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Corinna Schirmer

Vom Fleisch fallen

Das Ende einer Essgewohnheit

Im Oktober 2020 beriet das EU-Parlament über einen Gesetzesentwurf, der die Benennung von vegetabilischen Produkten regeln sollte. Ziel des Entwurfs sollte sein, die sprachliche Nähe zwischen pflanzlichen und fleischlichen Produkten zu regulieren beziehungsweise sie klar voneinander abzugrenzen. Mit anderen Worten: Veggie-Burger, vegetarische Wurst und Co. sollten künftig andere Namen bekommen. Vorbild für diesen Gesetzesentwurf war eine EU-Verordnung, die die Benennung von Milchprodukten beziehungsweise von Produkten, deren Namensgebung an originäre Tiermilchprodukte erinnern könnte, mit folgender Regelung unterbindet: »Der Ausdruck ›Milch‹ ist ausschließlich dem durch ein- oder mehrmaliges Melken gewonnenen Erzeugnis der normalen Eutersekretion, ohne jeglichen Zusatz oder Entzug, vorbehalten.« 1 Das EU-Parlament entschied – entgegen der Entscheidung aus dem Jahre 2013 zum Thema »Milch« – bei der Benennung von sogenannten Fleischersatzprodukten jedoch dahin gehend, dass eine Regulierung seitens der EU nicht vorzunehmen sei: »Die Abgeordneten lehnten alle Vorschläge ab, sich auf Fleisch beziehende Bezeichnungen für fleischhaltige Produkte zu reservieren. Für Produkte auf pflanzlicher Basis und die Namen, die sie derzeit beim Verkauf verwenden, wird sich nichts ändern.« 2

Die Entscheidung mutet wie ein Erfolg für derzeitige Vermarktungsstrategien fleischloser Steaks, Frikadellen und diverser Äquivalente an. Und dient gleichzeitig zur Dokumentation eines Höhepunkts zwangloser vegetabilischer Ernährung: Seit einigen Jahren erobern Fleischersatzprodukte die Supermarktregale. Sie gehören – teils als Lifestyle-Produkte – zu einer (vermeintlich) umweltbewussten, ethisch-moralisch geprägten Ernährungsweise, die im Zuge fortschreitender Globalisierung, Diskussionen um Klimawandel und Erderwärmung sowie prekärer Tierhaltungsbedingungen zunehmend an Unterstützung gewinnt. Befindet sich das Fleisch als Nahrungsmittel also in der Krise?

Vegetabilische Ernährung – eine Erfindung des 21. Jahrhunderts?

Im Zuge dieser aktuell omnipräsent erscheinenden Diskussion und der insbesondere im Lebensmittelhandel, in Restaurantküchen und heimischen Kühlschränken stattfindenden Aushandlung um fleischliche oder fleischlose Kost könnte der Eindruck entstehen, dass eine vegetabilische Ernährung eine Erfindung des 21. Jahrhunderts sei. Gemeint ist damit eine fleischlose Ernährungsweise, die auf dem bewussten Fleischverzicht beruht und nicht auf möglichen Versorgungsengpässen mit tierischen Produkten. Diese Form der Enthaltsamkeit ist schon wesentlich älter, als heutige Diskurse vermuten lassen: So ist schon in der griechischen Antike karnivore Abstinenz ein Thema, das den Ernährungsalltag insbesondere gut situierter Personen mitbestimmt.

Auf dem europäischen Festland ist der bewusste Fleischverzicht schon seit mehreren Jahrhunderten vor allem Teil verschiedener Bewegungen, die sich mit einem gesunden Lebensstil auseinandersetzen und diesen auch mittels spezifischer Ernährungsweisen in ihrem Alltag umzusetzen versuchen. En vogue ist eine pflanzliche Ernährung dabei insbesondere in diversen Religionen, denn Fastenvorschriften beziehen oftmals den Fleischkonsum mit ein. Trotz teils raffinierter Umgehungsversuche dieser Speisevorschriften – sind beispielsweise Maultaschen doch ein bis heute beliebtes Gericht der schwäbischen Küche, das seinen fleischlichen Inhalt optisch gut verbirgt und nicht umsonst den Namen »Herrgottsbscheißerle« trägt – bestimm(t)en sie letzten Endes, ob und wann welches Fleisch gegessen oder nicht konsumiert werden darf. Daneben entwickelten sich auch nicht religiöse Fleischverzichtsbewegungen, die insbesondere im 19. Jahrhundert einen ersten Höhepunkt erreichten und deren Akteure sich sogar in eigens dafür gegründeten Verbänden zusammenschlossen.

Schlussendlich aber ist der bewusste Fleischverzicht ein Privileg – er beruht auf dem Luxus, dass Fleisch, wenn es auf dem Speiseplan gewollt wäre, als Teil der Nahrung zur Verfügung stünde, und es dennoch nicht in die Ernährung mit eingebunden ist. Dabei ist Fleisch ein Bestandteil der Ernährung, der den Menschen schon seit seiner Ur- und Frühgeschichte begleitet.

Fleisch in der menschlichen Ernährung

Als Jäger und Sammler hatte man von der Verfügbarkeit verschiedenster Fleischstücke, zumindest aus alimentärer Sicht, nur träumen können. Fleisch war ein rares Gut, dessen Verzehr erst mit ausgefeilten Jagdtechniken zunehmen konnte. Zunächst stand es in der Regel roh auf dem Speiseplan, fehlten doch geeignete Zubereitungsmöglichkeiten wie Feuerstellen. Und selbst heutige Freunde der Garstufen rare oder gar raw müssen wohl zugeben, dass die Möglichkeiten der Zubereitung von Speisen durch Hitze den Essenskosmos durchaus erweitern.

Erst die Nutzbarmachung des Feuers im Verlauf der älteren Altsteinzeit ermöglichte es, Fleisch gegart oder gebraten verspeisen zu können. Ein evolutionärer Kniff, der das geschmackliche Repertoire erweiterte und überdies dem Verdauungstrakt zugutekam. Leichter verdaulich und durch Erhitzung von Parasiten befreit, trug das am Feuer zubereitete Fleisch auch zur sozialen Entwicklung des Menschen bei: Die gemeinsame Mahlzeit war erfunden. Fleisch wurde nicht mehr to go verzehrt, sondern zunächst zur Feuerstelle geschafft, um es dort erhitzen und gemeinsam verspeisen zu können.

Es darf dabei nicht vergessen werden, dass die Jagd eine komplexe Aufgabe darstellte, die – anders als bei den meisten heutigen Supermarktstreifzügen – neben körperlicher Höchstleistung auch das ein oder andere Opfer erforderte. Das zog wiederum geschlechterspezifische Herausforderungen nach sich, mit denen es umzugehen galt: etwa die körperlich (meist) unterschiedlichen Konstitutionen von Mann und Frau oder die Betreuung der Kinder inklusive Säuglingspflege. Ausgehend von dieser neuen Entwicklung differenzierten sich Geschlechterrollen aus: Frauen versorgten die Kinder in der Nähe der Feuerstelle, Männer gingen auf die Jagd. Eine Rollenverteilung, die sich in den meisten Kulturen bis ins 21. Jahrhundert gehalten hat und deren Aufweichung nach wie vor nur langsam im Prozess begriffen ist.

Zumindest zieht sich dieser Wandel wesentlich länger hin als die Sesshaftwerdung der Menschen. Der schleichende Abschied vom Wildbeuterdasein stellte eine gravierende Veränderung des (Zusammen-)Lebens dar und läutete die neolithische Revolution ein. Und von einigen Nomaden, Aussteigern und Weltreisenden abgesehen, kann man behaupten, dass dieser Prozess nahezu menschheitsumfassend ablief. In Gemeinschaften an einem Ort zusammenzuwohnen ist auch derzeit noch die bevorzugte Lebensweise. Die Jäger und Sammler entdeckten im Zuge des Neolithikums zudem peu à peu Pflanzenanbau und Viehhaltung – meist Rinder, Ziegen, Schweine und Schafe – für sich. War es doch weitaus angenehmer, für das saftige und zudem energiereiche Stück Fleisch nicht erst tagelang, von Familie und Freunden getrennt, durch die Gegend ziehen und Ausblick nach geeignetem Jagdwild halten zu müssen.

Irgendwann reichte es nicht mehr, das Vieh zu halten, zu schlachten und dann in aller Eile verspeisen zu müssen, um dem Verderb des Fleisches durch Konsum zuvorzukommen. Ob es nun der Ehrgeiz war, der den Erfindergeist vorantrieb, oder ob die Vorgängertechniken der heutigen Konservierungsmethoden zufällige Entwicklungen waren, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Belegbar ist jedoch, dass ab etwa 1000 v. Chr. eine neue Nutzungsart des tierischen Fleisches hinzukam: das Räuchern. Die Vorratshaltung wurde im Laufe der Zeit nicht nur in verschiedene Räuchermethoden ausdifferenziert, sondern noch um weitere Konservierungstechniken ergänzt. Lebensmittel, darunter auch Fleisch, werden bis heute eingesalzen, getrocknet oder gepökelt. Bekommt man als Verbraucher diese technisch-chemischen Verfahren meist gar nicht mehr mit, sondern greift im Supermarkt zu Corned Beef, Salami und Co., entdecken seit einigen Jahren immer mehr Nostalgiker vor allem das Einkochen am heimischen Herd wieder für sich. Die Firma Weck erlebt ein Revival, und manch Köchin oder Koch wird bei Recherchen zum Thema klar, dass »Einwecken« in Wirklichkeit ein Eponym ist und »Einkochen« der Begriff, der den Vorgang vom Wortsinn her beschreibt.

Dieser neue Umgang mit den vorhandenen Lebensmitteln eröffnete ganz neue Möglichkeiten der Ernährung und dehnte auch die zeitlichen Bedingungen des Verzehrs des gehaltenen Schlachtviehs aus. Mit den verschiedenen Kulturen entwickelten sich dann während der Eisenzeit auch verschiedenste Speisepläne, der Zugriff auf Lebensmittel veränderte sich ebenso wie die genutzten Produkte selbst.3 Durch Kontakt zwischen den Kulturen wurden verschiedene Prozesse angestoßen, auch im Bereich der Ernährung. Entwicklungen, die sich bis heute im Rahmen von Globalisierung und Migration beobachten lassen: So führten zum Beispiel die Handelsbeziehungen und kolonialen Bemühungen Großbritanniens im 19. Jahrhundert dazu, dass indische Gerichte, wie das Curry, den Weg auf die Britischen Inseln fanden. Von dort gelangten sie beispielsweise wiederum auf westfälische Speiseteller, wie sich unter anderem in Henriette Davidis’ Praktischem Kochbuch 4 nachvollziehen lässt: Curry findet sich in der Ausgabe von 1887, herausgegeben von Luise Rosendorf, die das Kochbuch nach dem Tod von Henriette Davidis als erste weitere Autorin weiterführte.5 In die Erstausgabe von 1845 hatte zwar Reis schon Eingang gefunden – Curry jedoch noch nicht. Der Blick über den Tellerrand erfolgte bei der westfälischen Kochbuchautorin im Wortsinn – in diesem Fall gen Großbritannien. Dessen internationale Bestrebungen hatten eine Art Vorbildcharakter, und die damit vermeintlich verbundene Exklusivität sowie ein erstrebenswert erscheinender und im Rahmen der eigenen (Koch-)Möglichkeiten greifbar werdender Exotismus konnten durch Kochrezepte in den eigenen provinziellen Speiseplan eingebunden werden. Die Imitation der insbesondere zu dieser Zeit geschätzten britischen Küche diente somit dazu, den im Vergleich zu den Referenzgesellschaften teils als rückständig empfundenen Alltag aufzuwerten und in ein exklusiveres Licht zu stellen. Wie sich ebenfalls diachron in den verschiedenen Ausgaben des Praktischen Kochbuchs von Henriette Davidis ablesen lässt, changierte eine Variante des Sonntagsbratens im Laufe dieser Entwicklungen – Orientierungen an der britischen und französischen Küche folgend – vom Beef à la mode über das verballhornte Bœuf à la mode hin zum, dann schon fast profan anmutenden, Schmorbraten. Eine Benennungshistorie, die gen Ende des 19. Jahrhunderts eine Rückbesinnung auf den Eigenwert der deutschen Sprache erkennen lässt – ganz im Sinne des zunehmenden Nationalismus der Zeit.

Gibt der Schmorbraten aktuell keinen Anlass (mehr?) zur Diskussion in puncto Namensgebung, ist es heute der Diskurs um die Benennung von Fleischersatzprodukten, der unter anderem aufzeigt, dass gerade Fleisch als Wohlstandsindikator gelten kann. Bei der Analyse menschlichen Fleischkonsums zeigen sich dabei verschiedene Merkmale, die Rückschlüsse auf die jeweilige Gesellschaft zulassen. So empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) aktuell beispielsweise, die Fettzufuhr, vor allem gesättigter Fettsäuren, wie sie in Fleischprodukten vorkommen, zu reduzieren, da die meisten Männer und Frauen in Deutschland die empfohlenen Tagesmengen überschreiten.6 Blickt man in der Geschichte der Menschheit zurück, lässt sich an dieser Empfehlung erkennen, an welch luxuriösem Punkt wir in unserer kulinarischen Historie angekommen sind. Denn im deutschsprachigen Raum war Fett bis in die Nachkriegsjahre des Zweiten Weltkriegs ein wertvolles Gut und somit auch ein wichtiger Anteil am Fleisch. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass der physiologische Brennwert von Fett höher liegt als der vieler anderer Lebensmittel. Ergo ist bei der Aufnahme einer gleichen Menge von Fett und beispielsweise Kartoffeln die Energieaufnahme bei Ersterem höher. Fett als Teil der Ernährung trägt somit zu einer effizienteren Energiezufuhr bei.

Ruft man sich die eben erwähnten Jäger und Sammler ins Gedächtnis, ergibt es Sinn, dass die Zunahme von Fleisch in der Ernährung in der Evolution fast schon revolutionär war, da sich daraus in gewisser Weise eine Aufwandskaskade ergibt. Wer Fleisch isst, nimmt ein gewisses Maß an Energie zu sich. Bestenfalls muss für die Beschaffung des Fleisches dabei weniger Energie aufgebracht werden als für die gleiche Menge an Energie in Form von beispielsweise Kohlenhydraten. Somit ist fettes Fleisch lange Zeit ein hohes und erstrebenswertes Produkt. Das ändert sich erst, als es beginnt, im Überfluss vorhanden zu sein. Seit der sogenannten Fresswelle in den 1950er-Jahren wird immer mehr Wert auf eine fettreduzierte Ernährung gelegt – das Ergebnis eines Zusammenspiels industrieller Prozesse, die zu einer nahezu ganztägigen Verfügbarkeit sämtlicher Lebensmittel führten, und veränderter Arbeitsbedingungen sowie Alltagsgestaltungen: Wer den ganzen Tag am Schreibtisch sitzt und den Computer bedient, muss in der Regel weniger Energie zu sich nehmen als eine Person gleichen Grundbedarfs, die einer körperlich anstrengenden Arbeit nachgeht. Gleichzeitig fällt es im Schlaraffenland der Supermärkte immer schwerer, den Fokus auf gesunde Ernährung zu halten. Aus dieser Entwicklung ergibt sich auch die logische Konsequenz, dass fettreduzierte Ernährung nun das neue Distinktionsmittel ist, oftmals gepaart mit weiteren Entwicklungen zum Thema healthy food und einem sportiven Lifestyle.

Du bist, was du isst

Doch zurück zum Fleisch und zu einer der ersten Fragen, die meist gestellt werden, wenn die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema zur Sprache kommt: »Wie viel Fleisch wird in Deutschland im Schnitt konsumiert?« Gemeint ist meist die Verzehrmenge pro deutschem Kopf und Jahr. Die Reaktionen auf die Antwort sind oftmals ein erstaunter Blick und Sätze wie: »Oh, das ist ganz schön viel.« Und rein sachlich gesehen sind 59,5 Kilogramm im Jahr 2019 tatsächlich nicht wenig, zumal der Pro-Kopf-Verbrauch von Fleisch im selben Jahr bei 87,8 Kilogramm lag 7 – doch woran wird das gemessen?

Lassen wir die Forscherbrille auf und gucken in der Geschichte zurück: Im Vergleich zum Vorjahr sank der Fleischverzehr pro Person im Jahre 2019 mit 59,5 Kilogramm um 2,5 Prozent. Und schaut man rund 500 Jahre zurück, zeigt sich, dass die derzeitigen Werte im Vergleich rückläufig sind: Für das ausgehende Mittelalter gehen einige Forscher tatsächlich von bis zu 100 Kilogramm Fleisch pro Kopf und Jahr aus. Ob diese Zahl tatsächlich so haltbar ist, bleibt fraglich. Starke Schwankungen des Fleischkonsums nach Einkommen, Wohnort und -region sind zumindest anzunehmen. Schaut man dagegen auf besser verifizierbare Zahlen, etwa für das beginnende 19. Jahrhundert mit etwa 15 Kilogramm pro Kopf im Jahr, wird deutlich, dass der Fleischkonsum insgesamt in der Geschichte starken Schwankungen unterliegt. Klimatische Bedingungen, gesellschaftliche Prozesse sowie politische Entscheidungen tragen und trugen hierzu maßgeblich bei. Dabei avancierte Chicago im 19. Jahrhundert mit seinen Union Stock Yards zur weltweit führenden Stadt in der Fleischindustrie. Eine Entwicklung, die die Auswirkungen der Industrialisierung auf Fleischkonsum und -produktion verdeutlicht. Eine fast schon fordistisch anmutende Schlachtung am Fließband, neue Kühlmöglichkeiten und ausgebaute Transportwege ließen Chicago dabei zu einem Vorbild der Schlachtindustrie heranwachsen. Upton Sinclair gibt in seinem 1905 erschienenen Roman The Jungle ausführlich Einblick in die Schlachtungsbedingungen vor Ort.

Schließlich fanden die industrielle Schlachtung und damit zusammenhängende, nun industriell geprägte Wertschöpfungsketten den Weg auch in die Städte Europas. Geschlachtet wurde immer weniger von Metzgern in Hausschlachtung oder im eigenen Betrieb. Es entstanden große Schlachthöfe, meist verkehrsgünstig an der Bahn und am Rand der Städte gelegen. Kulturhistorisch zeigt sich hier, wie die Schlachtung, und somit der Tod, immer stärker aus den Städten selbst und somit auch aus dem Alltag der Menschen verschwand. Mit dieser Verdrängung ging eine gewisse Tabuisierung des Themas einher, deren Auswirkungen nicht nur bis heute auf den Tellern landen, sondern zu denen sich, gerade aktuell, auch entsprechende Gegenbewegungen bilden. Ethical butchers, ganzheitliche Fleischverwertung from nose to tail oder die Rückbesinnung auf regionale und saisonale Küche seien an dieser Stelle nur als einige Formen genannt.

Die bereits angemerkten Schwankungen des Fleischkonsums zeigen sich jedoch auch und trotz Chicagoer Produktionsvorbild im 20. Jahrhundert in Europa: Führte die fortschreitende Industrialisierung zunächst zu einer Zunahme fleischlicher Nahrung, ließen Kriegs- und Notzeiten diese Entwicklung zwischenzeitlich wieder einbrechen. Dem Wunsch nach dem Verzehr von Fleischprodukten konnte dann in den Nachkriegsjahren in starkem Maß nachgekommen werden und erreichte mit ca. 82,5 Kilogramm Fleisch pro Kopf und Jahr seinen vorläufigen Höhepunkt in den 1970er-Jahren. Entgegen oft geäußerter, anderer Annahmen, wir würden uns derzeit auf dem fleischlichen Ernährungshöhepunkt befinden, zeigt sich anhand dieser wenigen Zahlen zum einen, dass dem nicht so ist, und zum anderen, dass der menschliche Fleischkonsum im Lauf der Jahrhunderte, durch äußere Faktoren verursacht, einem anhaltenden Wandel unterworfen ist. Fleischkonsum kann somit als Wohlstandsindikator gesehen werden und – damit unmittelbar verbunden – auch als Distinktionsmittel.

It’s the end of the meat as we know it?

Und nun? Besinnen wir uns unseres Fleischkonsums, indem wir über die Benennung von Fleischersatzprodukten diskutieren? Ändern wir unsere Einkaufslisten, weil wir uns jederzeit per Internet über einen gesunden Lebensstil informieren können? Oder versuchen wir, das Fleisch für den eigenen Konsum wieder selbst zu halten, zu schlachten und im Sinne einer umfassenden Resteverwertung zuzubereiten? Wohl kaum. Zumindest führt die Umsetzung nur einer einzigen dieser – zugegebenermaßen recht provokanten – Fragen nicht zu einer bewussteren Ernährung im Sinne einer Berücksichtigung ethisch korrekter Tierhaltung unter Miteinbeziehung ökologischer Überlegungen sowie des fairen Handels.

Dennoch bleibt es durchaus relevant, diese Fragen zu stellen, die Bewegungen anzustoßen und so zu Prozessen beizutragen. Denn das Konglomerat all dieser sich daraus ergebenden Entwicklungen wird vielleicht in einigen Jahrzehnten rückblickend analysiert und vielleicht auch in einem Beitrag wie diesem behandelt. Das Ergebnis unserer heutigen Entscheidungen in Bezug auf unseren Fleischkonsum wird sich somit in der Kulturbedeutung von Fleisch als Nahrungsmittel niederschlagen, wie es schon die Entscheidungen unserer Vorfahren auf die Entwicklungen taten, die wir heute mit Abstand betrachten und in Teilen bewerten können. Es handelt sich tatsächlich um »the end of the meat as we know it«. Doch karnivore Krisen und der menschliche Umgang damit sind kein Neuland. Das stete Wechselspiel soziokultureller Kontexte bringt auch hinsichtlich des Fleischverzehrs, dessen Diskursen, Aushandlungen und Akteuren, und der ihm immanenten Wertschöpfungskette Veränderungen mit sich. Denn, wie schon Heraklit erklärte, ist ja bekanntlich alles im Wandel – unser Umgang mit Fleisch allemal.

Anmerkungen

1 Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 922/72, (EWG) Nr. 234/79, (EG) Nr. 1037/2001 und (EG) Nr. 1234/2007.

2 Europäisches Parlament: »EU-Agrarpolitik soll umweltfreundlicher, gerechter und krisenfester werden«, Pressemeldung vom 23.10.2020, https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20201016IPR89542/eu-agrarpolitik-soll-umweltfreundlicher-gerechter-und-krisenfester-werden

3 Vgl. zur Kulturgeschichte der Ernährung vor allem Gunther Hirschfelder: Europäische Esskultur. Eine Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute. Frankfurt am Main 2005.

4 Henriette Davidis: Praktisches Kochbuch. Zuverlässige und selbstgeprüfte Recepte der gewöhnlichen und feineren Küche. Practische Anweisung zur Bereitung von verschiedenartigen Speisen, kalten und warmen Getränken, Gelees, Gefrornem, Backwerken, sowie zum Einmachen und Trocknen von Früchten, mit besonderer Berücksichtung der Anfängerinnen und angehenden Hausfrauen. Bielefeld 1845.

5 Henriette Davidis: Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche. Mit besonderer Berücksichtung der Anfängerinnen und angehenden Hausfrauen neu bearbeitet und herausgegeben von Luise Rosendorf. Bielefeld 1887.

6 Vgl. Deutsche Gesellschaft für Ernährung: »DGE empfiehlt: Auf Fettmenge und -qualität achten. Fettzufuhr spielt Rolle für die Prävention von Krankheiten«, Pressemeldung vom 24.03.2015, https://www.dge.de/presse/pm/dge-empfiehlt-auf-fettmenge-und-qualitaet-achten/#:~:text=Die%20evidenz-basierte%20Leitlinie%20%E2%80%9EFettzufuhr%20und%20Pr%C3%A4vention%20ausgew%C3%A4hlter%20ern%C3%A4hrungsmitbedingter,Metabolisches%20Syndrom%2C%20koronare%20Herzkrankheit%2C%20Schlaganfall%20sowie%20Krebskrankheiten%20hat

7 Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft: »Nach vorläufigen Zahlen ist der Außenhandel in und aus der EU mit Fleisch, Fleischwaren und Konserven für 2019 rückläufig«, https://www.bmel-statistik.de/ernaehrung-fischerei/versorgungsbilanzen/fleisch/

Kursbuch 204

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