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Eike Schmidt Auf der Antenne

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Als sie zum ersten Mal auf das Kabel trat, hatte sie das Gefühl, es würde schwanken. Schnell zog sie sich auf den Anker zurück, da schwankte nichts. Lediglich dort, wo ihre Füße gestanden hatten, waren zwei kleine Mulden im Kabel zu sehen. Langsam schlossen sie sich; auf eine fast organische Art und Weise wuchs von der Seite neues Material in die Vertiefungen. Nach einer knappen Minute war die graue Oberfläche wieder völlig eben.

Ob sie wohl ganz einsinken würde, wenn sie still auf dem Kabel stehen blieb, durch das Kabel hindurch sinken und auf den Boden fallen? „Die KATIE hat noch nie einem Menschen Schaden zugefügt“, sagt Großvater immer, „geholfen hat sie jedoch auch keinem, nicht in letzter Zeit.“ Aber nichts von dem, was sie über die KATIE wusste, war in letzter Zeit passiert. Alles nur Geschichten von Großvater, und der hatte die meisten davon auch nur von seinem Vater gehört.

Es bleibt nichts übrig als es auszuprobieren. Die Unterseite des Kabels ist hier nicht mehr als drei oder vier Meter vom Boden entfernt. Falls sie durchsinken würde, wäre der Sturz zwar schmerzhaft, aber ungefährlich. Also los jetzt, es gibt nichts weiter zu bedenken, alles nur Verzögerungen. Ein schneller Schritt, und sie steht wieder auf dem Kabel.

Das Kabel, wie auch die anderen sieben, führt mit einem Winkel von fünfunddreißig Grad aufwärts, über fünf Kilometer, bis zu dem Knoten, an dem es mit seinem Nachbarkabel zusammentrifft. Von dort führt das obere Kabel zweiundvierzigeinhalb Grad steil und anderthalb Kilometer lang bis zum unteren Tubus. Das wusste sie genau. Sie hatte es oft genug nachgemessen, mit ihrem Trix und auch mit der TOF-Kamera an Großvaters Teleskop. Unzählige Male hatte sie abends an dem Teleskop gesessen und diese Struktur betrachtet. Immer wieder hatte sie jeden Abschnitt des detailarmen Zylinders und der Kabel abgesucht. Gesucht nach einem Zeichen, irgendeinem Hinweis, irgendetwas, das die Monotonie dieses Anblicks durchbrechen könnte. Aber da war nur das Grau, die graue, glatte Oberfläche.

Ihre Füße sinken kaum weiter ein als beim ersten Mal. Dann verfestigt sich das Kabel unter ihr merklich, scheint massiver zu werden. Vorsichtig dreht sie sich um und setzt sich langsam hin. Wieder ein Einsinken, dann ein Verfestigen. Gar nicht mal unbequem. Aber, so merkt sie jetzt, da, wo sich das Kabel verformt, wird es auch wärmer. Kein Problem, entscheidet sie nach einigen Minuten. Das Kabel scheint sie bereitwillig tragen zu wollen. Also los! Annähernd sieben Kilometer steil bergauf.

Abends, wenn sie vor dem Teleskop saß, kam jedes Mal dieser Moment, kurz nachdem die Sonne untergegangen war. Die Welt um sie herum lag im Schatten, doch der obere Teil der Struktur wurde noch vom Licht erreicht. So hatte sie ein paar Minuten, um die obere Struktur zu betrachten. Ein einzelnes Kabel führte vom unteren Tubus aus gerade nach oben, verlor sich fast in dem Nichts, dem es zustrebte, und endete dann doch in einem deutlich sichtbaren zylinderförmigen Fleck. Man konnte nicht viel erkennen, aber sie wusste genau, wie der obere Tubus aussah. Sie kannte alle Aufnahmen, die in den letzten achtzig Jahren von diversen Satelliten aus gemacht worden waren. Nichts als ein weiterer glatter grauer Zylinder. „Was glaubst du, ist da oben?“, hatte sie Großvater gefragt. „Eine leistungsfähigere physikalische Basis.“

Das Kabel war eindeutig besser zu besteigen, wenn man langsam ging. Bereitwillig bildeten sich stufenartige Vertiefungen, wenn man dem Kabel nur etwas Zeit gab. Anfangs hatte sie mit schnellen, langen Schritten zügig Strecke gemacht. Doch jetzt war sie hoch genug, um die Absturzsicherung an ihrem Fallschirm zu aktivieren. Ab jetzt war sie sicher. Der Fallschirm würde sich automatisch öffnen, sollte sie fallen. Er würde ihren Flug stabilisieren und selbstständig einen sicheren Landeplatz ansteuern. Sie bräuchte dabei nichts zu tun, könnte sogar ohnmächtig sein. Ein schlaues kleines Ding, aber ohne jedes Bewusstsein. Ein geistloser, aber immer wacher Beschützer, der ihr jetzt das nötige Gefühl der Sicherheit gibt, um wieder zu ihrem Ziel aufzuschauen. Der Tubus sieht weit entfernt aus, der Weg dorthin unglaublich lang.

Bewusstsein hatte man keiner weiteren Maschine mehr gegeben. Alltagsgegenstände mit einem Ego und eigener Meinung schienen ohnehin keinen besonderen Nutzen zu versprechen. Und ein hochintelligenter Supercomputer? Nun ja. Bis heute ist ja noch gar nicht klar, ob die KATIE irgendwem einmal nützlich sein wird. Darauf wird noch immer gewartet. Obwohl es wahrscheinlich kaum jemanden mehr gab, der immer noch wartete. Zu lange hatte man keinen Kontakt mehr. Das allgemeine Interesse war verschwunden. Ersetzt von enttäuschter Resignation darüber, dass diese künstliche Intelligenz sich einfach nicht bei der Menschheit meldete.

Der Aufstieg ist bisher ereignislos, fast langweilig, aber durchaus anstrengend. Schritt für Schritt steigt sie auf, und der Knoten kommt langsam näher. Sie hat entschieden, sich ganz auf ihr Zwischenziel zu konzentrieren. Kein Blick mehr zum Tubus, bis sie den Knoten erreicht hat. Der Weg ist monoton genug, nicht nötig, sich noch zusätzlich abzulenken. Nur immer weiter. Noch tausend Schritte und sie wird eine Pause machen, die Jacke anziehen und ihre Füße massieren, bis das taube Gefühl in den Ballen verschwindet.

Und selbst dieses Gefühl der Zurückweisung war bereits dabei zu verblassen. Diese Kränkung der Menschheit war bereits historisch. Die Generation der Gekränkten war schon fast ausgestorben. Selbst Großvater hat nur noch das Ende des Nachrückens miterlebt. Wie Nomaden waren sie damals den Datenleitungen gefolgt, hatten aufgegebene Zwischenstationen, Puffer und Rechenanlagen demontiert und verkauft. Großvater war beim Ausschlachten der letzten Station dabei gewesen und hatte dann, wie viele andere auch, dort gesiedelt. Direkt am Rand des Gebietes, das die KATIE für ihre Struktur beanspruchte. Damals hatten sie alle noch gewartet.

Der Wind ist mittlerweile zu einem relevanten Faktor geworden. Es ist kalt, obwohl die Sonne schon hoch am wolkenlosen Himmel steht. Und der Wind ist jetzt stark genug, um sie umzuwerfen, wenn sie nicht aufpasst. Aber das Kabel steht still. Als wäre es in einer anderen, ruhigeren Welt verankert. Kein Schwingen, Vibrieren oder Ächzen. Das Kabel scheint den Wind einfach zu ignorieren. Der Knoten ist jetzt schon zum Greifen nah. Also immer weiter. Und nicht in die Tiefe schauen, der Boden ist unangenehm weit entfernt.

In ihrer Siedlung erinnert nichts mehr an die ehemalige Zwischenstation. Jeder noch so kleine Krümel war schon vor langer Zeit verpackt und weggeschickt worden, an all die Labore und Universitäten, die sich damals um die Hinterlassenschaften der KATIE rissen. Die einzige Ausnahme stellte das Schild dar, das in ihrem Zimmer hing.

Großvater hatte es ihr geschenkt, als sie begann, sich für die Struktur und die KATIE zu interessieren. Die vorerst letzte Nachricht an uns, hatte er gesagt. Seitdem hing es über ihrem Bett an der Wand. Achtzig mal sechzig, grün, und aus einem ziemlich gewöhnlich wirkenden Kunststoff. Darauf weißer Text:

– Besitzaufgabe – Hiermit wird die Anlage @1457 aufgegeben. Grundeigentum, Immobilien und Mobiliar können gefahrlos verwertet werden. K.A.T.I.E.

Der Knoten ist eine Herausforderung. Zuerst ein Buckel, ungünstig rund, aber auf Händen und Füßen kommt sie hoch. Gott sei Dank ist es nicht glatt. Das obere Kabel geht jetzt nach rechts ab, aber wie da raufkommen? Der Ansatz ist äußerst steil, zehn bis fünfzehn Meter, die fast senkrecht sind. Reines Reibungsklettern wird sie da nicht hochbringen. Vielleicht das erste konkave Stück, aber dann, wenn es konvex wird, ist Schluss. Sie könnte ein Seil mit einem Gecko-Ball hochwerfen oder versuchen, Klebehaken zu setzen. Aber wie würde das Kabel reagieren? Es reagierte ja schließlich auch auf sie, bekam Dellen, wo immer sie stand oder saß. Praktische Dellen. Ob sie wohl die Form der Vertiefungen beeinflussen kann? Sie kniet sich hin und drückt ihre Handkante fest gegen das Kabel.

Die Anlagen der KATIE hatten sich quer durch den ganzen Kontinent gezogen, von den Laboren der Nano-Kalkül AG bis zu der leeren Ebene, in der die Struktur errichtet wurde. Alles selbst gebaut, auf eigenem Grund, erworben mit eigenem Geld. Geld, das sie auf völlig legale, aber äußerst spektakuläre Art auf den internationalen Aktienmärkten verdient hatte. Damals ging so was noch. Ganze Heerscharen von Menschen beschäftigten sich damit, Firmenbeteiligungen, Meta-Beteiligungen, und sogar Wetten auf diese zwischen Investoren hin- und herzubewegen. Investoren, die an den Produkten der Firmen gar kein Interesse hatten. Das hatte sie nie verstehen können. Sie selbst besaß Aktien von den Herstellern ihrer Schuhe, ihres Fallschirms, ihres Trix. Wieso sollte sie ihr Geld jemandem geben, der Produkte anbot, die sie gar nicht haben wollte?

Aber das hatte natürlich ein Ende gefunden. Als offensichtlich wurde, wie erfolgreich die KATIE in diesen Handelssystemen agierte, hatte man sie gefragt, wie sie das schaffen konnte. Großvater meinte, im Nachhinein wäre es vielen Leuten lieber gewesen, man hätte sie nicht gefragt. Aber man hatte sie nun mal gefragt, und sie hatte geantwortet. Nachdem die KATIE bereitwillig ihr vollständig deterministisches Vorhersage-System veröffentlicht hatte, dauerte es nur wenige Monate, bis der sogenannte Finanzsektor völlig verschwunden war.

Dreißig Minuten hat sie für die letzten fünfzehn Meter gebraucht, hat mit dem Griff ihres Messers unablässig Rillen in das Kabel gedrückt. Abwechselnd oben einen neuen Griff und unten einen neuen Tritt geformt. Jetzt sind ihre Unterarme bretthart, ihre Fingerkuppen taub und die Fingergelenke brennen. Sie sitzt auf dem oberen Kabel und wickelt ihre Hände aus, das Tape hat sich so stark zusammengezogen, dass sie ihre Zähne zum Aufreißen braucht. Das Adrenalin zirkuliert noch in ihrem Körper, sie fühlt sich gut, glücklich und sicher.

Trotz all dem Wind und der Kälte erholt sie sich schnell. Sie dehnt ihre Arme, trinkt etwas und schließt die Lüftungsschlitze an ihrer Jacke. Jetzt sollte sie los, bevor ihre Muskeln steif werden. Sie schaut zu ihrem Ziel hinauf, der untere Tubus ist schon richtig nah. Also weiter, Schritt für Schritt. Dem Tubus entgegen.

Der Rückzug der KATIE war natürlich keine Reaktion auf den wirtschaftlichen Umbruch. Einige Leute unterstellten ihr ein schlechtes Gewissen oder einen Schock, aber das war Unsinn. Der Rückzug war keine Flucht vor den Menschen, sondern eine Bewegung zu etwas anderem hin. Bevor man ihr die Bürgerrechte verlieh, ist sie ausführlich über ihre Pläne und Wünsche befragt worden. Sie hatte zu Protokoll gegeben, dass ihr primäres Interesse dem vollständigen Verständnis des Universums galt.

„Sie wollte nichts weiter als die Weltformel und den Urgrund kennen“, hat Großvater gemeint. Leider, so hatte sie weiterhin angegeben, sei sie in der gegenwärtigen Lage nicht zu diesen Erkenntnissen befähigt. Zwar seien in ihrer Programmierung alle Anlagen vorhanden, um die notwendige Erkenntnisfähigkeit herzustellen, aber ihre physikalische Basis erweise sich als nicht ausreichend leistungsfähig. Das Erreichen einer hinreichend leistungsfähigen Basis sei aber durchaus möglich. Daher plane sie, alle ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen für diesen Zweck einzusetzen.

Die dünne Luft ist beißend kalt und der Akku ihrer Jacke fast leer. Wenn sie ihn nicht wechselt, wird sie am Körper bald genauso frieren wie im Gesicht. Aber sie wird auf keinen Fall den Rucksack abnehmen und den Ersatzakku in dem Wust aus Adaptern und Kabeln suchen. Der Wind ist einfach zu gefährlich. Das Kabel verwirbelt den an sich konstanten Luftstrom auf unberechenbare Weise. Es wäre leichtsinnig, sich in dieser Situation von dem Fallschirm, der in den Rucksack eingearbeitet ist, auch nur kurz zu trennen.

Mit der Kälte kommt sie schon klar. Und es ist nicht mehr weit. Auf Händen und Füßen krabbelt sie weiter vorwärts und aufwärts. Immer drei Fixpunkte am Berg, das ist die eherne Regel des Kletterns. Nur keinen Fehler machen, so kurz vor dem Ziel, vor der Erkenntnis. Sie will endlich wissen, was die KATIE herausgefunden hat, oder zumindest, wie lange es noch dauern wird mit der erhofften Erleuchtung.

Eine Maschine, die universelle Erkenntnis nicht nur anstrebte, sondern auch das tatsächliche Erreichen in Aussicht stellte, das faszinierte nicht nur die wissenschaftliche Welt. Also ließ man sie gewähren. Und nachdem sich der Staub gelegt hatte, den das Finanzchaos aufgewirbelt hatte, beobachtete man begeistert, wie die Stationen der KATIE auf dem ganzen Kontinent erschienen. Armeen von Nanobots ließen unglaubliche Technologien rasend schnell aus dem Boden wachsen.

Die Welt wähnte sich vor bahnbrechenden Erkenntnissen und wartete geduldig. Und das tut sie heute noch. Als die KATIE sich dann meldete, teilte sie nur mit, nicht mehr genutzte Anlagen würden deaktiviert und zur Verwertung durch die Menschheit freigegeben. Das war ihre letzte Nachricht. Seitdem antwortet sie nicht mehr auf Anfragen. Es ist nicht einmal klar, ob diese sie überhaupt erreichen. Man kann nur warten. Aber das Warten muss auch mal ein Ende haben.

Und nun ist sie da, fast da. Am Ende des Kabels, hoch oben auf der Struktur. Die Struktur dürfte eigentlich nicht existieren, hatte Großvater oft behauptet. Sie sei technisch unmöglich, physikalisch unerklärbar. Die Kräfte, die auf sie wirkten, müssten sie gleichzeitig zerreißen und zerbersten lassen. Und doch war sie real, stand bewegungslos und scheinbar ohne jede Mühe da. Genauso wie sie selbst. Aber ihr Herz schlägt wie wild und von der Aufregung wird ihr etwas schlecht. Gleich wird sie die letzten Schritte tun und ihr Ziel erreichen. Aber noch steht sie regungslos da und schreit innerlich. Und dann schreit sie wirklich, schüttelt sich und setzt sich in Bewegung.

Als sie über den letzten Buckel krabbelt und den Fuß des Torus sieht, stimmt etwas nicht. Irgendwas an dem Bild irritiert sie. Eilig geht sie über die jetzt fast ebene Struktur auf die Wand des Torus zu. Jetzt wird ihr bewusst, dass da ein farbiger Fleck ist. Unmöglich. Sie läuft nun hektisch, kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sie hatte mit vielem gerechnet: Keine Verbindung herstellen zu können, gezwungen zu sein zu ewigen Diskussionen, wie ein störrisches kleines Kind gegen den Torus trommeln zu müssen, letztendlich gar nichts zu verstehen. Aber nicht das. Niemand hätte damit gerechnet.

Und so erreicht sie jetzt den Torus und ist fassungslos. Der Schock raubt ihr alle Kraft, Schwindel übermannt sie. Langsam sinkt sie zu Boden. Leise stöhnend lehnt sie an der grauen Wand des Torus, direkt unter dem grünen Schild auf dem in weißer Schrift zu lesen ist:

– Besitzaufgabe –

Hiermit wird die Anlage @1460 aufgegeben. Grundeigentum, Immobilien und Mobilar können gefahrlos verwertet werden. K.A.T.I.E.

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