globalisierte Welt, deren Verflechtungen stetig weitreichender und zugleich enger werden, in der der Umgang mit sprachlicher Vielfalt zum alltäglichen Normalfall geworden ist, muss diese Analyse erweitert werden. Schon heute ist eine monolinguale Literalität in vielen Bereichen des Lebens nicht mehr ausreichend. Kompetenzen in verschiedenen Sprachen erleichtern unter Umständen nicht nur das Verständnis einer schlecht übersetzten Bedienungsanleitung für ein Elektrogerät oder eines Tutorials auf einer Website. Sie sind häufig notwendig für den Zugang zu Wissen aus anderen Sprachregionen, beispielsweise in der schulischen und universitären Ausbildung, bei der Verwendung von Informationstechnologie, bei der Arbeit im Ausland oder in einem Hotel, im Umgang mit ArbeitskollegInnen oder MitbürgerInnen mit einem anderen sprachlichen Hintergrund. Zudem beschränkt sich Literalität heute nicht mehr auf die Rezeption mündlicher oder schriftlicher Texte. Die Formen der Informationsverbreitung haben sich gewandelt und sind vielfältiger geworden, ein Umstand, der zugleich wachsende Kompetenzen und Flexibilität von RezipientInnen und Handelnden fordert; eine Entwicklung, die sich zweifelsohne fortsetzen und Menschen vor immer neue Herausforderungen stellen wird. Klar ist, multilinguale und multimodale Literalität sind schon jetzt für viele keine Option mehr, sie sind Notwendigkeit und es ist Bildungsauftrag der Schule, SchülerInnen auf die vor ihnen liegenden Herausforderungen in diesem Bereich vorzubereiten.
Tatsächlich ist eine Vielzahl der SchülerInnen bereits von zuhause aus mehrsprachig; z.B. hatten in Hamburg im Schuljahr 2018 / 2019 ca. 50 % der SchülerInnen einen Migrationshintergrund (vgl. Schuljahresstatistik, 2018), bundesweit sind es ca. 33 % (vgl. Statistisches Bundesamt, 2018). Diese SchülerInnen sind in der Regel mehrsprachig und verfügen so bereits über ein erhebliches sprachliches und kulturelles Kapital. Trotz der im wissenschaftlichen Diskurs seit langer Zeit geforderten Berücksichtigung und Förderung sprachlicher und interkultureller Kompetenzen bei SchülerInnen mit Migrationshintergrund zeigt sich in der Praxis nach wie vor eine weitgehende Ignoranz, teilweise sogar eine negative bzw. defizitorientierte Sichtweise in Bezug auf herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit (vgl. bspw. Hu, 2003; Roche, 2013). Dies liegt nicht zuletzt auch daran, dass LehrerInnen häufig nicht wissen, wie die im Klassenzimmer vorhandenen (Herkunfts-)Sprachen sinnstiftend in den Unterricht einbezogen werden können (vgl. Heyer & Schädlich, 2014). Es überrascht deshalb nicht, dass die das ERASMUS+ Projekt KOINOS – Europäisches Portfolio plurilingualer literaler Praxis begleitende Forschung zeigt, dass viele der am Projekt teilnehmenden lebensweltlich mehrsprachigen SchülerInnen bislang keinen Raum für ihre Herkunftssprachen in der Schule sehen und in sprachlicher Hinsicht eine klare Trennung zwischen intra- und extraschulischer Umgebung vornehmen. So beschreiben die SchülerInnen zwar, wie sie Deutsch bzw. institutionell erworbene Sprachen in der Schule nutzen, der Gebrauch der Herkunftssprachen bleibt jedoch dem häuslichen Umfeld oder Besuchen im Herkunftsland vorbehalten. Diese von den SchülerInnen wahrgenommene Trennung zwischen den sprachlichen Repertoires (sozial / lokal bzw. Familie, Freunde, Schule) zeigt sich in einer klaren visuellen Unterteilung ihrer sprachlichen Umgebungen. So schaffen die Kinder in den visuellen Narrativen durch von ihnen gezeichnete Linien voneinander getrennte Räume, denen jeweils deutlich nur eine Sprache zugeordnet wird. Überlappungen, zur Abbildung mehrsprachiger Räume, zeigen sich hingegen nicht (vgl. Melo-Pfeifer & Helmchen, 2018, S.10f., Abb.1).
Das KOINOS-Projekt,1 das zwischen 2015 und 2017 entwickelt und durchgeführt wurde, leistet einen Beitrag zum praktischen Einbezug von Mehrsprachigkeit und kultureller Vielfalt in den Schulalltag. Mit dem Wunsch, einen Beitrag zum gesellschaftlichen Miteinander zu leisten, wurde der Name KOINOS gewählt, der übersetzt „im Dienst der Gemeinschaft“ bedeutet. Das Projekt entstand als Kooperation zwischen Grundschulen und Universitäten in Deutschland (Hamburg), Portugal (Aveiro) und Spanien (Barcelona) und hat sich unter anderem die Förderung mehrsprachiger, multimodaler Literalität unter allen SchülerInnen zur Aufgabe gemacht. Die im Rahmen des Projektes von WissenschaftlerInnen und LehrerInnen gemeinsam entwickelten, erprobten und überarbeiteten Materialen sowie alle Ergebnisse des Projekts, Dokumentationen, Erfahrungsberichte und Unterrichtsvorschläge können unter www.plurilingual.eu in verschiedenen Sprachen eingesehen werden.
Dieser Artikel soll einen Einblick in das KOINOS-Projekt gewähren und anhand eines Beispiels die Förderung von Multiliteralität unter Einbezug der sprachlichen und kulturellen Diversität der Schülerschaft im Projekt exemplarisch veranschaulichen. Zu diesem Zweck wird zunächst der Begriff der Literalität um die Multiliteralität definitorisch erweitert. Nach einer kurzen Beschreibung des Projekts folgt die Vorstellung der lokalen und digitalen ‚Fliegenden Teppiche‘, einem im KOINOS-Projekt entstandenen und erprobten Instrument zur Förderung von Multiliteralität, bevor über Potenziale und Perspektiven, aber auch über Grenzen und Herausforderungen gesprochen wird.
Abbildung 1: Visual Narratives von zwei SchülerInnen, entstanden im KOINOS-Projekt