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1913 – Vor dem Krieg Die Stimme aus dem Jenseits

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VON SABINE TRINKAUS

Im letzten Moment wich der Chauffeur der Droschke aus, die in halsbrecherischem Tempo aus der Einfahrt zum Bellevue bog. Der Motor erstarb mit einem Röcheln. Der Fahrer – Gustav, so hatte er sich eben vorgestellt, als er Adam Crugherr und seine Gattin Elvira in Köln am Hauptbahnhof abgeholt hatte – stieß einen leisen Fluch aus, wandte dann den Kopf. »Madame, Monsieur, ich bitte um Entschuldigung.«

»Nichts passiert, mein Lieber.« Adam nickte ihm beruhigend zu, während sich seine Gattin Elvira immerhin zu einem schwächlichen Lächeln hinreißen ließ. Seit sie am Morgen in Koblenz in die Eisenbahn gestiegen waren, hatte sie kaum ein Wort verloren. Ein unbeteiligter Beobachter hätte das möglicherweise den Strapazen der Reise angelastet, denn Elvira war von zarter und feinnerviger Konstitution. Adam hingegen wusste es besser. Seine Gattin befand sich seit Wochen im Zustand der latenten Katatonie. Und er, Adam, war am Ende seiner Kraft und Weisheit. Dabei war es eben jene nervöse Empfindsamkeit, die ihn einst so zu ihr hingezogen hatte. Wie eine delikate Lichtgestalt war sie ihm erschienen, Elvira, ehemals noch Comtesse von Beisenstein. So exotisch, zart und flirrend, so ganz anders als alle Frauen, die er vor ihr getroffen hatte, dort in der rheinischen Provinz, in der er als wohlhabender Erbe eines florierenden Brauereibetriebs durchaus als gute Partie gegolten hatte. Er hatte sein Glück kaum fassen können, als sich Elvira bereit erklärt hatte, die nächste Frau Crugherr zu werden. Und er hatte sich und ihr geschworen, sie zur glücklichsten Frau der Welt zu machen.

Während Gustav den Motor wieder zum Leben erweckte und in gemessenem Tempo die Auffahrt zum Bellevue hinaufrollte, musterte Adam seine Gattin heimlich. Das Sonnenlicht, das durchs Wagenfenster fiel, ließ ihr weißes Madonnengesicht fast durchsichtig erscheinen. Zarte blaue Äderchen schimmerten an ihren Schläfen; die übergroßen, traurigen Augen glänzten fiebrig. Ein leiser Seufzer entrang sich seiner Brust.

Gustav bremste erneut, wieder ein wenig zu abrupt, diesmal, um eine Kollision mit zwei Fahrrädern zu verhindern, auf die sich ein junges Paar vor dem prächtigen Portal just schwang, um fröhlich klingelnd in Richtung Park zu verschwinden. Gustav verbot sich jeden Anflug von Neid angesichts dieser Lebensfreude und Vitalität. Er konzentrierte sich lieber auf den livrierten Herren, der nun den Wagenschlag öffnete und Elvira aus dem Sitz half, bevor er beflissen um das Automobil herumeilte, um auch Adam beim Aussteigen behilflich zu sein. Dann warf er Gustav, der sich aus seinem Fahrersitz geschält hatte und nun wohlig die langen Storchenbeine reckte, einen tadelnden Blick zu. »Parbleu!«, zischte er. »Diese Fingernägel, dégoûtant! Und dieser Fleck, Gustav, wie oft habe ich dir gesagt, dass du diesen furchtbaren Fleck entfernen lassen musst, bevor du unsere Gäste …«

Eine sonore Stimme übertönte sein Schimpfen. »Adam, mon cher ami!« Monsieur Gisbert kam mit ausgebreiteten Armen die breite Freitreppe hinunter. »Wie lange ist das her?«

Lange, dachte Adam, während er sich von Gisbert umarmen und kräftig auf den Rücken klopfen ließ. Sehr lange, und doch war Gisbert ein Grund, dass Adam das Bellevue gewählt hatte. Sie kannten sich eigentlich eher flüchtig, waren sich in einer Zeit begegnet, in der sie beide noch grün hinter den Ohren gewesen waren. Aber Gisbert hatte einen tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen. Man traf schließlich nicht alle Tage einen so vortrefflichen Mann, feinsinnig und gebildet, der schon in jungen Jahren fließend in mehreren Sprachen zu parlieren vermochte, außerordentlich musikalisch war und dessen Talente und Klugheit zudem von Herzenswärme und einem trefflichen Humor aufs Feinste ergänzt wurden. Ja, wenn es irgendjemanden gab, den Adam bei der heiklen Mission, in der er unterwegs war, gern in seiner Nähe wissen wollte, dann war es Gisbert, an den der Livrierte, der eben Gustav gescholten hatte, nun ein tadelndes Zungenschnalzen richtete.

Gisbert schlug sich in gespielter Verzweiflung die Hand vor die Stirn. »Mein braver Mathis, du hast völlig recht!«, rief er aus. »Wo bleiben nur meine Manieren?« Er wandte sich an Elvira, die wie eine Marmorstatue dastand und mit somnambulem Blick an der prächtigen Hotelfassade hochsah, auf deren Zinne sich eben ein Rabe niederließ. »Pardonnez-moi, Madame! Sie müssen die Comtesse von Beisenstein sein!« Er griff nach der Hand, die sie ihm zögerlich hinstreckte, und küsste sie galant. »Nun, natürlich, Frau Crugherr. Enchanté, Madame. Sie sind, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, noch schöner, als man überall erzählt. Mein Freund Adam ist wahrlich ein Glückspilz!«

Adam verkniff sich tapfer den nächsten Seufzer. Zu seinem Erstaunen erwiderte Elvira indes Gisberts Lächeln und tat ihren entzückenden kleinen Mund auf. »Merci, Monsieur«, hauchte sie und strich sich eine der blonden Locken, die den grazilen Schwanenhals umspielten, nach hinten. »Ich bin … entzückt, hier zu sein.« Wieder wanderte ihr unsteter Blick hinauf zu dem schwarzen Vogel. »Ich bin … ganz absonderlich tief entzückt.«

»Das, äh, das freut mich.« Gisbert wirkte kurz verwirrt. Nicht halb so verwirrt wie Adam allerdings, denn es war Wochen her, dass Elvira derart Anteil an ihrer Umgebung genommen hatte. Er gestattete sich einen kurzen Moment der Hoffnung. Ja, er tat das Richtige. Und alles würde gut werden, ganz gewiss.

Monsieur Gisbert reichte Elvira den Arm und geleitete sie die Stufen hinauf in die Halle, in der sich das Sonnenlicht funkelnd in prächtigen Leuchtern brach. Elvira ließ sich auf einen der gestreiften Samtsessel sinken, während Gisbert zum Tresen eilte, rasch nach der filterlosen Zigarette griff, die dort im Aschenbecher vor sich hin qualmte, und einen tiefen Zug nahm, bevor er sich an Adam wandte. »Sie müssen entschuldigen, mein lieber Freund«, sagte er. »Es ging ein bisschen drunter und drüber in den letzten Tagen. Wir haben nämlich elektrisches Licht bekommen.« Er lächelte stolz. »Schon seit zwanzig Jahren gibt es die Gas-, Elektrizitäts- und Wasserwerke der Stadt Köln, aber erst jetzt sind wir an der Reihe. Moderner Komfort, unerlässlich heutzutage, aber derlei Dinge gehen natürlich mit einem gewissen Tohuwabohu einher. Das soll die Comtesse und Sie aber nicht irritieren. Ich habe die Kaisersuite für Sie reserviert, gerade gut genug für so geschätzte Gäste. Es ist alles bereit. Nicht wahr, Anna?«

Die letzten Worte waren an das Mädchen adressiert, das neben ihm aufgetaucht war. Es nickte, knickste kurz und trat dann ein Stück näher. »Es ist nur … die Kiste«, flüsterte sie deutlich vernehmlich. »Sie ist zu groß und zu schwer, ich konnte sie nicht vom Fleck bewegen, und ich hätte auch nicht gewusst, wohin damit …«

Kurz entglitten Gisberts Züge, aber er fand die Contenance schnell wieder. »Die Kiste, ach, das ist doch Nebensache. Leg einfach eine Tischdecke darüber«, wisperte er und wandte sich dann wieder an Adam. »Ein Tohuwabohu, wie gesagt! Die Gäste vor Ihnen sind ein wenig überstürzt abgereist. Aber ich versichere Ihnen, dass das keinerlei Inkommodation für Sie bedeutet. Wenn doch, zögern Sie nicht, mich das umgehend wissen zu lassen.«

»Oben, nicht wahr?«, mischte sich nun eine weitere Stimme ein. Adam zuckte zusammen. Elvira war aufgestanden und unbemerkt neben ihn getreten. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie Gisbert an. »Die Suite des Kaisers, ein Palast, ganz nah am Himmel. Man kann direkt ins Paradies schauen?« Sie wirkte erregt, auf ihren Wangen leuchteten rote Flecken. Sie hustete.

»Nun, Paradies, Palast …« Gisbert kratzte sich verlegen am Nacken. »Sagen wir einfach, es ist unsere schönste Suite. Und der Blick in den Park ist durchaus formidabel. Aber keine Sorge, unser Haus verfügt natürlich über einen Aufzug, Sie müssen sich also nicht mit Treppen quälen, Comtesse. Ah, da kommt schon Mathis!« Er deutete auf den Livrierten, der einen Jungen vor sich her durch die Halle scheuchte, der unter der Last der Koffer fast zusammenbrach. Hänschen warf einen sehnsüchtigen Blick auf den Lift. »Er wird Ihnen den Weg zeigen. Ich bin sicher, Sie werden alles zu Ihrer Zufriedenheit vorfinden.«

»Ich auch, oh ja, ich bin ganz sicher …« Elvira presste eine Hand auf ihren Busen und hustete erneut. Sie schwankte leicht.

Adam hakte sie eilig unter und wich Gisberts fragendem Blick geflissentlich aus. »Du bist gewiss schrecklich erschöpft von der Reise«, murmelte er. »Du solltest ein wenig ruhen.«

Elvira lächelte matt und nickte.

Ein Palast war die Suite natürlich nicht, aber der helle, weite Raum mit dem geschmackvollen Interieur wirkte einladend und gemütlich, und der Blick auf die gepflegte Parkanlage war tatsächlich ganz zauberhaft. Adam half Elvira zu dem breiten Bett, auf das sie sich seufzend sinken ließ. Seit Wochen hatte sie nicht so entspannt und gelöst gewirkt. Adam konnte sich keinen rechten Reim darauf machen. Und doch stärkte die wundersame Verwandlung seine Zuversicht.

Er nahm auf einem der zierlichen Sessel Platz und sah sich um. In einer Ecke des Raums entdeckte er die dubiose Kiste, von der das Mädchen eben gesprochen hatte, und gab Gisbert im Geiste recht – keine Inkommodation, ganz im Gegenteil. Bedeckt mit dem roten Samttuch wirkte das Ding, als gehöre es zur Einrichtung.

»Adam?« Er zuckte zusammen. Er konnte sich nicht erinnern, wann Elvira zum letzten Mal das Wort direkt an ihn gerichtet, seinen Namen ausgesprochen hatte. Er sprang auf, eilte zu ihr. »Was, meine Liebe, was kann ich für dich tun?«

»Ach, Adam, du guter, guter Mann«, hauchte sie. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich dir sehr dankbar bin. Du tust so viel für mich, all das hier! Und ich kann fühlen, dass etwas Großes bevorsteht.« Sie griff nach seiner Hand und presste sie kurz auf ihr milchweißes Dekolleté. »Spürst du, wie aufgeregt mein Herz pocht?«

Adam spürte es. Ihr Herz. Und auch seines, außerdem eine andere körperliche Regung, nicht unangenehm. Es war ewig her, dass sie ihm eine derart intime Geste gewährt hatte.

»Ich würde nun gern ein wenig ruhen, mein lieber Adam«, flüsterte sie. »Wenn du mich für eine Weile allein lassen könntest?«

»Natürlich, meine Liebste.« Adam führte zärtlich ihre feingliedrige Hand an die Lippen, küsste sie sanft und verließ dann den Raum.

Zu seiner Freude fand er Monsieur Gisbert an der Rezeption vor. »Adam, mein lieber Freund! Haben Sie sich gut eingerichtet? Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?«

»Ganz wunderbar«, erwiderte Adam. »Es gibt tatsächlich nur eins, das mir zum Glück noch fehlt …« Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn Anna, das Mädchen, stand plötzlich da, in der Hand ein Tablett, auf dem sich eine Karaffe nebst zwei Cognacschwenkern befand. »Ich dachte, die Herren möchten vielleicht eine Erfrischung zu sich nehmen.«

Adam sah sie verwundert an. Ein Cognac war genau das, was er sich gerade hatte wünschen wollen. Der Concierge nickte Anna wohlwollend zu und lächelte. Dann schenkte er großzügig ein. Sie stießen an. Der Cognac brannte angenehm in Adams Kehle. Als Gisbert ihm die Schachtel mit den Zigaretten hinhielt, griff er dankbar zu. Er gab sich einen Moment dem Wohlbehagen hin. »Es tut gut, hier zu sein«, sagte er dann, um das Schweigen zu brechen. »Aber sagen Sie, lieber Gisbert, was hat es denn nun auf sich mit der geheimnisvollen Kiste?« Nicht, dass es ihn sonderlich interessierte, er hatte andere Dinge im Kopf. Aber es schien ihm ratsam, das Gespräch zunächst in unverbindliche Bahnen zu lenken.

Gisbert winkte ab. »Ach, Plunder. Ägyptischer Plunder, nichts von Interesse wahrscheinlich.« Er zögerte. »Sie wissen ja, wie verrückt die Europäer nach diesem Zeug sind. Ich persönlich halte es offen gestanden für eine Schande, dass man eine so außerordentliche Kultur entwürdigt, indem man fragwürdige Artefakte an sammelwütige Möchtegern-Wissenschaftler verramscht.« Er schüttelte missbilligend den Kopf. »Bleibt zu hoffen, dass ein solches Schicksal anderen Hochkulturen erspart bleibt. Nicht auszudenken, dass der Schatz von Karthago …«

Adam konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Geschichte war immer Gisberts Steckenpferd gewesen. Schon in seiner Jugend hatte er so lebhaft über Hannibal und Alexander den Großen referieren können, dass Adam ihm einst sogar vorgeschlagen hatte, doch einmal einen Roman über historische Begebenheiten zu verfassen. Natürlich hatte Gisbert lachend abgewinkt. Ein zu windiges Geschäft sei diese Schreiberei doch, zudem furchtbar brotlos. Heute schien ihm der Sinn aber nicht nach historischen Exkursen zu stehen, denn er schwieg, zündete sich eine weitere Zigarette an und musterte Adam nachdenklich. »Ich möchte nicht indiskret sein, mein lieber Freund …«, murmelte er. »Aber gestatten Sie mir bitte die Frage – was ist es, das Sie so bekümmert?«

Adam spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. »Ist es … so offensichtlich?« Er trank einen großen Schluck Cognac.

Gisbert schenkte ihm ein warmes Lächeln. »Nun, ein guter Concierge muss ein feines Gespür für die Befindlichkeiten seiner Gäste haben. Und es ist nicht zu übersehen, dass die Comtesse sich nicht in der allerbesten Verfassung befindet. Sie hat es auf der Brust, nicht wahr?«

Adam seufzte. »Ja, ja. Das auch. Aber unser guter Hausarzt hat mir versichert, dass diesbezüglich kein Anlass zur Sorge besteht.« Er fing Gisberts zweifelnden Blick auf. »Nun, Frauen ihrer Wesensart sind nun einmal anfällig für derlei Leiden. Aber wir waren erst kürzlich in Davos. Die dortige Liegekur ist Elvira ganz ausgezeichnet bekommen; ihre Lunge hat sich vortrefflich erholt.«

»Gut«, murmelte Gisbert zweifelnd. »Das ist gut.«

Adam nickte beflissen. Dabei war der Aufenthalt in Davos möglicherweise der schlimmste Fehler gewesen, den er je begangen hatte. Denn dort hatte das Unheil ja seinen Lauf genommen. Dort war Elvira erst in Kontakt gekommen mit dem ganzen Hokuspokus.

Gisbert schenkte Cognac nach.

»Elviras Problem ist eher nervlicher Natur.« Adam zögerte. »Sie ist derzeit ein wenig überspannt.« Er trank einen großen Schluck. Verfluchte innerlich diese russische Hexe, dieses Medium, das Elvira in der Schweiz kennengelernt hatte.

»Sie braucht viel Ruhe«, plapperte er weiter, während er nach Worten suchte, um Gisbert die Dinge zu erklären, für die er selbst kaum eine Erklärung hatte. Er hatte Elviras erwachendes Interesse für Spiritismus anfangs für eine typisch weibliche Grille gehalten. Darum hatte er ihr nach der Rückkehr aus Davos auch leichtfertig gestattet, mit einem weiteren Medium zu korrespondieren, es dann sogar zu sich einzuladen. Fräulein Matzbach war eine ältliche Dame von mindestens fünfzig, recht belesen, ein wenig verfressen, zuweilen sarkastisch. Aber ihre Gesellschaft schien Elvira wohlzutun. Darum hatte Adam sich weder an ihrer Anwesenheit im Hause noch an den täglich stattfindenden Séancen gestört. Bis Elvira sich zu verändern begann. Sie war stiller geworden, immer bleicher, hatte kaum noch einen Blick oder ein Wort für ihn gehabt. Wie eine Schlafwandlerin war sie durch die Villa geirrt, wenn sie nicht gerade sehnsüchtig seufzend am Fenster saß und mit leerem Blick ins Nichts starrte. Mit jeder Séance war es schlimmer geworden. Mit jedem Tag war Adams Sorge gewachsen. Und darum hatte er irgendwann beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.

Wie aber hätte er Gisbert, seinem geschätzten Freund, von diesem Moment berichten können, an dem er vor der Tür des Salons gekauert und das Ohr ans Schlüsselloch gepresst hatte? Allein die Erinnerung führte dazu, dass eben dieses so heiß wurde, dass er unwillkürlich das Cognacglas dagegen drückte. Wie konnte er Worte finden für das, was er gehört hatte? Elviras Stimme und diese andere. Eine fremde Stimme, tief und sehr männlich, dazu absolut unerklärlich, befanden sich doch nur Fräulein Matzbach und Elvira im Salon. Allein der Gedanke, das wiederzugeben, was diese Stimmen geäußert hatten, trieb dem armen Adam die Schamesröte ins Gesicht. Elviras Seufzen, ihr verzücktes Säuseln. Ihren unsterblichen Geliebten hatte sie das geheimnisvolle Gegenüber genannt. Von verzehrender Sehnsucht gesprochen, den brennenden Wunsch nach körperlicher Vereinigung in unerhörten Details geschildert. Nein, es gab keine Worte für dieses Entsetzen und den Zorn, der ihn alsbald ergriffen hatte, als die Stimme die Liebesbeteuerungen seiner Gattin leidenschaftlich erwidert hatte. Dinge gesagt hatte, die jede verheiratete Frau empört hätte von sich weisen müssen.

Nicht einmal dem guten Gisbert gegenüber brachte Adam es über sich, das auszusprechen, woran es doch keinen Zweifel geben konnte: Seine wunderbare, unschuldige Elvira war vom rechten Wege abgekommen. Und dass sie sich nicht nach einem anderen Mann verzehrte, sondern nach einem Geist, machte die Sache nicht wirklich besser.

Adam griff nach dem Glas, das Gisbert erneut gefüllt hatte.

Natürlich hatte er Elvira zur Rede gestellt. Sie war zusammengebrochen. Hatte schrecklich geweint. Sie wisse, dass er, Adam, sie liebe. Sie sei seine Frau, nehme ihr Eheversprechen ernst, hatte sie beteuert. Aber das, was sie da heimsuche, sei so stark, so mächtig, dass sie sich nicht wehren könne. Ein Wesen, das nicht von dieser Welt war. Eine Liebe, die sich den Zeiten enthob. Sie hatte von früheren Leben gefaselt, von Inkarnationen und diesem Gefährten, der sich in einer anderen Welt nach ihr verzehrte. Sie sei machtlos gegen sein Werben, zumal der Geist sie mittlerweile nicht nur in den Séancen berühre.

An dieser Stelle hatte Adam das Gespräch abgebrochen. Er war aus dem Raum gestürmt, direkt ins Zimmer von Fräulein Matzbach, um sie zur Rede zu stellen. Das ältliche Fräulein hatte sich bestürzt gezeigt, aber lebhaft seine Unschuld beteuert. Sie sei ja nur, was sie eben sei – ein Medium, von daher nicht wirklich anwesend bei den Séancen, wenn sie in Trance falle, ihr Körper nurmehr ein Gefäß und eine Stimme für den Geist, der sich zu manifestieren wünschte. Und ja, sie sei spirituell begabt, aber keinesfalls in der Lage, sich einer derart mächtigen Präsenz entgegenzustellen, sie in die Schranken zu weisen oder gar zu bannen.

Adam hatte sie aus dem Haus geworfen. Und heimlich gehofft, dass der Spuk so von selbst ein Ende finden würde.

Diese Hoffnung hatte sich allerdings nicht erfüllt. Elvira war von Tag zu Tag durchsichtiger geworden. Sie schien ihm und der Welt völlig zu entgleiten. Und spätestens, nachdem Adam sie erwischt hatte, wie sie nachts aus dem gemeinsamen Schlafzimmer schlich, somnambul auf die Chaiselongue im Salon sank und … Dinge tat. Dinge! Die Adam gesehen hatte, die er aber unter keinen Umständen je irgendwem hätte mitteilen können oder wollen. Seine Elvira, unschuldig und rein! Nicht bei sich, in Trance, ja, ganz offensichtlich, aber das machte es ja umso schlimmer! Spätestens nach diesem Anblick war Adam klar geworden, dass sich das Problem nicht von selbst lösen würde.

In seiner Verzweiflung hatte er sich noch einmal an Fräulein Matzbach gewandt. Das Medium war ihm zum Glück nicht mehr gram gewesen, sondern voller Mitgefühl. Es hatte ihm geraten, Kontakt mit einer gewissen Madame Baltazár aufzunehmen. Die Ungarin sei eine Spiritistin von Weltruhm, ein überaus starkes Medium, und logiere zudem derzeit in Köln. Wenn es jemanden gab, der Elvira von dem unseligen Geist befreien konnte, dann sei es gewiss Madame Baltazár.

Adam hatte der Dame geschrieben. Er hatte ihr den Sachverhalt erläutert. Die nachfolgende Korrespondenz hatte gezeigt, dass die Sache weder billig noch einfach werden würde. Aber Adam war bereit, nach jedem Strohhalm zu greifen. Und darum waren sie hier. Morgen würde sie kommen. Madame Baltazár hatte sich bereit erklärt, sie im Bellevue aufzusuchen. Und das zu tun, was nun eben getan werden musste, um Elvira aus dem schrecklichen Bann zu befreien.

Adam seufzte. Er schluckte. Nein. Er konnte niemandem davon erzählen. Nicht einmal Monsieur Gisbert, der jetzt nachdenklich lächelte und langsam nickte. »Ich verstehe«, murmelte er.

Adam zuckte zusammen. Er klang wirklich, als verstünde er. Hatte er etwa seine, Adams Gedanken gelesen? Verdammt, er wurde noch wahnsinnig über all dem Gespensterunfug! Es reichte! Es reichte wirklich. Er konnte es kaum erwarten, Madame Baltazár zu empfangen. Diesmal würden ihn keine zehn Pferde davon abbringen, an der Séance teilzunehmen. Und wenn dieser Wüstling auftauchte, würde er ihn beim Ektoplasma packen und dahin schicken, wo er hingehörte. Ja, Adam würde kämpfen. Um seine Ehre, seine Ehe, um das Glück seiner kostbaren Elvira.

»Ein zauberhaftes Mysterium, das sind sie wohl, die Damen.« Gisbert zündete sich eine weitere Zigarette an und lächelte. »Als Freund und Concierge verbietet es sich, weiter in Sie zu dringen, mein werter Freund. Aber was immer auch kommen mag, Sie können auf mich zählen, genau wie auf alle anderen in diesem Hause. Und natürlich auf unsere Diskretion.«

»Ich weiß.« Adam lächelte dankbar. »Das weiß ich, mein lieber Gisbert.« Er fühlte sich sonderbar getröstet, dabei ein wenig benommen. Möglicherweise hatte er dem ausgezeichneten Cognac zu entschlossen zugesprochen. Er zog seine Uhr aus der Westentasche, warf einen Blick darauf und erschrak. »So spät schon! Ich sollte dringend nach Elvira schauen!«

Er fand sie wach, aufrecht im Bett sitzend. Ihr Wangen schimmerten rosig. Sie hatte lange nicht so wohl ausgesehen. Das verklärte Lächeln, das um ihre Lippen spielte, verschwand allerdings, sobald sie Adam bemerkte, wich einem fast schuldbewussten Ausdruck.

Adam ignorierte das. »Hast du dich ein wenig ausruhen können, mein Liebling?«

Sie nickte.

»Das ist gut. Fühlst du dich kräftig genug, um hinunter zum Abendessen zu gehen? Hast du überhaupt Appetit?«

Sie schwang die schlanken Beine mit Elan aus dem Bett. »Appetit würde ich es nicht nennen«, verkündete sie. »Eher einen Bärenhunger.«

Sie tänzelte an ihrem fassungslosen Gatten vorbei. »Ich mache mich nur rasch ein wenig frisch«, verkündete sie und verschwand im Badezimmer.

Das gemeinsame Essen erschien Adam wie ein Traum. Der prächtige Speisesaal, das glänzende Silber, das feine Porzellan, der Kerzenschein – all das verblasste neben Elviras leuchtendem Gesicht. Während junge Kellner, streng überwacht von Mathis, beflissen hin- und hereilten, um die Wünsche der Gäste zu erfüllen, konnte Adam kaum den Blick von seiner Frau wenden, die mit erstaunlichem Appetit die Schildkrötensuppe löffelte, sich dann mit freudiger Hingabe dem gebratenen Fasan widmete und schließlich gar noch zwei Portionen des geeisten Obstsorbets, das zum Dessert gereicht wurde, verzehrte. In seiner glücklichen Irritation sprach Adam indes kräftig dem ausgezeichneten Wein zu, derweil sich in seinem Herzen Hoffnung und Zuversicht in glücklichem Reigen einten.

Es war daher nicht verwunderlich, dass er nach dem Essen von einer rechtschaffenen Erschöpfung ergriffen wurde und darum Elviras Wunsch, sich alsbald zur Ruhe zu begeben, nur allzu gern nachkam.

Bald lagen sie in weichen Kissen. Adam hörte, wie Elvira sich unruhig herumwälzte. Kurz erwog er in trunkenem Übermut, ihr vorzuschlagen, das zu tun, was nun einmal Sinn und Zweck einer Ehe war. Aber er wollte das Glück nicht überstrapazieren, außerdem sprachen Cognac und Wein deutlich gegen derlei Vorhaben. Darum schloss er die Augen und fiel in einen tiefen Schlummer.

Was ihn geweckt hatte, hätte er später nicht mehr sagen können. Das Bett neben ihm war leer. Suchend sah er sich um, erblickte Elvira im bleichen Licht des Mondes, das durchs Fenster fiel. Sie kniete vor der Kiste, ihre Hände umklammerten das samtene Tuch und zogen es mit einem Ruck herunter.

»Elvira?« Adams Stimme war heiser. »Was tust du da?«

Sie schien ihn gar nicht zu hören. Sie hob beide Arme. »Geliebter«, deklamierte sie. »Endlich, endlich ist es soweit!«

Schlagartig war Adam hellwach. Er sprang aus dem Bett und erreichte sie, als sie eben den Deckel der Truhe hochgestemmt hatte.

»Elvira, Liebste, das kannst du nicht tun. Diese Dinge gehören uns doch nicht …« Angesichts der bizarren Situation klangen seine Worte auch in seinen Ohren sonderbar unpassend, gleichsam aber unumgänglich, begann Elvira doch nun, mit beiden Händen Holzwolle aus der Kiste zu zerren und hinter sich zu werfen.

»Er gehört mir«, rief sie. »Und ich gehöre ihm!« Ihre Wangen schienen zu glühen, ihre Stimme zitterte vor Erregung. Bald flogen Statuetten und Skarabäen durch die Luft. Adam versuchte, die möglicherweise kostbaren Stücke vor Schaden zu bewahren. Das lenkte ihn immerhin von Elviras keuchendem Atem ab, der ihm einen Schauer über den Rücken jagte. »Gleich«, keuchte sie geisterhaft. »Gleich sind wir vereint, mein Geliebter!« Sie zog einen länglichen Gegenstand vom Grund der Kiste und umschlang ihn mit einem verzückten Schrei. »Mein König, mein geliebter Pharao!« Sie versenkte das Gesicht in die gelblichen Binden, die einen muffigen Geruch verströmten. Stöhnte ekstatisch, während sie das Ding auswickelte. Gelähmt vor Entsetzen sah Adam den vertrockneten Mumienarm, der sich nun enthüllte und den sie umgehend an ihre Brust presste, um ihn gleich danach wieder anzuheben und mit leidenschaftlichen Küssen zu bedecken. Ihm wurde übel, seine Knie wurden weich. Er barg das Gesicht in den Händen. Erst als sie trocken zu husten begann, vermochte er es, den Blick zurück auf die schaurige Szene zu lenken. Sie stöhnte, hustete, sie seufzte, hustete noch mehr, liebkoste dabei den ledernen, widerwärtigen Arm, als sei er alles, was sie je auf dieser Welt begehrt hatte. Adams Gedanken rasten hilflos. Wie gern hätte er ihr das Ding entrissen, es durchs Fenster geschleudert, hinaus in den Park. Aber er konnte es nicht, denn so unheimlich und bizarr die Szene auch wirkte, so genau sah er in Elviras Gesicht doch auch das, wonach er sich so sehr gesehnt hatte. Reines, unendliches Glück! Ja, seine Frau war glücklich, auch wenn sie nun der nächste Hustenkrampf heimsuchte, so heftig, dass sie sich krümmte und zu Boden sank.

Das war zu viel für Adam. Er rannte aus dem Zimmer, wollte um Hilfe rufen, aber er brachte nur ein Krächzen zustande.

Dennoch tauchte umgehend Gisbert auf. »Mein lieber Adam, um Himmels willen, was ist geschehen?«

Adam gab ein gurgelndes Geräusch von sich und deutete auf die Tür zur Kaisersuite.

Schon während Monsieur Gisbert neben Elvira kauerte und nach einem Puls suchte, war ihm klar, dass diese Hoffnung wohl vergeblich war. Der große Blutfleck, der die Brust ihres Nachthemds rot verfärbte, sprach für sich und war weitaus erschreckender als der Mumienarm, den die offensichtlich Verblichene nach wie vor fest umklammerte. Er hörte Adam aufschluchzen.

»Ist sie … o Gott, sie ist doch nicht …«

Der Concierge erhob sich. »Ich fürchte doch, mein armer, lieber Freund. Es tut mir so leid.« Er schloss Adam in die Arme. Und während er dort schluchzte, fragte sich Gisbert, ob es doch angebracht gewesen wäre, die Zweifel, die er am Nachmittag gehegt hatte, laut auszusprechen. Zweifel an der Kompetenz des Crugherrschen Hausarztes nämlich, der offenbar nicht imstande war, eine galoppierende Schwindsucht zu diagnostizieren, auch wenn sie derart offensichtlich war. Ob der Blutsturz, der nun die zarte Lebensflamme der Comtesse ausgepustet hatte, durch die Aufregung verursacht worden war oder ohnehin unvermeidlich gewesen wäre, würde wohl immer ein Geheimnis bleiben. Vielleicht waren es aber auch hochgiftige Pilze, die an Mumien hafteten und für Personen mit einer schwachen Lunge lebensgefährlich waren. All das spielte in diesem Moment allerdings auch keine Rolle, denn es stand fest, dass der armen Elvira nicht mehr zu helfen war.

Obwohl Gisbert kein sonderlich abergläubischer Mann war, beschloss er in diesem Moment, die Kaisersuite nie wieder an junge Ehepaare zu vermieten. Er war als guter Concierge zwar in der Lage, mit derlei Kalamitäten fertig zu werden, aber in dieser Frequenz würden auch ihn derartig fatale Krisen mit Sicherheit auf Dauer überfordern.

»Nun hat er doch gewonnen!« Adams heiseres Flüstern riss ihn aus seinen Gedanken. »Er hat ihr den Arm gereicht, und sie ist mit ihm gegangen.« Er befreite sich aus Gisberts Umarmung und ging neben seiner Gattin in die Hocke. Sanft streichelte er ihre nun wieder so bleiche Wange. »Ich habe es nicht vermocht, dich glücklich zu machen, mein Herz.« Er schluchzte auf. »Dabei war das alles, was ich wollte. Aber jetzt, jetzt bist du es endlich.« Er wandte den Kopf, sah Gisbert an. »Schauen Sie«, flüsterte er und deutete auf Elviras totes Gesicht, auf dem tatsächlich ein verklärtes Lächeln lag. »Ich verspreche dir, dass ihr vereint bleibt, meine Liebste. Ich weiß noch nicht wie, aber ich werde nicht zulassen, dass man ihn dir wieder entreißt. Gisbert wird mir helfen. Gisbert wird eine Lösung finden. Nicht wahr, mein lieber, guter Freund?«

Der Concierge räusperte sich. »Nun«, sagte er. »Nun.« Er dachte daran, dass die Herausforderungen seines Berufs doch ganz anderer Natur zu sein schienen, als er geglaubt hatte. Er dachte an Lady Eva, die, sollte sie je zurückkehren, um diese unselige Kiste abzuholen, gewiss den Verlust eines vermutlich ohnehin nur mäßig wertvollen Mumienarms verschmerzen würde. Dann sah er Adam an, dessen Verzweiflung weit härtere Herzen als seines hätte brechen können.

Er lächelte. »Selbstverständlich, mein armer, lieber Adam. Überlassen Sie alles weitere getrost Ihrem Concierge.«

Zimmer mit Mord

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