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ОглавлениеArmin Nassehi
Editorial
»Weil Speis und Trank in dieser Welt doch Leib und Seel’ zusammenhält«, heißt es 1690 in dem Singspiel Der irrende Ritter Don Quixotte de la Mancia von Johann Philipp Förtsch – es ist der Ursprung des geflügelten Wortes, und es enthält fast alles, was man über das Essen sagen kann. Es hält Leib und Seele nicht nur zusammen, es findet sogar gewissermaßen in zwei Welten statt – in der Welt des Leibes, des Lebens, des Überlebens, der Natur und der Stofflichkeit einerseits, in der Welt der Seele, der Kultur, der Bedeutung und ihrer sozialen Ausprägung andererseits. Essen ist gewissermaßen das Symbol für die unterschiedlichen Formen des Stoffwechsels, in der der Mensch steht: im Stoffwechsel mit seiner natürlichen Umwelt einerseits, im Stoffwechsel mit der soziokulturellen Umwelt andererseits. Essen (und Trinken) dient einerseits der Selbstreproduktion unseres stofflichen Körpers und ist immer geprägt von der eher feinstofflichen Ebene seiner sinnhaften Verweisungen. Nichts, was gegessen wird, ist nur Nahrung, und alles, was gegessen wird, bedeutet auch etwas.
Darin ähnelt das Essen der Sexualität – die auch nicht einfach der Reproduktion der Gattung dient, sondern stets auf besondere Weise soziokulturell aufgeladen ist. Nicht umsonst sind sowohl Sexualität als auch Ernährung ein besonderer Gegenstand aller Weltreligionen – Sexualität und Ernährung stehen gewissermaßen für die Perpetuierung der Schöpfung, im Falle des Essens von Tag zu Tag, im Falle der Sexualität von Generation zu Generation. Die christliche Vorstellung des peccatum originale, der Erbsünde, wird gewissermaßen durch den Kontrollverlust des Sexuellen von Generation zu Generation weitergegeben, perpetuiert gleichwohl die Schöpfung Gottes und muss deshalb stark eingehegt werden – in einer strengen Sexualmoral und der Sakralisierung der Ehe. Der Ursprung der Erbsünde freilich war nicht der Sex, sondern ein Biss in einen Apfel, der den Menschen aus dem Paradies vertrieb, ihm aber auch die Kultur bescherte: Er konnte nicht mehr einfach sein, was er war, sondern er musste sich nun ansehen. Dass der Sündenfall der Frau oblag, ist dann vielleicht die Verbindung zur Sexualisierung des Geschlechts. Dass es ein Akt des Essens war, der den Menschen zu dem macht, was danach sein sollte, ist vielleicht kein Zufall, vielleicht auch nur theologische Spekulation – aber man könnte den Satz »Du bist, was du isst« als geradezu schöpfungstheologische Anthropologie interpretieren.
Es ist jedenfalls kein Zufall, dass die Religionen nicht nur klare Sexualvorschriften, -tabus und -regeln kennen, sondern auch deutliche Speisevorschriften, -tabus und -gebote. Diese variieren enorm, sind hier strenger, dort nur noch ein blasser Widerschein früherer Strenge, aber sie symbolisieren tatsächlich das Grundlegende jenes Stoffwechsels des Menschen mit seiner natürlichen Umwelt. Innerhalb der religiösen Traditionen ist es vor allem der Distinktionsgewinn zwischen strengeren und weniger strengen Gruppen, zwischen Konfessionen und Lebensarten, die sich besonders in diesen kulinarischen Regeln niederschlagen.
Und jede Regel ist nur so schön wie seine Übertretung – wie in dem bekannten Witz über den Rabbi, der beim Metzger auf einen Schinken zeigt und fragt, was der Fisch koste. Auf die Auskunft, das sei ein Schweineschinken, sagt er, er wolle den Preis des Fisches wissen, nicht, wie er heißt. Genauso schön ist das schwäbische »Herrgottsbscheißerle« – Maultaschen, die in der Fastenzeit bis Karfreitag gereicht wurden und deren fleischhaltige Füllung eben in der Teigtasche versteckt war, die Gottes Blick, wiewohl omnipotent, verborgen bleibe. Dialektisch wissen wir, dass die kreative Übertretung der Regel vor allem auf die Geltung der Regel verweist. Das Essen jedenfalls kann sich der Doppelbedeutung zwischen schlichter Stofflichkeit und Nährwert und seiner kulturellen Bedeutung nicht entziehen.
Die Beiträge dieses Kursbuchs eint die Perspektive auf diese Doppelbedeutung des Essens und der Ernährung als natürlich-kulturelle Dublette. Und auch ganz ohne Rekurs aufs Theologische und Religiöse wird deutlich, dass die Bedeutung des Essens in allen Beiträgen auch darin liegt, dass gegessen werden muss, damit sowohl die Gattung als auch ihre Gesellschaft und Kultur kontinuiert. Es findet jeden Tag statt, meistens mehrmals, und es bedeutet stets mehr, als es ist. So machen Eva-Maria Endres und Christoph Klotter darauf aufmerksam, wie sehr sich das Essen stets moralischer Beobachtung ausgesetzt sieht, und Eva Barlösius zeigt in ihrem Beitrag, dass sich in den Lebensmitteln selbst eine sozialmoralische Differenz ausdrückt, in der unterschiedliche Praktiken sichtbar werden. Jana Rückert-Johns Überlegungen über das Essen in Corona-Zeiten machen ebenso auf die soziale Bedeutung des Essens aufmerksam – wer enger aufeinandersitzen muss, muss auch zusammen essen. Oder darf?
Andrea Fadanis Kulturgeschichte des Hungers Marie Schröers Beitrag über »Foodporn« gegenüberzustellen, macht sehr deutlich, wie sich im Essen gesellschaftliche Extreme unterscheiden lassen – hier der menschheitslange Mangel und der Hunger, dort die Ausstellung des Überflusses von seiner künstlerischen Darstellung bis zu seiner popkulturellen Darstellung in sozialen Medien. Auch Corinna Schirmers Beitrag über den Bedeutungswandel des Fleisches als Nahrungsmittel lässt im Nahrungsmittel und seiner Aufladung mit Bedeutung gesellschaftlichen Wandel sichtbar werden. Die »Wurstpoetologie« von Felix Lindner ist der Beitrag, der aus unserem Call for Papers hervorgegangen ist.
Heike Littger hat sich nach diversen Foodtrends umgesehen und gezeigt, wie sehr nicht nur unterschiedliche Trends auffindbar sind, sondern wie diese in kulturelle, ökonomische, technische und Marketingentwicklungen eingebettet sind. Meine Lieblingsstelle: Manche sehr neue vegane Foodtrends, etwa Pouletstreifen aus Erbsenproteinen, sind zwar neu, verdanken ihren Erfolg aber der historischen Macht von Maggi- und Knorrwürze. Nur weil schon das richtige Huhn nicht nach Huhn schmeckte, kann man es jetzt ohne Rest, ohne Huhn kopieren. Das Essen dekonstruiert sich selbst, indem es den Geschmack perpetuiert, der aus einer Zeit vor aller Dekonstruktionsmöglichkeit stammt.
Das führt zum Beitrag von Jürgen Dollase – ein Meisterwerk der Dekonstruktion. Dollase diagnostiziert einen clash of culinary cultures – und dekonstruiert diesen, indem er den Kampfbegriffen dieses Kampfs der Kulturen misstraut. Was ist einfache Küche, was eine Spitzenküche, was Qualität und wie lässt sich die lebenslange Geschmackssozialisation überwinden – und geht dabei stets derjenige als Sieger hervor, den man erwartet? Dollase ist hier kein Kombattant in diesem Kampf der Kulturen, auch kein Schiedsrichter, sondern jener parteiliche Unparteiische, der beiden Seiten bescheinigt, wie sehr sie sich an ihre eigenen Vorurteile gewöhnt haben.
Wer nach diesem kalorienreichen Kursbuch immer noch Appetit verspürt, stößt auf Peter Felixbergers FLXX-Kolumne, die diesmal die Demokratie in einem Menü der Extraklasse kredenzt – garantiert ganz ohne braune Soße.
Der Brief eines Lesers ist dem Autor diesmal im Halse stecken geblieben – er fällt dem Überangebot an Kulinaria in diesem Kursbuch zum Opfer.