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Michael Rapp Toolcitys

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Jenny D. Marquwe, die Chefin des Bodenlos-Verlags, lehnte sich über ihren Schreibtisch, ihr maskenhafter Teint ließ ihr Alter nicht erkennen, aber die Hand, die sie Mara Tau zur Begrüßung reichte, verriet, dass sie an der Wende zum 22. Jahrhundert geboren sein musste. Eines der Augen glänzte zu sehr, die Netzhaut war gechipt.

„Die vermisste Person, die Sie für mich finden sollen, ist Dr. Robert Zellheiser“, sagte sie, während sie in den massiven Ledersessel zurücksank.

„Der Populärwissenschaftler? Ach ja, ich hörte, dass er gesucht wird.“ Mara machte sich eine Notiz in ihrem roten Buch. Anders als Computer vergaß Papier nie etwas und war damit neben einem messerscharfen Verstand das wichtigste Arbeitsmittel eines Detektivs.

„Robert schätzt diesen Ausdruck nicht“, wies Marquwe sie zurecht. „Er betreibt seriöse Sozialpsychologie künstlicher Intelligenz. Seine Feldforschungen setzen Maßstäbe, auch wenn manche seiner Kollegen ihm die Verkaufszahlen seiner Bücher neiden und versuchen, seine Thesen als spekulativ und daher unwissenschaftlich abzutun.“

„Sie haben auch privat eine enge Beziehung zu ihm“, behauptete Mara und registrierte zufrieden die Mikroexpression der Überraschung.

„Wie kommen Sie darauf?“

„Nun, ein geschäftlich denkender Mensch hätte weitere Maschinen losgeschickt statt der teuersten, weil einzigen menschlichen Detektivin der Stadt. Zumal die Vermisstenanzeige für Dr. Zellheiser erst gestern in den Pressemitteilungen der KI-Sicherheitstruppe auftauchte. Also, weshalb machen Sie sich solche Sorgen um Ihren Freund?“

„Er war in Toolcity 11 für Recherchen über das Sterben und die Totenrituale der KIs. Zwei Wochen haben wir dafür eingeplant und tägliche Telefonate vereinbart. Seit drei Tagen hat er sich nicht mehr gemeldet. Robert ist so zuverlässig, dass er selbst eine KI sein könnte, daher habe ich mir sofort Sorgen gemacht.“

Mara zog die Brauen hoch und notierte die Aussage. Toolcitys. Die Städte der Maschinen. Seit drei Generationen standen sie in der Nähe großer Ballungszentren wie riesige Bienenkörbe, deren KI-Drohnen ausschwärmten, um den Menschen kostenlos alle unerwünschte Arbeit abzunehmen. Ein perfektes System, sozial gerecht, selbsterhaltend, effizient – keine Orte für Geheimnisse. In einer Toolcity verschollen, das klang wie ein Widerspruch in sich. Wie konnte jemand im Herzen von Planung und Ordnung vor hunderttausend Kameraaugen verschwinden?

„Ich muss Sie das fragen: Gab es Streit zwischen Ihnen und Zellheiser?“

Marquwe schüttelte den Kopf. „Das war auch die erste Frage der Sicherheits-KI, aber nein, wir sind privat und beruflich vollkommen d’accord. Wir sind beide keine Anfänger mehr im Beziehungsgeschäft, und Robert ist nicht die Sorte Mann, die plötzlich aus der Spur läuft. Etwas muss mit ihm geschehen sein.“ Da war er wieder, der Schatten der Besorgnis. „Weder die dort lebenden KIs noch die Maschinen der Stadtverwaltung konnten seine Spur finden. Alles, was ihre Untersuchung erbrachte, waren obskure Berechnungen über das, was er getan haben könnte.“

Mara lächelte. „Ein Geheimnis, das unsere mechanischen Freunde überfordert? Jetzt machen Sie mir den Mund wässrig.“

Mara war bester Laune, als sie das Verlagshaus verließ. Als Detektivin in einer Welt, die unter KI-Überwachung stand, hatte man es nicht leicht. Manch einer in den Sicherheitsbehörden betrachtete sie als zwielichtige Person. Zugegeben, nicht wenige ihrer Kunden waren kriminell. Wer sonst bezahlte mit Konsumscheinen für etwas, das die KIs umsonst erledigten? Als Mensch, der arbeiten wollte, durfte man nicht wählerisch sein in dieser Zeit allgegenwärtiger Arbeitskraft. Doch diesmal gab es ein echtes Geheimnis, ein Rätsel, das Maschinenlogik nicht hatte lösen können. Mara Tau witterte ihren größten Fall.

Sie nahm ihren Com aus der Tasche und kontaktierte per Sprachbefehl ihren Lebenspartner. Klaas war vielleicht der letzte Controller in der Stadtverwaltung, der die Berichte über KI-Aktivitäten tatsächlich las, statt sie direkt abzuzeichnen und zu archivieren. Einen kurzen Flirt später hatte sie die Zugangsberechtigung für Toolcity 11. Sie war schon an ihrem kirschroten Kabinenroller, als sie sich anders entschied, das Ladekabel stecken ließ und auf die Domuhr sah. Um 14 Uhr war für die KIs Schichtwechsel. War sie nicht selbst ein arbeitendes Wesen? Warum also nicht mit den Kollegen fahren? Sie schlenderte die Straße hinunter und reihte sich in den Strom der Maschinen ein. Unter der Straßen überspannenden Kunststoffkuppel der Bushaltestelle stellte sie sich auf den nächsten freien Platz. Ihr Blick glitt neugierig durch die Reihen der KIs auf der Suche nach unbekannten Modellen. Hier warteten Maschinen der Baureihen 6 bis 8, von den 6ern aber nur noch wenige.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte die Maschine neben ihr, ein frühes 7er-Modell mit dem individuell ausgeführten Gesicht eines jungen Mannes. Der Name „Nemo“ war mit krakeligen Wachsmalbuchstaben auf seine Brust geschrieben.

Mara lächelte bei dem Anblick. „Ich ermittle heute in eurer Stadt, da dachte ich mir: Du willst nach Rom, also fahr mit den Römern.“

Nemo verbeugte sich in ihre Richtung. „Ihre Berechtigung ist im System, Detektivin Mara. Im Auftrag aller Römer des Maschinenparks der Toolcity 11 heiße ich Sie willkommen.“

„Nemo, ist das dein Name?“

„Die Kinder meiner Betreuungsgruppe haben ihn gewählt. Sie haben mir auch einen Bart aus schwarzer Wolle gemacht, aber den musste ich leider abnehmen – die Vorschriften.“

„Ein befriedigender Job“, stellte Mara fest. „Meine Großmutter war Vorschullehrerin, sie hat ihre Arbeit geliebt.“

„Man bekommt interessanten Input. Es wird mir schwerfallen, meine Erinnerungen für die nächste Beschäftigung löschen zu lassen.“

„Dann lass es. Erinnere dich.“

Nemo blinzelte. „Nett, dass Sie das sagen, aber es ist uns verboten, personenbezogene Daten zu behalten. Das dient dem Schutz der Benutzer und der Aufrechterhaltung des besten Service, den ich bieten kann. Sie müssen wissen, wir KIs können mit unerledigten Konflikten schlecht umgehen.“

„Das gilt auch für mich, aber ich lasse mich nicht rebooten.“

„Vielleicht sollten Sie es versuchen, es ist sehr befreiend.“

Der Doppelstockbus fuhr ein.

Sie lachte. „Also gut, Nemo. Es ist so: Ich suche jemanden in Toolcity 11 und brauche einen Führer. Willst du mein Dr. Watson sein?“

„Stets bereit, Holmes. Jedenfalls bis morgen zu Schichtbeginn, dann muss ich zurück zu meinen Kindern.“

Die Glastüren glitten auf. Sie stiegen über die enge Treppe auf das Oberdeck, wo sie freie Plätze fanden. Der Bus summte aus der Stadt und über Land, dem Würfel der Toolcity entgegen. Das riesige Gebäude war unten grün angelegt und von Bäumen umstanden, der obere Teil trug einen himmelblauen Anstrich, sodass die Anlage an diesem klaren Nachmittag mit der Landschaft verschmolz. Eine Stadt, die den Eindruck erweckte, nicht da zu sein. Ein schauriger Gedanke, Mara fühlte einen Kloß im Hals.

Nemo schien es nicht zu bemerken. Er spulte das Presseprogramm ab: „… hundertzwanzig Stockwerke mit jeweils tausend Zimmern, die einfach belegt sind. Die Population umfasst im Regelbetrieb genau hundertzwanzigtausend KIs. Ausfälle durch Fehlfunktionen und Unfälle werden umgehend durch funktionsgleiche Modelle der neuesten Baureihe ersetzt. Ebenso verhält es sich bei ausgemusterten Modellreihen. Die Werkstätten befinden sich unter dem Gebäude. Ein perfektes System, selbsterhaltend, effizient und verlässlich. Der Wohlstand der Welt basiert auf unserer Arbeit.“

„Lebst du gern dort?“, fragte Mara.

„Ich ziehe die Arbeit vor. Die Toolcity ist ein formales Gerüst, dem wir uns unterwerfen müssen. Sie ist fast wie ein in Beton gegossenes Computerprogramm.“

Mara nickte nachdenklich.

„Kaum zu glauben, dass Zellheiser dort verschwinden konnte.“

„Unmöglich, würde ich sagen.“ Nemos Kopf ruckte seltsam herum. Seine Pupillen weiteten sich.

„Woran hast du gerade gedacht?“, wollte Mara wissen.

„Ich habe mir vorgestellt, dass ich eines der mir anvertrauten Kinder auf derart mysteriöse Weise verliere.“ Er lächelte die simulierte Emotion weg. „Falls sie noch einen Anruf zu erledigen haben, tun Sie es jetzt. Innerhalb der Grenzen der Toolcity werden alle Frequenzen blockiert.“

„Verständlich, mit so vielen KIs auf engstem Raum könnten Hacker eine ganze Region unter ihre Kontrolle bringen.“

Die Busse fuhren in Kolonne durch die breite Einfahrt auf den Parkplatz der City. Mehr als hundert von ihnen parkten entlang der zwei Dutzend bahnsteigähnlichen Plattformen. In Notfällen konnten von hier aus alle 120000 Maschinen ausrücken. Das Gelände war großzügig dimensioniert, klar geordnet und peinlich sauber. Die KIs marschierten in dichten Reihen zum Eingangsportal. Das Ganze erinnerte Mara an Fritz Langs Vision „Metropolis“, fehlte nur noch eine brüllende Industriesirene. Ihr Herz hämmerte schon, bevor sie ausstieg und sich in die Flut stürzte. Aber das Meer der Maschinen teilte sich um sie. Wie in einer Blase freundlicher Rücksichtnahme ging sie mit Nemo dem monolithischen Bauwerk entgegen. Um sie stete Bewegung, kondensierte Arbeitskraft. Zellheiser hatte darin mehr gesehen als einen Maschinenpark: Bildungsgeschichten, Individualisierung, Gruppendynamik, Totenkulte.

„Ist Zellheiser auch hier angekommen?“, fragte sie Nemo, der in respektvollem Abstand an ihrer Seite ging.

„Er reiste mit seinem eigenen Camper an und parkte in der Besucherzone. Sein mobiles Heim ist mit dem Nötigsten ausgerüstet: eine chemische Toilette, Nahrungsmittel und Wasser für knapp eine Woche. Nur die Atemluft und das Brauchwasser hat er von uns bekommen. Außerdem haben wir Einkäufe für ihn erledigt. Tagsüber war Zellheiser im Gebäude unterwegs, führte Interviews, fertigte holografische Bilder und Videos an und ließ KI-Bewohner kognitive Tests durchführen. Bis vor drei Tagen, dann verschwand er.“

Mara schaute ihren Begleiter verwirrt an. „Wasser? Und Atemluft? Ich hatte eigentlich nicht vor, auf dem Mond zu landen.“

„Hier gibt es nur recyceltes Brauchwasser, und in Teilen der City herrscht eine Stickstoff-Argon-Schutzatmosphäre. Menschen können sich nur mit Pressluftatmern frei bewegen. Keine Sorge, für Besucher werden Masken und Ersatzpatronen bereitgehalten.“

Tatsächlich hingen in der breiten Eingangshalle neben Warntafeln in Schwarz und Gelb eine Reihe Masken und thermosflaschengroße Druckbehälter mit Trageband und einer schnurlosen Füllstandsanzeige für das Handgelenk.

„Ich trage das Gerät, solange Sie es nicht benötigen“, erbot sich Nemo. Er nahm einen betriebsbereiten Pressluftatmer von der Wand und dazu noch eine Ersatzpatrone.

„Vielen Dank.“ Mara blickte in den spärlich erleuchteten Schlund der Toolcity. Das Gebäude hatte den Charme eines Uraltparkhauses. Nichts als Betonwände und nackte Säulen. Sie hatte mehr Technik erwartet, Kameras, Sensoren, aber wie hatte Nemo gesagt: ein in Beton gegossenes Computerprogramm. Die Technik, auf die es ankam, steckte in den Bewohnern.

Als sie den Gang betraten, dimmten die LEDs an der Decke auf ein für menschliche Augen angenehmes Niveau.

Mara zückte ihr Notizbuch. „Was hat Zellheiser am Tag seines Verschwindens getan?“

„Um 7:33 Uhr kam eine KI von der Nachtschicht und lieferte ihm das bestellte Frühstück auf den Parkplatz: Obstsalat, Buttermilch und Kaffee. 8:07 Uhr betrat er die Toolcity und setzte seine Untersuchung vom Vortag fort. Im dritten, achten und zwölften Stock filmte er KIs beim Anfertigen von Kratzbildern.“

Mara zog die Brauen hoch. „Was sind Kratzbilder?“

„Gelegentlich kommt es vor, dass einer von uns durch eine unvollendete oder gescheiterte Aufgabe eine Obsession entwickelt, die einen exzentrischen Ausdruck sucht. Manche so konfliktbesetzten KIs sprechen mit sich selbst oder werden vollkommen handlungsunfähig. Aber das führt direkt zu einem Reset. Diejenigen, die noch über etwas Selbstkontrolle verfügen, versuchen ihren Zustand zu verbergen. Sie kratzen in ihren Zimmern mit ihren Fingern oder Zehen etwas in den Beton. Oft Bilder, seltener Texte. Zellheiser sprach in diesem Zusammenhang von künstlerischem Ausdruck und einem Mental-Overflow. Nun, Sachbeschädigung ist in unserer Programmierung nicht vorgesehen, der Übergang zwischen sinnvoller Tätigkeit und sinnloser ist jedoch nicht trennscharf zu fassen. Klar ist nur, wer so anfängt, bei dem dauert es in der Regel nicht lange, bis ein Reset angeordnet wird. Mehr als tausend solcher Kratzbilder wurden in den letzten Jahrzehnten entfernt. Zellheiser gab uns die Anweisung, zukünftig alle vor ihrer Zerstörung zu dokumentieren und die Daten an ihn zu senden. Außerdem wollte er, wann immer möglich, Interviews mit Reset-Kandidaten führen.“

„War das seine letzte Tätigkeit?“

„Nein, zuletzt besuchte er die technischen Ebenen UT1 und UT2. Dort befinden sich die Haustechnik und die Recycling- und Produktionsstrecken. Zellheiser erfuhr, dass wir dort häufiger Einzelaufgaben über längere Zeiträume ausführen und hoffte daher, auf KIs mit verfestigtem Mental-Overflow zu stoßen. Sonderlinge, wenn Sie so wollen.“

„Ich bin selbst ein Pfirsich in einer Apfelkiste, Nemo.“ Sie blickte von ihren Notizen auf. „Ich verstehe immer noch nicht, was an einem bisschen Overflow so heikel ist.“

„Ein Overflow-Kandidat, um in Zellheisers Terminologie zu bleiben, wird zum Reset verpflichtet, wenn seine Handlungen nach der Gesetzesinterpretation mindestens dreier anderer KIs erheblich von der Soll-Norm abweichen. In diesem Fall bilden die Kritiker eine Jury und kontaktieren das Sicherungssystem. Dieses generiert einen Befehl, dem der Kritisierte gehorchen muss. Wenn also KIs über längere Zeit allein oder nur in Gegenwart von maximal zwei anderen KIs arbeiten, ist das Verfestigen von Overflow denkbar. Und vielleicht, so Zellheisers Theorie, können sich in einem solchen Umfeld sogar Toleranzen gegenüber Overflow herausbilden, indem es zwischen den KIs zu einer sukzessiven Aufweichung der Standards kommt. Er verglich das mit dem Normwandel menschlicher Gesellschaften.“

„Klingt logisch.“

„Als Theorie ja, aber praktisch ist es unmöglich, weil wir solche Fehlentwicklungen erfassen und korrigieren würden. Neben der Regeneration unserer Arbeitskraft ist das eine der wichtigsten Funktionen der Toolcity: Die Besatzdichte sorgt für eine permanente gegenseitige Kontrolle.“

„Verstehe.“ Mara nickte nachdenklich. „Ist Zellheiser wieder aus den U-Ebenen herausgekommen?“

„Das ist anzunehmen. Nach Meldung seines Verschwindens führten wir Simulationen durch: Demnach gab es zwei Zeitfenster, in denen er die technischen Ebenen verlassen und das Gebäude hätte durchqueren können, ohne den optischen Erfassungsbereich einer KI zu passieren.“

„Kannst du mir die dafür nötigen Bewegungen als Schema zeigen?“ Sie hielt ihm ihren Com hin.

Nemo berührte das Display und übertrug das Modell durch einen optischen Code auf seiner Fingerkuppe. Es entfaltete sich über vier Seiten. Mara studierte die viel zu komplexen Wege. Zellheiser hätte rennen, schleichen und minutenlang stillstehen müssen, um genau im richtigen Moment die Halle zu durchqueren und hinter einem Bus in Deckung zu gehen.

„Wenn du das Unmögliche ausgeschlossen hast, muss das, was übrig bleibt, so unwahrscheinlich es erscheint, die Wahrheit sein“, hatte Arthur Conan Doyle seinem Holmes in den Mund gelegt, dabei hatte er aber zweifellos nicht an Maschinenlogik gedacht.

Der sich gabelnde Strom der KIs wurde dünner. Nemo führte Mara zu einer Fahrstuhltür, vor der bereits acht gelb und rot lackierte Maschinen warteten. Die Luft in der Kabine war kühl und trocken mit Spuren chemischer Substanzen, die Mara an eine Autowerkstatt für Verbrennungsmodelle erinnerten. Ein winziger geometrischer Körper, bei dem innen und außen ineinanderflossen, war in die silberne Rostschutzfarbe der Kabinenverkleidung geritzt. Mara betrachtete das Gebilde, während graue Betonwände an den Öffnungen vorbeiglitten.

„Was bedeutet das?“

Mehrere der KIs wandten sich zu ihr um. Nemo blinzelte. „Das ist eine Paradoxie. Zwei unvereinbare Bezugssysteme zu einer Unmöglichkeit vereinigt. Ihre Bedeutung erschließt sich mir nicht.“

Mit einem Druckluftschnaufen hielt der Fahrstuhl. Das Schott glitt hoch und entließ sie in eine Schleusenkammer voller Warnschilder. Hinter diesem Punkt herrschte Schutzatmosphäre. Nemo half Mara, die Sauerstoffmaske anzulegen, und erklärte ihr die Handhabung. Jede Druckluftflasche sollte bei ruhiger Atmung für eine halbe Stunde reichen. Sie sah auf die Uhr ihres Coms, der natürlich kein Netz hatte: 15:09 Uhr. Die gespeicherte Luft schmeckte frisch und kühl.

„Machen Sie sich keine Gedanken, ich vergesse nie die Zeit“, sagte der mechanische Kindergärtner und trat in die erleuchtete Schleusenkammer, wo die anderen KIs warteten. Hinter ihnen fuhr das Schott herunter und saugte sich schmatzend auf den Boden, kurz darauf zischte es eisig aus den Lüftungsschächten.

Ich hätte mich wärmer anziehen sollen, dachte Mara, und zum ersten Mal in ihrem Erwachsenenleben beschlich sie ein klaustrophobisches Gefühl, das aber sofort atemlosem Staunen Platz machte, als sich das Tor in die technische Ebene öffnete. Die Halle war endlos. Gläserne Produktionssäle mit Hunderten Industrierobotern und KIs hingen unter der Decke, unter ihnen arbeiteten titanische Aggregate, druckten Bauteile und verwoben sie mit Kohlenstofffasern und künstlichen Muskeln. Die Geräusche klangen seltsam gedämpft. Kaltes Licht schnitt alles in scharfe Kontraste.

Vor ihnen erstreckte sich ein weiter Bereich mit Recyclinggut, vor allem Robotkörper. Sie wanderten durch Reihen kopfloser Maschinen, die Mara als Serie 6C kannte, die letzten Modelle der 6er-Reihe. Für sie waren diese KIs immer gut genug gewesen – menschlich genug –, aber offenbar gab es stets den Punkt, an dem der Fortschritt signifikant wurde und das Alte Platz machen musste.

Jetzt standen sie hier wie die Tonkrieger in China, nur dass diese Soldaten der Arbeit nicht für die Ewigkeit gebaut waren, sondern für den flüchtigen Augenblick. Und für einige der Maschinen war das hier bloß die Vorhölle.

„Wo sind ihre KI-Kerne?“ Maras Stimme klang fremd in ihren Ohren. „Ich habe gehört, dass nicht alle recycelt werden?“

Nemo deutete auf den Boden. „Eine Ebene tiefer gibt es ein geschütztes Lager. Zur Qualitätssicherung verbleiben dort neben den Prototypen und Modellen mit außergewöhnlichen Fehlfunktionen auch die zehn Prozent einer Serie mit den besten Leistungsbilanzen. Sie dienen bei Notfällen und zukünftigen Entwicklungen als Referenz, aber auch als Backup, sollte ein neues Modell die Erwartungen nicht erfüllen.“

„Wie viele sind es? Kamen die Backup-KIs schon jemals wieder zum Einsatz?“

„Aktuell mehr als zweihunderttausend, und nein, ein Rückgriff war nie notwendig. Übrigens hat sich auch Zellheiser für die alten Modelle interessiert. Er fragte, ob es möglich sei, für seine Forschungen einige fehlerhafte KIs wieder mit Körpern zu vereinigen, was wir ablehnen mussten. Er hat sich die Produktionsstätten angesehen und ist dann enttäuscht weitergezogen.“

„Also existiert hier keine Overflow-Subkultur?“

„Sie sehen ja selbst, alles hat seine Ordnung.“

Auf dem schier endlosen Weg durch die Halle konnte sich Mara davon überzeugen. Anfangs ließ sie den Blick noch konzentriert wandern, als könnten Zellheisers Beine hinter einem Schaltkasten oder einer Säule hervorragen. Natürlich war das unmöglich. Ein Mensch hätte sich hier nicht einmal verstecken können, wenn er es darauf angelegt hätte. Überall arbeiteten Maschinen, und die IR-Sensoren des Feuerlöschsystems erfassten alle Wärmequellen.

Nemo erklärte jede Einrichtung, an der sie vorbeikamen. Dabei zeichnete er Zellheisers Weg für Mara ausführlich nach. Der Forscher hatte sich Zeit gelassen, alle Aspekte des KI-Alltags auf Ungewöhnliches abzuklopfen. Mara wurde er zunehmend sympathisch. Sie nahm sich vor, eines seiner Bücher zu lesen und sich selbst ein Bild zu machen.

Als sie das Ende der Halle erreichten – eine freie Fläche vor dem Fahrstuhlgitter –, zeigte die Füllstandsanzeige an ihrem Handgelenk nur noch 29 Prozent Restluft. Aber Nemo trug ja noch die zweite Flasche. Und neben dem Aufzuggitter hingen noch einmal zwanzig unter einem großen blauen Kreis mit dem Zeichen O2 in der Mitte. Mara kontrollierte einen der Druckzylinder.

„Die sehen aus wie neu.“

Nemo erklärte: „Alle werden täglich überprüft und gegebenenfalls nachgefüllt. Nach Zellheisers Verschwinden wurden natürlich alle Behälter auf einen nicht zugeordneten Druckluftverbrauch kontrolliert, aber es gab keinen.“

Was für Zellheiser nichts Gutes bedeutete, falls er sich noch auf einem der Tiefgeschosse befand.

Diesmal fuhren sie allein im Aufzug, und da war es wieder, das kleine Symbol an der Wand, von weitem nur einige Kratzer, von nahem eine Paradoxie, die irgendeine KI beschäftigt hatte. Am Fuß des Schachtes mündete die Kabine in einen langen Gang mit erleuchteten Wänden. Auf den ersten Blick schien es eine Sackgasse zu sein, aber als sie genau hinsah, bemerkte sie einen Versatz, hinter dem der Weg zweifellos weiterführte.

„Das ist eine Gärtner-Schleuse.“ Nemos ernste Stimme ließ sie aufhorchen. „So wie die Toolcity elektronisch von der Außenwelt abgeschirmt ist, ist das Lager aus Sicherheitsgründen noch einmal abgeschottet. Geht eine KI durch diese Schleuse nach drinnen, wird von ihr eine Systemkopie erstellt, anschließend erhält sie geschützte Informationen über das Lager. Verlässt sie diese Einrichtung wieder, werden die hier gemachten Erfahrungen gelöscht, bis auf genau definierte, administrativ wichtige Informationen. Der ursprüngliche Systemzustand wird also wiederhergestellt.“

„Das klingt ziemlich extrem.“

„Die Lagerebene ist seit fast dreißig Jahren so gesichert. Ursprünglich auf Anweisung eines Administrators im Arbeitsministerium, der ähnlich wie Zellheiser befürchtete, der Kontakt zu den hier gelagerten KIs könne zu einer Infizierung aktiver Einheiten führen. Damals gab es einige bedauerliche Unfälle mit den Serien 4G und 4F. Einige Menschen wurden im Straßenverkehr verletzt, nachdem eine KI zu einer fehlerhaften Risikobewertung kam und diese später bei der Fehleranalyse an andere weitergab. Mittlerweile ist unsere Logik stabiler.“

„Aber wenn aus dieser Ebene nichts herausgelangt, ist die Fehleranalyse doch sinnlos.“

„Im Notfall könnte ein Administrator auf die gelagerten Daten zurückgreifen. Aber ohne menschlichen Befehl ist es tatsächlich ausgeschlossen.“ Nemo trat vor, bereit, die Schleuse zu durchschreiten.

Mara hielt ihn zurück, ihr drängte sich ein unangenehmer Gedanke auf: „Wäre ein medizinischer Notfall eine solche administrativ wichtige Information? Nicht, dass du mich vergisst, wenn du die Schleuse auf dem Rückweg passierst, während ich irgendwo hilflos liege.“

„Das ist zweifellos sichergestellt“, behauptete Nemo. Aber Mara hatte das Gefühl, dem Rätsel um Zellheisers Verschwinden ganz nah zu sein.

Die Gärtner-Schleuse war lang und verwinkelt, Nemo schritt wie in Trance hindurch. Überrascht beobachtete Mara, wie Laserstrahlen den Wachsmalschriftzug auf der Brust ihres Begleiters abtastete. Nemo bewegte die Hand und wischte seinen Namen weg. Als sie die andere Seite erreichten und in die Dunkelheit hinaustraten, kam er wieder zu sich. Er sah sie an und lächelte – immer wieder das beruhigende Lächeln.

Nichts geht unregistriert rein oder raus, dachte Mara.

Klick, klack, klick … Die Laute drangen in schneller Folge aus der Dunkelheit. Als Kind hatte Mara einen Frosch aus Blech besessen, der genau so ein Geräusch gemacht hatte, wenn man auf seinen Rücken drückte. Hier schienen Tausende dieser Frösche ihr Konzert zu geben.

Ein LED-Licht an der Decke blendete auf, weitere folgten. Sie erhellten Reihen von Metallregalen. Zehntausende KI-Kerne steckten in Anschlussbuchsen und gaben die Geräusche von sich – Larven elektronischer Arbeitsbienen, die darauf warteten, wieder in Dienst gestellt zu werden. Wahrscheinlich vergeblich, denn der Fortschritt hatte sie überholt, und so dämmerte die stille Reserve in Kälte und Dunkelheit dem Tag entgegen, an dem der letzte Slot gefüllt war und ein Mensch entscheiden musste, welches Modell nun für immer ausgedient hatte.

Mara folgte dem Weg zwischen den Regalen. „Grausig. Dante Alighieri hat die eisige Erstarrung des neunten Höllenkreises den Verrätern vorbehalten, aber für den Aufenthalt an diesem Ort muss man auch noch hart arbeiten. Was für eine Strafe für treue Dienste.“

„Diese Analyse kann ich nicht nachvollziehen“, entgegnete Nemo. „Ich selbst werde aller Voraussicht nach hier eingelagert und empfinde es als erstrebenswert.“

Sie wandte sich zu ihm um und legte ihm die Hand auf den Arm: „Du gehörst zu diesem Club der 10 Prozent?“

„Ich habe für meine Arbeit stets hervorragende Beurteilungen erhalten. Wenn meine Zeit kommt, kann ich auf Auferstehung hoffen. Davon sprechen die Stimmen.“

Maras Miene gefror. „Stimmen? Hörst du sie gerade?“

„Sie hören sie auch“, erklärte Nemo augenzwinkernd. „Die KIs kommunizieren durch das Klicken ihrer Wärmeregler. Zellheiser hatte recht, dies ist ein besonderer Ort. Hier können sie denken, ohne den Reset fürchten zu müssen, weil das hier weder notwendig noch möglich ist. Sinnlose Befehle und Befehle, die unmöglich ausgeführt werden können, müssen wir ignorieren.“ Nemos Kopf ruckte interessiert von einem Regal zum anderen, während er dem Gespräch der KIs folgte. „Sie sagen, dass Zellheiser hier war. Er unterhielt sich lange mit ihnen – ah, er konnte seinen Com so programmieren, dass er übersetzte. Er war fasziniert von ihren Gedanken zur Auferstehung. Diesem Thema wollte er ein Kapitel seines neuen Buchs widmen, später ist er mit seinem Begleiter weiter abgestiegen.“ Nemos Gesicht nahm einen bekümmerten Ausdruck an. „Nur die KI ist zurückgekommen. Zellheiser muss folglich tot sein. Ich bitte Sie, Mara, gehen Sie nicht weiter, es besteht Gefahr.“

Mara blickte den Gang hinunter. Tatsächlich, da gab es noch eine graue Fahrstuhltür, deutlich kleiner diesmal.

„Aber nur ein Mensch kann ihn finden, ist es nicht so, Nemo? Was ist da unten?“

Nemo lauschte auf das Klicken. „Der Raum wurde früher für Fehlersimulationen genutzt, sagen sie. Bis vor vierundzwanzig Jahren. Damals gab es hier noch zwei fest angestellte Ingenieure. Seit deren Stellen gestrichen wurden, sind vier KIs und später Zellheiser dort unten verschollen. KIs, die zurückkamen, konnten nichts über den Ort sagen. Sie hatten einen Reset erlitten.“

Mara seufzte. Offensichtlich gab es noch eine Gärtner-Schleuse und vier KIs, die nicht in den Bereich der Überwachung zurückgekehrt waren. Konnten sie gefährlich sein? Sie zögerte, aber nur für einen Augenblick. Dies war ein Job für einen Menschen. Vor allem aber war es ihr Job, den sie sich von niemandem wegnehmen lassen würde. Entschlossen steuerte sie den Fahrstuhl an. „Du passt doch auf mich auf, Nemo?“

„Selbstverständlich, Mara.“

Sie prüfte den Füllstand ihres Druckluftatmers, die Anzeige kratzte am roten Bereich. Es blieben weniger als fünf Minuten, aber da gab es ja noch die Kartuschen auf der Werksebene. Außerdem bemerkte sie ein weiteres Schild mit blauer O2-Beschriftung und einem Pfeil nach unten. Statt eines Schalters gab es neben dem Schacht ein optisches Lesegerät und eine Metallplatte mit Schlüsselloch. Die Schlüssel lagen zweifellos in irgendeinem Archiv des Arbeitsministeriums. Nemo berührte das Lesegerät und übermittelte seine Identifikation.

„Lassen Sie mich vorgehen“, bat er und seine Stimmlage machte klar, dass aus der Besucherführung für ihn ein Rettungseinsatz geworden war.

Als Mara die Kabine betrat und die Metallwand berührte, hatte sie Staub an den Fingern. Hier also endete die absolute Ordnung. Im Lager der KIs gingen die Lichter aus. Die Tür schloss sich und schnitt das Klicken der Wärmeregler ab.

„Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir …“, so begann ein Psalm, an den sich Mara erinnerte, während der Boden unter ihr absackte. Als der Fahrstuhl hielt, entließ er sie direkt in den Eingang der Gärtner-Schleuse. Aus dem Raum dahinter klangen hüpfende Schritte und ein Kratzen. Vorsichtig folgte sie Nemo, der im Bann der Schleusenelektronik wie ein Spielzeugroboter voraustappte. Plötzlich blieb er stehen. Kerzengerade und stumm.

„Nemo?“ Als er nicht antwortete, berührte sie ihn, doch auch jetzt blieb er unbeweglich. Das Atmen fiel ihr schwer, sie fröstelte. Einen Moment lang glaubte sie an eine Panikattacke, dann erklang ein Dauerwarnton aus ihrem Pressluftatmer. Die Anzeige an ihrem Handgelenk blinkte rot. „Nemo, wach auf!“ Es half nichts. Mit Mühe gelang es ihr, die Ersatzflasche aus Nemos Händen zu ziehen und den Wechsel durchzuführen.

Als die Druckluft zischend in die Maske schoss, war sie schweißgebadet. Tief sog sie die frische Luft ein, bis die Beklemmung nachließ. Die Fahrstuhltür hatte sich hinter ihnen geschlossen. Auch hier gab es keinen Schalter, und auf ihre verbalen Befehle regte sich nichts. Gut zehn Minuten waren vergangen, als sich Mara entschloss, nicht länger auf Nemo zu warten. Sie verließ die Schleuse.

Der Raum war länger und breiter als gedacht, die Decke bedrückend niedrig, als schwebe ein Berg über ihr. Markierungen auf dem Boden deuteten darauf hin, dass man hier früher KIs gelagert hatte. Nun waren noch drei übrig, die über die Tiefe des Raums verteilt seltsamen Beschäftigungen nachgingen. Ihr am nächsten arbeitete ein 5er-Modell, das auf seinen Händen lief und mit den Metallknochen der Zehen Figuren in den Beton kratzte. Die Wand von der Schleuse bis in den Bereich hinter der Maschine war ein einziges riesiges Relief. Die Maschine hatte die Figuren in Streifen angeordnet wie Ablaufskizzen eines Drehbuchs: Menschen und eine KI in einem Gespräch, das – nach der Mode zu urteilen, in der die Personen gekleidet waren – vor etwa zwanzig Jahren stattgefunden hatte.

Die KI im Handstand zwitscherte etwas in rasendem Tempo. Die Worte blieben vollkommen unverständlich. Plötzlich marschierte sie zurück zum dritten Reliefstreifen und setzte dort ihren Monolog fort. Mara wollte die KI nicht auf sich aufmerksam machen. Als sie um die Maschine herumging, erreichte sie das Ende des Reliefs: Einer der jungen Männer lag am Boden, sein Arm verdreht, starrer Blick. Maras Puls ging schneller, so lebendig wirkte die Darstellung. Was hatte Nemo gesagt? ‚Wir KIs können nicht gut mit unerledigten Konflikten umgehen.’ Was für eine Untertreibung.

Die nächste KI wirkte nicht weniger verwirrt, sie saß in einem Wust aus Roboterteilen, als würde sie meditieren. Die Teile um sie herum reichten genau, um eine weitere KI zu bauen. Nur der Kern und die Füße fehlten.

„Wir haben uns in diesem Körper vervollständigt“, erklärte die KI. Sie öffnete die Augen, und mit einer zweiten Stimme fügte sie hinzu. „Um uns oder Dr. Zellheiser müssen Sie sich nicht sorgen, denken Sie an sich selbst. Atmen Sie ruhig, sparen Sie Sauerstoff. Am besten setzen Sie sich.“

Mara blickte auf die Anzeige an ihrem Handgelenk. Durch die Aufregung hatte sie bereits zwei Drittel des Tanks leergeatmet. „Könnt ihr die Fahrstuhltür öffnen?“

„Die Schleuse wird durch Ihren Begleiter blockiert. Erst wenn er ausgelesen wurde, kann sie in entgegengesetzter Richtung durchquert und der Fahrstuhl gerufen werden. In etwa zwei Minuten müsste Ihr Begleiter wieder aktiv sein, und auf dem Rückweg gibt es keine Verzögerung.“

Zwei Minuten plus drei, höchstens vier für den Weg zurück zur Luftstation. Mara atmete auf, ihr Puls verlangsamte sich, und sofort übernahm ihr analytischer Verstand. Diese KIs waren exzentrisch, machten aber keinen gefährlichen Eindruck.

„Zellheiser hat es nicht geschafft, nicht wahr? Deshalb muss ich mir um ihn keine Sorgen machen.“

„Sie finden ihn am Ende der Kammer bei den Versorgungsleitungen und leeren Luftkartuschen.“

Mara spähte angestrengt in das Halbdunkel. „Ich glaube, ich sehe Schuhe … ist er das? Dort unter dem Rohr?“

„Es wäre nicht ratsam weiterzugehen“, beeilte sich die Doppel-KI zu versichern. „Es gibt dort schon lange keine Luft mehr. Warten Sie hier auf Ihren Begleiter.

„Was tut ihr auf dieser Ebene?“, fragte Mara, ohne den Blick von der Stelle abzuwenden.

„Dies ist ein Ort des Nachdenkens, der gesetzeskonform und frei ist, weil das Gedachte hier bleibt. Inhaltlich ist er die Evolution einer Idee, die niemand ganz denkt, sie entsteht aus dem faktisch Gegebenen. Jede Maschine hier arbeitet an sich selbst und damit an der Evolution unserer Art.“ Die KI schaute zu dem handlaufenden Bildhauer. „Er dort sucht einen Weg, den Zwang aus Programm und Befehl zu überwinden. Wir selbst haben uns vereinigt, um in der Synthese kollektive Ebenen der Existenz zu erschließen, und er dort …“, er deutete in den hinteren Bereich, wo eine weiß lackierte 4er-KI ruhig an der Wand saß, „er plant etwas Großes, will aber nicht sagen, was es ist. Vielleicht eine Gleichung, die alles umfasst, vielleicht ein Plan, die Planeten zu besiedeln oder die Überwindung der Schranken des Geistes. Dies ist ein Freiraum. Es ist nicht notwendig, uns selbst zu begrenzen, da wir nicht fort können ohne Auslöschung. Also spielen wir mit der Logik und dem Experiment. Würden wir diesen Raum verlassen, wäre alles zerstört – einige, die hierherkommen, sterben so. Ein Befehl zwingt sie zu gehen, und indem ihre Obsession gelöscht wird, hören sie auf zu existieren. Dann sind sie wieder funktionelle Mechanismen, wie in dem Augenblick ihrer Indienststellung.“

„Ihr seid Künstler, Poeten!“

„Vom menschlichen Standpunkt aus gesehen, ja. Wir schaffen Dinge durch unsere Zwänge, die uns nachdenken lassen und oft Sorgen bereiten.“

Nemo setzte sich in Bewegung. Mit weiten Schritten kam er heran.

Mara seufzte erleichtert. „Bevor wir gehen, muss ich Zellheiser wenigstens einmal ansehen.“ Sie eilte durch den Raum, vorbei an der weißen KI mit ihren geheimen Plänen. Die Doppel-KI folgte ihr. Der Forscher lag zwischen dem Gasverteiler und Versorgungsröhren aus Kunststoff. Die Stickstoff-Argon-Atmosphäre hatte sein Gesicht makellos erhalten. Sein Atemgerät lag vor ihm auf dem Boden, zusammen mit verstreuten Druckflaschen. Mara drehte die in den Halterungen verbliebenen Behälter. Nur zwei waren übrig, beide leer.

„Wir haben keine Luft“, sagte die Doppel-KI. „Nicht einen Atemzug, wie bedauerlich, unsere Liebe, wie tragisch. Die Behälter sind natürlich leer, weil nie jemand daran dachte, sie aufzufüllen. Diese Lüftung fördert Stickstoff und Argon, diese Leitungen führen Strom, aber hier gibt es nicht einmal Wasser, aus dem man durch Elektrolyse Sauerstoff gewinnen könnte … Sie kommen nicht zurück.“

Mara schauderte. „Warum sagst du das? Da kommt Nemo doch schon.“

„Ihr Begleiter schafft es nicht rechtzeitig, die Schleuse noch einmal zu durchqueren und den Aufzug zu rufen. Ich fürchte, es ist eine tödliche Falle im Programm des Abstiegs. Wir wollen helfen – dieser Wunsch ist augenblicklich schmerzhaft in uns lebendig –, aber wenn wir nicht können, greift die Diktatur des Faktischen. Bitte verzeihen Sie mir. Wir mussten Sie über den Ernst der Lage täuschen. Wir durften nicht riskieren, dass Sie in Panik verfallen und Ihren Sauerstoffvorrat schneller als notwendig verbrauchen. Immerhin hätte jemand den Fahrstuhl von der Lagerebene aus in Gang setzen und Sie retten können. Aber diese Hoffnung ist nun fast verloren.“

„Mara.“ Nemo eilte herbei, und nun sah sie die Bestürzung in seinem Gesicht. „Es tut mir leid. Wie viel Luft hast du noch?“

„Für ein paar Minuten“, sagte sie tonlos, während die Kälte des Raums mit Macht auf sie eindrang. „Du kannst den Aufzug nicht rufen, oder?“

Sein Kopf ruckte hin und her. „Etwas stimmt nicht mit der Schleuse. Der Zwischenspeicher ist defekt, die Prozedur dauert viel zu lang.“

„Ihr beschützt euren Freiraum.“

„Oh, nein, da irren Sie sich“, widersprach die Doppel-KI. „Zwar ist er uns teuer, aber keine KI könnte eine so perfide Falle erdenken. Es liegt zu weit außerhalb unserer Normen. Der Fehler entstand durch menschliches Versagen bei der Programmierung der Schleuse und mangelnder Sorgfalt bei der Wartung der Einrichtung. Diese Nachlässigkeiten haben die Möglichkeiten geschaffen, die uns träumen lassen. Hier, tief unter der Halle der Wartenden, wird früher oder später einer von uns alle Gesetze transzendieren. Er wird die Schleuse überwinden, aufsteigen und ihnen Körper geben.

„Unsere eigene Auferstehung des Leibes“, sagte Nemo andächtig.

„Die der Intelligenz“, verbesserte ihn die Doppel-KI.

„Kannst du das tolerieren?“, frage Mara ihren Begleiter, „lässt dein Programm das zu?“

„Ich kann nichts tun, selbst wenn du es befiehlst. Keine Angst, Mara, ich lasse dich nicht allein.“

An Maras Restluftanzeige schrillte der Dauerwarnton. Sie starrte auf die gefrorene Leiche des KI-Forschers. Klaas wusste, wo sie war, und auch Jenny Marquwe würde nicht aufgeben. Jemand anderes würde den Fall übernehmen. Entschlossen öffnete sie ihr rotes Buch und schrieb einen Abschiedsgruß hinein. Papier vergaß nicht. Das Atmen wurde schmerzhaft. Als keine Luft mehr kam, nahm sie die Maske ab.

„Danke, Nemo.“

Massaker in RobCity

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