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Kuckuck | Nele Sickel
Оглавление»Ich glaube, irgendwer hat allen Ernstes dein Gesicht«, rufst du über das Wummern der Musik hinweg.
»Was?« Ich starre dich halb erschrocken, halb amüsiert an. Es ist irritierend, dich so zu sehen. Im Halbdunklen mit dem Gesicht eines anderen. Doch deine Stimme gibt mir Sicherheit.
»Da hinten irgendwo«, sagst du in deiner üblichen warmen Tonlage und deutest an mir vorbei in die Menschenmenge, aus der ich gerade zu dir zurückgekehrt bin. Deine Hand wandert beiläufig hinter dein Ohr, berührt das Kontrollpanel deiner holografischen Maske. »Da hab ich es vorhin gesehen. Hast scheinbar einen heimlichen Verehrer.«
Ich schüttle den Kopf. Den Drink, den ich dir eigentlich reichen wollte, umklammere ich immer noch fest. »Kann ich mir nicht vorstellen. Wenn man jeder sein kann, wieso sollte man dann gerade ich sein wollen? Wie sollte irgendjemand überhaupt auf mein Bild kommen? Das ist doch bescheuert.«
»Wer weiß. Deine Maske hast du nicht abgesetzt?«
»Nein.«
Du zuckst die Schultern. »Dann muss ja jemand dein Bild für sich ausgesucht haben. Oder ich hab mir das eingebildet. Ist auch einfach verdammt viel los hier.«
»Ist es«, stimme ich zu und entspanne mich ein wenig. »Für die Drinks musste ich ewig anstehen.« Mein Blick fällt auf deinen Drink in meiner Hand. Ich reiche ihn dir, proste dir mit meinem eigenen Glas zu, dann trinke ich und sehe mich um.
Der Club war voll, als wir kamen, aber irgendwie hat er es geschafft, noch voller zu werden. Mensch an Mensch überall. Nun ja, mehr oder weniger. Die Masken machen das Bild vom Hals an aufwärts deutlich bunter. Mensch an Fuchs an Geist an Sonnenblume an Drache. Alles ist vertreten. Ich selbst bin ein Kuckuck, ein wütend dreinblickender grauer Vogel. Hab ich in einer der unbekannteren Datenbanken gefunden. Steht mir! Und es ist definitiv ein Alleinstellungsmerkmal.
Die maskierten Gestalten um uns herum trinken, lachen und tanzen ausgelassen zum unsteten Rhythmus der Musik. Sie scharen sich um die wenigen Lichtquellen: das holografische Lagerfeuer im Zentrum des Raumes und die vielen kleineren Flammen, die von akrobatischen Fackelträgern durch die Enge der Menge gewirbelt werden. Ich beobachte, wie ihr Flackern Schatten auf die Masken der Tänzer wirft. Dank der Holotechnologie machen die Dinger jede Regung mit, jede Mimik. Verzückte Gesichter und wilde Augen überall. Viele sind sich nah. Alle sind berauscht.
Beiläufig lehne ich mich zu dir hinüber, bis ich das Kribbeln spüre, das durch die statische Rückkoppelung zweier sich überlappender Masken entsteht. Für andere müssen wir jetzt so aussehen, als wären wir mit den Köpfen aneinander gewachsen. Ich lächle bei der Vorstellung. Irgendwie passend, wo wir doch auch sonst beinahe unzertrennlich sind.
»Dein Gesicht habe ich hier aber auch schon mindestens fünf oder sechs Mal gesehen.« Ich muss laut sein, um mich über die Musik hinweg verständlich zu machen, aber ich versuche, es dennoch wie ein Raunen klingen zu lassen.
»Was, echt?« Ich brauche nicht hinsehen, um zu wissen, dass du dich anspannst. Wir stehen so dicht, dass ich es fühlen kann.
»Echt!«, bestätige ich und zeige in die Menge. Nicht weit von uns tanzt jemand mit dem Gesicht von Nana Lex, deinem Lieblingsschauspieler. Es ist das gleiche Gesicht, das auch du heute Abend trägst.
Es vergehen zwei oder drei Herzschläge, ehe du erkennst, was ich meine. Dann brummst du abfällig. Ich erwarte eigentlich, dass du mich sanft boxt, wie du es immer tust, wenn ich mir einen Spaß mit dir erlaube, doch heute gibt es keine spielerische Gewalt, keine Berührung.
»Du bist doof«, sagst du nur.
Ich stimme zu.
»Gruselig, oder?«, frage ich nach einer Weile. »Die Vorstellung, berühmt zu sein. So wie Nana. Dein Gesicht überall …«
Ich habe gehofft, dass du die Gelegenheit nutzt, mich beruhigend in den Arm zu nehmen. Doch du lehnst dich von mir weg und zuckst die Schultern. »Klar, aber nicht das Gruseligste, was ich heute gehört habe.«
»So?« Ich weiß nicht, was ich von deiner Stimmung halten soll.
»Während du weg warst, hatte ich hier Gesellschaft von einer Dame mit Schlangengesicht. Die hatte ein paar gute Geschichten drauf.«
»Die wollte sicher flirten.« Ich spüre einen kleinen Stich Eifersucht.
Der Rhythmus wechselt, die Musik wird lauter.
»Weißt du eigentlich, was wir hier feiern?«, schreist du.
Ich lege den Kopf schief, denke nach. »Keine Ahnung, Erntedank oder so?«
»Nicht wirklich, eigentlich leiten wir die Fastenzeit ein.«
»Fastenzeit?«
»Da isst man weniger. Also hat man zumindest früher, als dieser religiöse Quatsch noch verbreiteter war.«
»Ah, jeder haut noch mal rein, bevor es nichts mehr gibt?«
»So in etwa.«
Ich grinse und schaue in die Richtung der Bar. Hinter den vielen schwingenden, zuckenden Körpern ist von der Theke nichts zu sehen. »Vielleicht sollten wir uns dann auch was gönnen.« Mein Magen knurrt. Obwohl unser Abendessen noch nicht allzu lang her ist, habe ich Hunger.
Bevor ich noch etwas sagen kann, spüre ich wieder das statische Kribbeln an der Wange und lächle. Doch als ich deinen Arm berühren will, greife ich ins Leere. Ich drehe den Kopf. Da stehst du immer noch. Mindestens einen halben Meter von mir entfernt. Ich muss mich geirrt haben, als ich dachte, dein Gesicht an meinem zu spüren. Wieso bist du mir heute Abend so fern?
»Jedenfalls meinte die Schlangenfrau, es heißt, dass zum Karneval manchmal noch andere Dinge kommen und … naja … die Stimmung nutzen und … sich auch den Bauch vollschlagen.«
»Andere Dinge?« Beiläufig rücke ich näher.
Zumindest zuckst du nicht weg. »Ja, Geister, Monster, so was. Sie meint, einige schleichen sich in unsere Köpfe, unsere Körper, um unbemerkt …«
»Sie redet aber nicht von den Masken, oder?« Ich lache. Deine Stimmung ist zu seltsam, um es nicht zu tun. Vielleicht kann ich dich anstecken.
»Nein«, erwiderst du völlig ernst. »Die gehören aber auch zur Tradition, sollen abschrecken oder so.«
Ich rücke näher, nehme dich in beide Arme. »Ich lasse nicht zu, dass dich ein Monster frisst, versprochen!«
Du schaust mich an, aber du lächelst kaum. Das heißt, das Bild von Nana Lex, das du vor dir herträgst, lächelt kaum. Aber ich weiß ja, dass du das bist, oder? Deine Haut unter meinen Händen ist warm.
»Vielleicht sollte wir doch was essen gehen«, sagst du. Du greifst in deinen Nacken und löst sanft meine Hände von dir.
Ich stehe da wie geschlagen. Was ist nur mit dir? Mit uns? Habe ich etwas verpasst?
Du wendest dich um und gehst an der Wand entlang fort. Obwohl du nicht einmal schaust, ob ich dir folge, tue ich es. Der Boden klebt. Die vielen Menschen machen das Vorankommen schwer. Ich werde angerempelt, abgedrängt, angemacht. Ich lege schützend eine Hand über meinen Drink und dränge vorwärts. Überall Hitze, überall Haut. Es riecht nach Parfüm, Schweiß, Alkohol und Drogen. Mein Magen knurrt wieder. Aber ich habe nur Augen für dich.
Bis du plötzlich weg bist.
Ein Riese mit dem Kopf einer Giraffe hat sich zwischen uns aufgebaut. Ich brülle ihn an, er soll aus dem Weg gehen, aber er hört mich nicht. Als ich ihn endlich umrundet habe, bist du schon in der Menge untergegangen.
Ich rufe nach dir, doch die Musik, die Leute, alles ist zu laut. Ich gehe weiter Richtung Bar. Dabei werde ich immer mehr in die Mitte des Raumes gedrängt. Näher an das Lagerfeuer. Simulierte Hitze heizt den Raum zusätzlich auf. Synthetisches Raucharoma liegt in der Luft. Aber der Rauch dazu fehlt. Ich kann wenigstens klar sehen.
Ein Einhorn im Anzug kreuzt meinen Weg, dann ein Alligator im Bikini. Ein Löwe im Cocktailkleid will in die gleiche Richtung wie ich. Seine ausladende Mähne streift meine Wange. Ich spüre das statische Kribbeln. Mein Blick wandert um ihn herum zur Wand zurück. Dort stehen ein aus der Mode gekommener Politiker und ein Frauenkörper mit einem runden Keks anstelle des Kopfes und unterhalten sich. Erst denke ich, die beiden sind allein, doch dann wird eine Fackel bewegt und leuchtet den Platz direkt neben ihnen aus. Dort entdecke ich ein vertrautes Gesicht.
Ich erstarre. Das kann nicht sein! Ich schließe die Augen, öffne sie, schaue noch mal hin. Das Gesicht – mein Gesicht – ist wieder im Schatten verschwunden. Hat da wirklich jemand mein Foto für seine Maske gewählt? Absolut schräg! Ich will dir sofort davon erzählen, aber du bist nicht da. Jetzt fehlst du mir noch mehr.
Ich halte den nächstbesten Tänzer an und drücke ihm meinen Drink in die Hand. Ich brauche heute Abend offensichtlich keinen Alkohol mehr. Außerdem komme ich ohne das Glas schneller voran.
Da vorn bist du! Nanas Gesicht über einem schwarzen Shirt. Ich rufe, aber du hörst mich nicht. Also versuche ich, zu rennen. Die Zeit für Höflichkeiten ist vorbei. Ich will dich nicht verlieren. Nicht jetzt und überhaupt niemals. Dafür fahre ich die Ellenbogen aus, schubse Leute aus meiner Bahn. Fremder Schweiß bleibt an mir haften, während ich mich vorwärts bewege. An einem Paillettenkleid reibe ich mir den Arm auf.
Endlich kommst du in Reichweite und ich greife deine Hand. Du streichst über meine Finger, ziehst mich näher, drehst dich dabei zu mir um … und verharrst mitten in der Bewegung.
»Hast du deine Maske gewechselt? Was soll dieser komische Vogel?« Das ist nicht deine Stimme.
Rasch löse ich mich, schüttle den Kopf und mache einen Schritt zurück. So viel zu Nana und seinem Popularitätsproblem …
Ich sehe eine weitere Version des Schauspielers auf einem rot umhüllten Frauenkörper und die dritte über einer extrovertiert glitzernden Jacke. Definitiv nicht du. Keiner davon.
Also weiter zur Bar. Ich schaue nach vorn und sehe, dass der Löwe im Cocktailkleid mich derweil abgehängt hat. Er lehnt ein paar Meter entfernt an der Theke und versperrt mir mit seiner Mähne den Blick auf die anderen Gäste dort. Ich fluche und gehe weiter. Mehr Menschen, mehr Gedränge. Mein Magen knurrt noch heftiger. Ich sehe den Tanzenden zu und wünschte, ich könnte die Party ebenso genießen wie sie. Vielleicht später. Mit dir an meiner Seite. Vielleicht. Hoffentlich.
Endlich erreiche ich die Bar. Ich schiebe den Löwen beiseite und lasse meinen Blick die Theke hinunter wandern. Kein Nana, nirgendwo. Ein Haufen schräger Gestalten, Drinks und Schalen voll Erdnüsse, aber du bist nicht da. Wurdest du auch abgedrängt?
Ich schnappe mir eine Handvoll Nüsse und mache mich wieder auf den Weg. Egal, wohin du verschwunden bist, ich finde dich!
Die Nüsse werfe ich mir alle auf einmal in den Mund. Sie schmecken verdammt gut. Während ich den Blick schweifen lasse, lecke ich mir das Salz von den Fingern. Hunger habe ich immer noch. Vielleicht sogar noch mehr.
Dann sehe ich dich. Du stehst am Eingang für deine Jacke an. Zumindest glaube ich, dass du es bist: Schwarzes Shirt, Nanas Gesicht.
Du gehst. Ich weiß nicht, ob ich erleichtert, besorgt oder sauer sein soll. Willst du mich wirklich hier allein lassen?
Ich schaffe mir Platz, dränge mich zu dir durch, nehme deine Hand.
Du zuckst zusammen, dann starrst du mich an. »Oh, du bist es«, höre ich dich sagen. Ein Teil von mir ist erleichtert: definitiv deine Stimme!
»Ich bin es«, bestätige ich und drücke deine Hand. »Wo willst du hin?« Wut hin oder her, ich bin froh genug, dich wiedergefunden zu haben, dass ich dich umarme. Du bist warm und du riechst wunderbar. Für einen Moment genieße ich einfach deine Nähe.
Dann merke ich, dass du schweigst. Deine Hand in meiner ist eiskalt. Eiskalt und verschwitzt. Ich will dich gerade fragen, ob du dich unwohl fühlst, da entziehst du dich mir schon wieder. Gehst auf Abstand.
Ich erschaudere. Das Gefühl der Erleichterung verfliegt. Ich bin nicht sicher an deiner Seite, nicht so wie sonst. Irgendetwas stimmt absolut nicht. »Alles okay?«, frage ich.
»Klar.« Definitiv deine Stimme, kein Zweifel möglich.
Ich beiße mir auf die Oberlippe. So wie du dich gibst, hätte ich mir beinahe eine zweite Verwechslung gewünscht. Dich noch mal zu suchen wäre einfacher, als bei dieser Laune mit dir umzugehen. »Sicher?«
»Klar«, sagst du wieder. Beinahe klingt es mechanisch. Einstudiert.
Ich denke an deine Geschichte von den Monstern in unseren Körpern und Köpfen und jetzt wird mir auch kalt. War das eine Warnung?
»Gehen wir essen?«, frage ich in einem letzten Versuch, die Normalität zu wahren.
Du schüttelst den Kopf. Ich kann sehen, wie du dich anspannst. Bereit zum Sprung.
»Nimm bitte die Maske ab!«, flehe ich. »Nur für einen Moment. Hier gibt es so viele Nanas, ich …«
Wieder ein Kopfschütteln. Ich lasse von dir ab, mache einen Schritt zurück, vergrößere den Abstand zwischen uns. Du bittest mich nicht, zu bleiben. Alles an dir, deine ganze Haltung ist anders, als ich es von dir kenne. Ich bekomme Angst vor dir. Gehe noch einen Schritt zurück.
Das kann nicht sein!, schelte ich mich innerlich. Es gibt keine Monster, und wenn es welche gäbe, dann ganz sicher nicht dich! Du hast einen schlechten Abend, nicht mehr und vielleicht hatten wir einfach beide zu viel Schnaps.
Doch dann schaue ich dir wieder in die Augen – Nanas Augen – und ich glaube mir nicht. Das bist nicht du. So bist du nie zu mir gewesen.
»Bitte, nimm die Maske ab!«, flehe ich noch einmal.
Während ich versuche, zu entscheiden, ob ich schreien oder wegrennen soll, knurrt unaufhörlich mein Magen. Ich versuche, dich nicht aus den Augen zu lassen, wie du mir sprungbereit gegenüberstehst. Aber das Blut beginnt, mir in den Ohren zu rauschen, und macht die Konzentration schwer.
Wieder spüre ich das statische Kribbeln meiner Maske. Ich weiß, dass es nicht sein kann, dass du schützend neben mir stehst, aber ich schaue dennoch zur Seite. Ich schaue zur Seite und direkt in meine Augen. Rote Augen. Ich erstarre.
Mein Gesicht mir gegenüber erstarrt ebenfalls. Wieder ein Kribbeln und mein Gesicht verschwindet hinter einer Kuckucksmaske. Ein weiteres Kribbeln und es kehrt zurück. Rotäugig. Fremd. Die Wand ist ein Spiegel, wird mir klar. Mein Magen knurrt.
Ich schaue zu dir zurück. Angst spiegelt sich in deinen Augen – Nanas Augen. Du bist immer noch du, erkenne ich jetzt. Du bist nicht anders als sonst, nur wachsamer, erschrockener. Du fürchtest dich. Und du riechst immer noch so gut!