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ОглавлениеTimpe Te | Regina Schleheck
Erst als sie den Inhalt in die Wanne kippte, sah sie ihn zappeln. Die Tragetasche hatte gehalten. Sorgfältig ausgesucht bei ihren samstäglichen Gängen über die Kö. Die Verpackung zählte. Name, Größe, Beschaffenheit. Louis Vuitton war ihre erste Wahl gewesen, aber die Gucci-Version schien ihr dann doch robuster. Und vollkommen ausreichend. Die schmale Form würde beim Laufen nicht so behindern. Die High Heels waren nicht das Problem, die hätte sie ausziehen können. Natürlich wäre ein Rucksack am praktischsten gewesen. Und natürlich hätte sie die Tüte auch bei eBay gekriegt. Aber in der Höhle des Löwen galt es, nicht aufzufallen. Erkundung und Übung. Die Plünnen für die Promenaden bezog sie von eBay. Prada, Lacoste, Joop. Vorher studierte sie die einschlägigen Blättchen: Gala, InStyle, Elle. Bei jedem Bummel ein anderer Fummel und eine andere Frisur. In den Läden erstand sie alberne Accessoires im Sonderangebot, die sie zum Originalpreis vertickte: Strenelle-Beanies mit Strasssteinchen-Logo, mit Federn besetzte Kunstpelzstulpen von Etsy und Picard-Plüschhandtäschchen.
Heute Morgen hatte er ihr schließlich einen Igel verpasst. Mit dem Rasierer. Dass die Perücke wie angegossen saß. Sie hatte an einem zentralen Platz in der Nähe des Bahnhofs ein Taxi genommen. Tarek das Rad. Ein geklautes, das er irgendwo wieder stehen lassen konnte.
Tarek war es, der ihr die Augen geöffnet hatte. Im AK 47 waren sie auf der Tanzfläche zusammengescheppert und – er gab ihr einen aus, sie revanchierte sich – ins Gespräch gekommen. Seine Sprüche hatten sie anfänglich irritiert. Aber seine Bewegungen waren so, dass sie dauernd hingucken musste. Vielleicht lag es auch an den Shots. Sie standen in den Tanzpausen beieinander und ihr dämmerte, wie er tickte. Soweit die Musik es zuließ. Sein Gerede von Ausbeutern und Dreck am Stecken. Von großen und kleinen Fischen. Seine Leidenschaft. Sie wollte es. Wollte ihn. Als sie ihn in ihre Dachgeschosswohnung mitnahm, erzählte er ihr, was sein Name bedeutete. Etwas explodierte in ihr. Am anderen Morgen war er weg, ehe sie aufwachte. »Sorry, Frühschicht«, stand auf dem Zettel an der Kaffeemaschine. Er jobbte bei einem Paketdienst. Sie fror. Ihre Arbeitszeit in der Praxis begann erst um acht.
Je öfter er kam, umso besser kapierte sie seine Wut. Männer waren nicht so weichherzig – nein, dämlich wie Frauen, ließen sich nicht so leicht vereinnahmen.
Ihre Mutter hatte erzählt, wie sehr die Großmutter 1958 mit Soraya von Persien, Ehefrau von Schah Mohammad Reza Pahlavi gelitten hatte, der sie nach sieben Jahren Unfruchtbarkeit in die Wüste schickte. Dass der eigene Mann viel zu früh bei einem Betriebsunfall gestorben war und sie ihre Tochter in der Nachkriegszeit alleine durchbringen musste, war schlimm. Nein, Pech. Das Schicksal der mit einem Millionenvermögen abgefundenen persischen Kaiserin hingegen eine Tragödie, die die Großmutter immer beschäftigt hatte.
Die Mutter weinte, als der englische Thronfolger 1996, nach fünfzehn Jahren, Lady Di schasste, die ihm sogar zwei Kinder geboren hatte, woraufhin die Königin der Herzen ein Jahr später bei einem Unfall zu Tode kam und die Mutter ein zweites Mal tagelang in Tränen aufgelöst war.
Sie selbst hatte 2008 die Schlagzeilen um Susanne von Klatten, geborene Quandt, verfolgt, reichste Frau Deutschlands, die nach achtzehn Ehejahren und drei Kindern von einem Gigolo verführt und erpresst wurde und deren lieblose Ehe den Skandal immerhin noch zehn Jahre überstand. Hatte sie bedauert. Den Stolz der anderen bewundert, die den Typ anzeigte, wissend, dass sich alle das Maul zerreißen würden.
Warum? Warum reagierten Generationen von Frauen empathisch auf Probleme von Frauen, mit denen sie außer dem Geschlecht und sich daraus ergebenden Konsequenzen – Kindern und Ehemännern, die früher oder später nichts mehr von ihnen wissen wollten – nichts teilten? Die oberen Zehntausend schwämmen in Geld, das sie denen, die sie bewunderten und bemitleideten, abgepresst hätten, sagte Tarek. »Blutgeld« nannte er es. »Unser Geld.«
Sein Onkel war als Kind im türkisch-griechischen Grenzgebiet durch eine APM, eine Antipersonenmine, ums Leben gekommen, der Vater hatte ein Bein verloren. Deutsche Landminen aus dem Hause Quandt, den Industriewerken Karlsruhe AG, sagte Tarek. Achtzig Prozent aller Minen töteten Zivilisten, ein Viertel davon Kinder. Die Familie seines Vaters habe sich nach Deutschland durchgeschlagen, nach Dortmund, wo der Invalide später in einem Filter- und Staubabscheiderunternehmen als Pförtner arbeitete, bis er auf dem Hof der Firma von einem zurücksetzenden LKW überrollt wurde, weil er nicht schnell genug zur Seite springen konnte. Ein halbes Jahr, bevor er, Tarek, zur Welt kam.
»Und weißt du, wem die Firma gehörte?«
»Woher sollte ich?«, gab sie zurück.
»CEAG. Sie gehört zum Quandt-Imperium. Vielmehr gehörte. Sie haben sie kurz danach verlagert und später verkauft.«
»Bisschen viel Pech.«
»Bisschen viel Quandt.«
Es war Samstagnacht, sie lagen im Bett, durch das Dachfenster über ihnen strahlten tausend helle Sterne, während sie sich an ihn schmiegte und den Naturpelz streichelte, der sich auf seiner Brust kräuselte. Was sollte sie auch sagen? »Komm. Lange her.«
Er schob ihre Hand weg. »Keiner von denen hat sich je entschuldigt.«
»Was können die denn dafür, was die Alten gemacht haben?«
»Alles, was die geerbt haben – und die schwimmen im Geld! –, hatten die am Krieg verdient. Das Mindeste wäre gewesen, dass sie die Kohle abgeben hätten. Als Entschädigung für die Kinder und Hinterbliebenen von den über tausend Zwangsarbeitern, die für die AFA krepiert sind.«
Sie setzte sich auf. »AFA?«
»He!« Er zog an der Decke, die verrutscht war.
»AFA kenne ich«, sagte sie. »Mein Opa war da.«
»Echt? Und was hat er erzählt?«
»Nix. Der ist kurz nach dem Krieg gestorben. Erzähl du!«
Er legte den Kopf in ihren Schoß und suchte ihren Blick. »Die heißen heute Varta. Damals haben die Batterien für U-Boote gebaut. In einem eigenen KZ, wo Häftlinge mit hochgiftigen Stoffen arbeiten mussten. Jeden Monat sind an die Hundert krepiert.«
»Mein Opa ist an einer Bleivergiftung gestorben.«
Ihr dämmerte, wie er sich fühlte. Die Wut.
Sie selbst hatte sich vorher nie wirklich Gedanken gemacht. Er empfand sich als Gescheiterter. Gescheitert am System. Das Schwache aussortierte, übervorteilte und ausbeutete. Aufgrund seiner Rechtschreibschwäche hatte er die Schule nicht abschließen, nicht studieren können. »Wir sitzen im Pisspott«, sagte er. »Draußen tobt der Sturm und wir träumen davon, reich und mächtig zu sein. Dass ein Wunder passiert. Manntje, Manntje, Timpe Te! Statt in die Hände und den Machthabern ins Gesicht zu spucken!«
Sein Hass richtete sich gegen alles, was dazu angetan war, ihn den Geschäftemachern dieser Welt auszuliefern. Daher trug er nie Marken, kaufte nur das Nötigste beim Discounter, besaß kein Smartphone, keinen Computer, und wenn er über andere Rechner im Internet surfte, nutzte er den TOR-Browser.
Die Kö war für ihn eine No-go-Area. Der Protz. Das Publikum. Schon der Name … Bis er von den Pferdeäpfeln erfuhr. Das fixte ihn an: 1848. Deutsche Revolution. Na ja, hat ja nicht geklappt. Damals hieß sie noch Kastanienallee. Als König Friedrich Wilhelm, der – keine Ahnung, fünfte oder was – in seiner Kutsche da entlang fuhr, wurde er mit Pferdeäpfeln beworfen. Total harmlos. Aber den Düsseldorfern war das so peinlich, dass sie die Straße »Königsallee« nannten, um ihm in den Arsch zu kriechen.
Er grinste. »Vielleicht wollten sie ja gerade, dass man immer daran denken sollte.«
Das Wort »Attentat« hatte seitdem in der Luft gelegen. Als er auf ihrem Smartphone auf den Wikipedia-Eintrag zum Kö-Center stieß, begann sie zu britzeln. »Weißt du, wem das Grundstück gehörte? Den Quandts! Auf dem sogenannten quandtschen Trümmergrundstück wurde der Tempel errichtet, in dem sich heute die Superreichen tummeln. Die Arschlöcher haben sich noch an den Ruinen ihrer Besitztümer doof und dämlich verdient!«
Er erzählte ihr von seinem Plan, und etwas brach in ihr auseinander. Ein Hälfte in ihr schrie: »Nein, bitte nicht!« Die andere: »Ja! Tu’s!«
Letzten Endes blieb ihr keine Wahl. »Nein« hieß die Gewissheit, ihn zu verlieren. Es gab eine Chance. Sie konnte dafür Sorge tragen, dass es gelang. Dass es ein Danach gab.
Sie war diejenige, die so oft in die Höhle des Löwen ging, bis er genau wusste, was wo wann wie ablaufen könnte. Die keinem auffiel. Auf keiner Kamera identifizierbar sein würde und wäre. Die auch ihm helfen konnte, unidentifiziert zu bleiben.
Alles hatte sie versucht, zu bedenken. Zu beachten.
Was sie nicht beachtet hatte: die Fische. Die stumm in dem Aquarium rumschwammen, das den Außenbereich des japanischen Restaurants gegen die Vorbeiflanierenden abgrenzte. Sie hatte auf den Sockel geachtet. Hinter dem sie die Tasche nach dem ersten Knall fallen gelassen hätte, um verschreckt wegzurennen. Er wäre dahinter gehechtet, wie wohl alle sich hinter irgendetwas ducken würden, wenn es knallt, hätte Weste und Mütze entnommen, im Schutz des Sockels blitzschnell gewechselt und sich mit der Tasche unter die anderen gemischt, die in Panik weggelaufen wären.
Stattdessen war sie mit der Tasche weggerannt. Nach dem ersten Knall. Der nicht von ihm kam. Er hatte den großen Fischen lediglich die Lichter auspusten wollen. Ähnlich harmlos wie Pferdeäpfel werfen. Stattdessen wurde ihm das Licht ausgepustet. Sie hatte hinter dem Aquarium in Habachtstellung gestanden, als er sich näherte und auf der anderen Seite Position bezog. Ein harmloser Passant in unauffälliger Weste, Schirmmütze in die Stirn gezogen. Im selben Moment, als er die Pistole zückte und auf die zentrale Deckenleuchte richtete, riss einer der Sicherheitsleute, als harmloser Passant mit unauffälliger Weste getarnt, Schirmmütze in die Stirn gezogen, seine unter der Achsel hervor und schoss. Die Detonation schleuderte Tareks Kopf gegen das Glas. Sie sah in Zeitlupe eine rote Kaskade auf sich zukommen. Die rote Fontäne der Austrittsstelle am Kopf, den rot funkelnden Splitterregen berstender Glaswände, der sich im Aquarium ausbreitete, auf der anderen – ihrer – Seite blitzend zerstob, durchsetzt von einem rotschlierigen Wasserschwall. Der kalte Guss, der sie aus der Millisekundenstarre riss, von oben bis unten durchnässte und in die Tasche schwappte. Sie rannte, wie sie da stand, los. Ihr Schreien, das Stakkato ihrer High Heels mischte sich in das Kreischen und Sohlenklackern der panisch Davonstiebenden, in das Krachen umstürzender Stühle und Aufsteller. Sie erreichte den Ausgang, die Straße, warf sich in ein Taxi, zitternd, nannte zähneklappernd einen zentralen Platz zwei Häuserblöcke von ihrer Wohnung entfernt, die Fragen des Fahrers rauschten an ihr vorbei wie der Verkehr, in den der Wagen sich einfädelte, sie blickte starr geradeaus, selbst als das Auto anhielt, erst als der Mann sie anstupste, zuckte sie zusammen, griff in die Manteltasche, in der der passende Schein steckte, stieg aus und rannte weiter.
Als sie den durchnässten Inhalt der Tasche in die Wanne kippte, sah sie ihn zappeln. Den kleinen Fisch. Der überlebt hatte.
Sie würde ihn Tarek nennen. »Der helle Stern.« Weil er sie erinnerte. Wie der Blick aus dem Dachfenster jede Nacht.
»Allahu akbar«, hätte er geschrien, als er die Pistole zückte, sollte der Sicherheitsmann später aussagen. Zeugen meinten, Ähnliches gehört zu haben. Der Migrationshintergrund schwappte durch die Medien. Eine Verbindung zu einschlägigen terroristischen Gruppierungen ließ sich nicht nachweisen. Genauso wenig wie zu ihr. Eine vollkommen unauffällige Diskobekanntschaft. Ein vollkommen harmloser Anschlag. Ein vollkommen harmloser kleiner Fisch, der für immer stumm bleiben würde.
Irgendwann später verstand sie, dass das »quandtsche Trümmergrundstück« mit einem einfachen »t« geschrieben wurde. Dass die Familie Quandt – die mit dt – mit der Kö gar nichts zu tun hatte, machte die Sache nicht besser.
Die großen Fische nahmen sich nichts.