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Die fetten Jahre sind vorbei: Entdeckungen der Kirche im Umbruch

„Die fetten Jahre sind vorbei“ – der Titel des Kultfilmes von 2004 zitiert biblisches Gedankengut aus Genesis 41. Die Berliner WG-Bewohner Jan, Peter und Julia verstehen sich als Großstadt-Revolutionäre: Sie brechen in die Villen von Wohlhabenden ein, ohne etwas zu stehlen. Stattdessen schaffen sie provozierende Unordnung durch verrückte Möbel oder hinterlassen Botschaften für die Zurückkehrenden wie etwa: „Die fetten Jahre sind vorbei“. Der biblische Hintergrund dieser Provokation spielt keine erkennbare Rolle, aber ein prophetischer Anspruch ist bei aller Kindsköpfigkeit und Inkonsequenz der drei jungen Leute spürbar. Sie agieren wie Fremdpropheten in einer saturierten Gesellschaft. Sie verkörpern einen unausgesprochenen Schrei nach Josef (Gen 41,33 – 38), nach verständigem und weisem Handeln in der Krise, nach Menschen mit dem Geist Gottes, die den vorhandenen Überfluss klüger einsetzen können, um für karge Zeiten vorzusorgen.

Verständiges und weises Handeln im Umbruch? Die christlichen Kirchen in Deutschland sind gut beraten, die Empfehlungen des Josef nicht zu ignorieren oder zu delegieren, sondern zu ihrer eigenen Sache zu machen: Die fetten finanziellen Jahre gehen ohne Frage zu Ende, das verbleibende Fenster ist weise zu nutzen, bevor es sich endgültig schließen wird. Solche Zeiten des Überganges haben ihre eigene Dynamik, folgen anderen Gesetzen als das nostalgisch geregelt wirkende volkskirchliche Herkommen einer vergehenden Zeit.

Gelegentlich hinterlassen die drei Berliner Fremdpropheten Jan, Peter und Julia auch die Botschaft: „Sie haben zu viel Geld.“ Und zeichnen mit: „Die Erziehungsberechtigten“. Man kann die absehbar zurückgehenden Mittel der Kirchen als Verlust sehen und ihrem Erhalt alles andere unterordnen. Man kann sie aber auch als Aufbruchssignal deuten, als Lerneinheiten vom Herrn der Kirche: Er formt seine Kirche, wie ein Töpfer auf der Drehscheibe aus Lehm ein Gefäß formt. Umbrüche können auf ein offenes Handeln Gottes deuten.

Wir befinden uns mitten in Umbrüchen und fragen: Was sollen wir verlassen? Worauf gehen wir zu? Was lockt uns auch vorwärts? Welche Weisheiten und Verheißungen begleiten uns? Auch in der Josefsgeschichte geht die Zeitanalyse „Umbruch“ nicht ohne neue Hoffnung einher. Ägypten steht anfangs für eine Verheißung und später für eine Erfahrung von Unfreiheit und Unterdrückung. Wie ist das eine Ägypten von dem anderen zu unterscheiden? Was lernen wir im Rückblick auf diese Geschichte im Umgang mit unseren heutigen Ängsten und Hoffnungen?

Offensichtlich liegen die Versuchungen Ägyptens nie hinter der Kirche, sondern begleiten sie als aktuelle Versuchung auf ihrem Weg. Vermeiden kann sie diese Versuchungen nicht, nur sich bewahren lassen von dem, der sie auf seinen Weg in die Freiheit ruft. Oder sich herausrufen, sich neu formen lassen und in einer anders geprägten Mehrheitsgesellschaft, in „der Wüste der Völker“ (Ez 20,35) wieder die Gottesliebe lernen und ihren Auftrag finden.

Vor diesem Hintergrund entstand die Jahrestagung des EKD-Zentrums für Mission in der Region im Herbst 2015. Leitend waren die Fragen: Welche Entdeckungen gibt es im Umbruch und welche Erfahrungen für den Umgang mit Umbrüchen waren hilfreich? – Oder im biblischen O-Ton: Siehe, ich will Neues schaffen. Seht ihr es denn nicht? (Jes 43,19). Der Ertrag dieser Tagung ist in diesem Band zusammengetragen und erweitert worden. Im Einzelnen widmen sich die Beiträge dem Umbruch der Kirche aus verschiedenen Perspektiven.

Hans-Hermann Pompe plädiert für die Suche nach „Geburtshelfern der Veränderung“. Dazu bezieht er sich auf Einsichten aus der Kreativitäts- und Innovationsforschung. Auch wenn genügend Ideen vorhanden sind, gilt es Freiräume für deren Umsetzung zu schaffen. Dazu benötigt die Kirche Neugier auf das Neue, Vertrauen als Basisressource und den Mut, Menschen freizusetzen. Der Umgang mit dem zu erwartenden Mangel ist eine besondere Herausforderung auf dem Weg in die Zukunft. Pompe führt aus, dass Armut kein Hindernis ist – verschiedene Formen von Trägheit dagegen schon. Zum Schluss fragt Pompe nach den Personen, den „Pionieren des Wandels“ oder „Schlüsselpersonen in Veränderungsprozessen“. Sie gedeihen da, wo Freiwilligkeit und ein hohes Maß an Kommunikation möglich ist. Deren Förderung und der damit einhergehende Balanceakt zwischen Effizienz und Chaos wird ein spannendes Lernfeld für Kirche auf allen Ebenen werden.

Annegret Böhmer stellt in einem interaktiv angelegten Vortrag kirchliche Handlungsmuster auf den Kopf und argumentiert therapeutisch für eine Fokussierung auf Lebensqualität in der Kirche. Lebensqualität entsteht ihrer Meinung da, wo sich Menschen auf das konzentrieren, was ihnen Freude bereitet und positiv für sie ist. Das Arbeiten für den unbekannten anderen lähmt. Allerdings bedarf es auch einiger Übung, sich auf das Positive einzustellen und dem natürlichen Sorgen nicht nachzugeben.

Christhard Ebert zeigt in seinem Beitrag die Zusammenschau und die Gemeinsamkeiten von Mission und Region. Region ist ein Containerbegriff, der vieles beinhaltet. Grundlegend ist dazu zu sagen, dass Regionen nicht einfach vorhanden sind, sondern in verschiedenen Prozessen entstehen. Die Beschreibung dieser Prozesse aus der Perspektive der Mission mit Verheißungen und Orientierung am Grundauftrag der Kirche bringt den entscheidenden Unterschied einer ‚Regionalentwicklung‘ zu eher rückbauorientierten Prozessen der ‚Regionalisierung‘.

Gert Pickel fragt nach den Trends im Umbruch. Seine Analysen beruhen vor allem auf den Daten der V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung. Er argumentiert, dass eine genaue Analyse der Gegenwart den Weg in die Zukunft weist. Traditionsabbruch und Pluralisierung sind die zu organisierenden Herausforderungen. Gleichzeitig zeigt sich in den Analysen die Relevanz der Kirche für die Gesellschaft. Kirche, die als Gemeinschaft die Basis für Religiosität bildet, bietet Gelegenheitsstrukturen für zivilgesellschaftliches Engagement. Dies trifft einerseits auf die Werte der Kirchenmitglieder und andererseits auf die Erwartungen an Kirche von innen und außen. In diesen (lokalen) Netzwerken zeigt sich die Relevanz von Kirche. Bei all dem wird Pickel nicht müde darauf zu verweisen, dass Indifferenz oder besser Religionslosigkeit eine gesellschaftlich relevante Option ist, die nicht auf ein neues Aufblühen der Religion zuzugehen scheint.

Konrad Merzyn bringt eine kirchenleitende Sicht auf die Ergebnisse der V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung ein. Sein Ansatz steht deutlich in Spannung zu den Ausführungen von Gert Pickel. Letzterer argumentiert für den Vorrang der Säkularisierungstheorie, während Merzyn eine Vermittlung der drei gängigen Religionstheorien als Grundlage für kirchenleitendes Handeln bestimmt. Gegen Pickel votiert Merzyn auch, dass die Theologie eine nicht unbedeutende Rolle hat, um Kirche von morgen zu entwickeln. Der Weg von der Volkskirche zur pluralismusfähigen Großkirche ist ein anspruchsvoller Rückbau. Einig sind sich Merzyn und Pickel in der Bedeutung der (frühen) religiösen Sozialisation für die Kirchenbindung. Merzyn legt auf dieser Grundlage Schwerpunktsetzungen bei kirchlichen Handlungsoptionen dar. Hierzu gehört unter anderem auch die Förderung der Außenorientierung und Kommunikation in der Öffentlichkeit.

Thomas Schlegel widmet sich der komplexen Verhältnisbestimmung von Umbau, Rückbau und Aufbau in der Kirche. Er bringt die Zusammenhänge auf die griffige Formel: Umbau ist Neuaufbau im Rückbau. Diese Formel wird dann dreifach beschrieben, so dass die Beziehung von Aufbau und Rückbau deutlich wird. Rückbau ist und bleibt ein Trauerprozess, der nicht automatisch zu Neuem führt. Trotzdem bringt der Rückbau günstige Rahmenbedingungen für Neues mit sich. Wo zurückgebaut wird, entsteht Freiraum, und Not macht erfinderisch. Aufbau ist gleichermaßen ein eigenständiger Prozess, der ebenso wie der Rückbau Energie, Personal und Finanzen benötigt. Auch wenn Not erfinderisch macht, gibt es eben keinen kausalen Zusammenhang von Rückbau und Aufbau. Schlegel zeigt, dass deswegen beides im kirchenleitenden Handeln zusammenkommen muss: die Planung des Rück- und Aufbaus. Da der Rückbau derzeit in Fahrt ist, muss der Aufbau besonders gefördert werden. Aufbauprozesse entziehen sich jedoch zentraler Planbarkeit, weswegen hier Mut und Vertrauen in Akteure vor Ort investiert werden sollten, weil bei ihnen entscheidend Neues entsteht.

Hubertus Schönemann beschreibt nach einer konzisen Zeitanalyse und Reflexion theologischer Grundlagen die kopernikanische Wende im Denken über das Ehrenamt. Der katholische Theologe zeigt, dass die Kirche im Umbruch diesen neuen Umgang mit Ehrenamtlichen entdeckt: Nicht die Aufgaben brauchen Menschen, die sie ausführen, sondern die Gaben der Menschen – des Volkes Gottes – führt zu den Aufgaben der Kirche. Neben Anmerkungen, welche Veränderungen das in den Berufsbildern der Hauptamtlichen mit sich bringt, verweist Schönemann – mit weitem ökumenischen Horizont – auf vorhandene Praxisbeispiele und Seminare zur Entdeckung und Förderung von Gaben.

Ein analytischer ökumenischer Blick kommt mit der Lambeth Lecture des anglikanischen Bischofs Richard Chartres aus London. Er zieht sein Fazit aus 20 Jahren Kirchenleitung in der englischen Metropole. Was hat das zerstrittene und um 1990 kurz vor dem finanziellen Kollaps stehende Bistum London zu einer der blühendsten und innovativsten Diözesen der Kirche von England werden lassen? Chartres reflektiert hoch komplexe Entscheidungen über Gebäude, Stellen, Finanzen, Gremien, Personal oder Theologie, er führt geistliche Leitung zurück auf einige wenige, aber unaufgebbare Aufgaben eines Bischofs. Als ‚Geburtshelfer des Wandels‘ will er die Zukunft des Ganzen im Blick haben, steht auch zu unpopulären Entscheidungen oder riskanten Prozessen. Anhand einer Fülle von komplexen Zusammenhängen und kybernetischen Prozessen reflektiert er, wie geistliche Klarheit wächst und so eine große Diözese mehr und mehr von Aufbruchsgeist, missionarischen Visionen und zukunftsfähigen Strategien durchdrungen wird.

Wir sind dankbar für die Fertigstellung des Bandes als erweiterte Dokumentation der Jahrestagung des EKD-Zentrums für Mission in der Region 2015. Besonders danken wir Frau Dr. Annette Weidhas von der Evangelischen Verlagsanstalt für die Betreuung des Bandes, stud. theol. Nico Limbach für die Übersetzung und stud. theol. Frederike Kathöfer für alle Hilfe bei den Korrekturen.

Hans-Hermann Pompe und Benjamin Stahl

Entdeckungen im Umbruch der Kirche

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