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Kreativität im Umbruch
ОглавлениеEs gibt den Traum von einer Vergangenheit, in der alles besser und leichter war. In Köln waren dafür die Heinzelmännchen zuständig: Sie haben die ganze Arbeit übernommen, den Kölnern ein leichtes Leben ermöglicht:
„Wie war zu Cölln es doch vordem,
Mit Heinzelmännchen so bequem!
Denn, war man faul: … man legte sich
Hin auf die Bank und pflegte sich:
Da kamen bei Nacht,
Ehe man’s gedacht,
Die Männlein und schwärmten
Und klappten und lärmten
Und rupften und zupften Und hüpften und trabten
Und putzten und schabten ….
Und eh ein Faulpelz noch erwacht, …
War all sein Tagewerk … bereits gemacht!“ 1
Man kann die Ballade des Breslauers August Kopisch als eine zeitgenössische Kritik lesen: Er transportiert 1836 die Sage aus dem Siebengebirge in die wachsende Großstadt Köln – in einem vorrevolutionären Zeitraum mit drohenden gesellschaftlichen Konflikten, unter einer für die katholischen Kölner fremden preußischen Staatlichkeit, die für die traditionsreiche Stadt ebenso Ärger wie Wachstum und Wirtschaftsaufschwung bedeutete. Die schönen Zeiten der kurkölnischen Vergangenheit waren vorbei, die Gegenwart war eine Umbruchsituation mit Verlierern und Gewinnern, die Zukunft hieß allemal Eigenverantwortung. Ein kräftiger Schwung Aufklärung schwingt mit bei der Ballade vom Verlust der geheimnisvollen Schutzmächte, so etwas wie der unbeabsichtigte Ausgang des Menschen aus seiner selbst bejahten Unmündigkeit.
Kreativität im Umbruch bedeutet für die Kirche Annahme einer neuen Situation, Aufbruch zur Eigenverantwortung. Sie bringt Arbeit zusammen mit Motivation, Gaben mit Aufgaben, Herausforderungen mit Ideen. Aber potenzielle Kreativität muss befreit werden, denn sie kann in realen Heinzelmännchen-Fallen feststecken: Etwa in der nostalgischen Verklärung geschichtlicher Privilegien einer ehemaligen Mehrheitskirche; in den Kränkungen durch Desinteresse, Indifferenz und Austritte; im Rückzug auf die verbleibenden Inseln gelingender Kirchlichkeit; in der Selbstsuggestion scheinbarer Bestandsfestigkeit; oder in der illusorischen Rechtfertigung von Nichtteilnahme der Mitglieder als Ausweis evangelischer Freiheit.
Ich will für eine Kirche im Umbruch einen anderen Weg gehen, um gottgeschenkte Kreativität als Ressource zu entdecken: Ich will (1) die Räume der Kreativität abstecken, (2) den absehbaren Mangel als Chance entdecken und (3) eine kreative Typologie der Verantwortlichen vorlegen.
1. Die Räume: Das kreative Feld öffnen
Die Kreativitätsforschung sieht in Freiräumen zum ungewohnten Denken und Handeln einen der zentralen Schlüssel zu kreativen Lösungen: Freiraum, um Neues zu entdecken, das verborgen schlummert; Freiraum, um Sicherheiten zu verlassen und etwas Ungewohntes zu wagen; Freiraum, um Fehler zu machen, die das notwendige Risiko jeder Veränderung sind; Freiraum für unersetzliche Querdenker, die sich nicht einpassen lassen.
2012 legte eine Expertenkommission für die Bundeskanzlerin die Ergebnisse aus dem „Dialog über Deutschlands Zukunft“ vor. Die Untergruppe Innovationskultur stellte fest: „Deutschland ist reich an Innovationskapital und an wissenschaftlichen Ressourcen. Aber es mangelt an einem kreativen Umgang mit unseren Möglichkeiten und Ressourcen sowie an positiven Leitbildern.“ Und sie schlug vor: „Innovationen bedürfen kreativer Freiräume, in denen sie sich entfalten können, und grundlegender Kompetenzen, mit einer unsicheren, aber gestaltbaren Zukunft umzugehen. Dazu bedarf es einerseits Infrastrukturen für Innovationen, die technische und soziale Elemente neu verknüpfen, und Möglichkeitsräume, in denen mit neuen Formen des Innovierens experimentiert werden kann. Andererseits erfordert die Komplexität und Langfristigkeit der relevanten (globalen) Entwicklungen ein strategisches Vorgehen, das die grundlegende gesellschaftliche Kompetenz voraussetzt, mit einer ungewissen Zukunft umzugehen (‚Futures Literacy‘).“ Solche Freiräume ständen bislang nicht ausreichend zur Verfügung, in denen man „Innovation lernen und erfahren“ kann.2
Man kann diese gesellschaftliche Analyse genauso wie den entsprechenden Innovationsbedarf auf die evangelische Kirche übertragen. Wir haben einen hohen Bedarf an Freiraum für Innovations- und Möglichkeitsräume. Möglicherweise haben wir als Kirche in der prophetischen Tradition etwas bessere Chancen, um mit einer ungewissen Zukunft umzugehen. Aber ich bezweifle einen kirchlichen Automatismus, denn Prophetie hat dort die größten Schwierigkeiten, wo sie dem Kontext entstammt: „Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Haus“, sagt Jesus resignierend über seine Heimatstadt (Mk 6,4). Die Kirche muss wie alle anderen lernen, den prophetischen Widerspruch zuzulassen, zu hören und im Aufbruch gehorsam zu sein.
Freiraum entsteht zwischen Chaos und Effizienz, sagt der Organisationsentwickler Leo Baumfeld: „Vor allem soziale Systeme, die eine Organisation haben, aber nicht darauf reduziert werden können wie z. B. Kirchen, spüren die Dynamik zwischen Ordnung und Chaos. Das nicht Berechenbare soll aus der Sicht der Organisation in eine Ordnung münden. Gleichzeitig leben diese sozialen Systeme auch von der Unordnung, dem nicht Berechenbaren. Die Vielfalt ist die Grundlage dafür, nachhaltig lebensfähig zu sein. Die Ordnung ist die Grundlage dafür, effizient zu sein.“3 Vitalität ist nach Baumfeld da am nachhaltigsten, wo beides in guter Balance ist.
Was fördert Freiräume in der Kirche? Ich meine nicht die individualistischen Freiräume eines protestantischen Jedertut-was-er-will, und von anderen oder von oben lassen wir uns schon gar nichts sagen. Auch nicht die theologischen Freiräume des anything goes, wo evangelisch heißt: „alles ist möglich und nichts ist klar“. Auch nicht die liberalen Freiräume des „Jeder kann glauben, was und wie er will, und wir bleiben irgendwie unter dem Evangelium zusammen“. Auch nicht die orthodoxen Freiräume von „Klare Kante, klare Verkündigung, Schluss mit lustig“, wo die Freude des Evangeliums längst einer verbissenen Rechthaberei gewichen ist. Es geht mir um diejenigen Freiräume, die Gott öffnet. Hier gilt Vorsicht vor jedem Enthusiasmus: Gottes Freiräume entsprechen selten unseren Wünschen, sie führen häufig durch tiefe Wasser oder in dürre Wüsten, ihre Begleitmusik ist Murren und Widerstand. Aber erst sie sind wirklich Frei-Räume, denn unser Schöpfer führt uns zurück in seine Freiheit. Einer öffnet sie, der sich für die Fesseln hingegeben hat, an die wir uns gewöhnt haben. Sie entstehen unter dem liebevollen Werben des Geistes, der uns leise an unsere eigentliche Berufung erinnert.
Was fördert diese Freiräume des Aufbruchs? Ich nenne drei Faktoren.
Zuallererst unsere Basisressource Vertrauen. Es ist eine meiner seltsamen Erfahrungen in den letzten Jahren, dass wir als Evangelische aus Glauben leben wollen, uns auf Vertrauen (fides) als reformatorische Grundkategorie berufen, aber gegen die Frage nach Gottes Leitung und noch stärker gegeneinander ein verhinderndes Misstrauen kultivieren. Viele in der Kirche trauen Jesus keine Zukunft seiner Kirche zu, weil sie selber am Ende ihrer Möglichkeiten sind. Pfarrerinnen und Pfarrer leben untereinander gerne eine gepflegte Skepsis, Gemeinden sehen die Nachbargemeinden als Konkurrentin, die Handlungsebenen in der Kirche begegnen sich vielerorts mit latentem Misstrauen. Wie soll da etwas Neues entstehen, wo Vertrauen nicht gesucht, erhalten und gebaut wird?
Vertrauen ist ein knappes Gut, das sich schnell verbraucht, wenn es nicht ständig gefördert und neu gegeben wird. Viel Kreativität erfordert viel Vertrauen: Vertrauen der Angesprochenen in ihre eigene Begabung durch den Schöpfer, Vertrauen der Verantwortlichen in die mühsamen Innovativen, Vertrauen der Organisation zu den Umsetzern, Vertrauen der Institution in die quer zum System Stehenden, Vertrauen der Innovativen zu denen, die ihnen den Rücken freihalten. Der Freiraum zum Aufbruch stellt ständig die Vertrauensfrage, und wo Vertrauen verweigert wird, schrumpft er.
Außerdem benötigt der Freiraum der Kreativität Neugier, also schlicht Lust auf das, was nicht schon immer so war: Interesse an denen, die noch nicht dabei sind, Neugier auf ungebahnte Wege, Lust zu ungewohntem Verhalten. Neugier war in Köln der Auslöser für den Abschied von einer überholten Vergangenheit: Die neugierige Frau des Schneiders streut Erbsen auf die Treppe, die Heinzelmännchen stolpern und verschwinden für immer. Ein Bild für die unberechenbaren Folgen von Neugier, aber auch für Eigenverantwortung, die Probleme und Arbeit nicht mehr an andere Instanzen delegieren will. Neugier entsteht aus Leiden an Unzureichendem, aus Unzufriedenheit mit zu engen Möglichkeitsräumen, aus nicht akzeptierten Sackgassen.
Und Kreativität lebt schließlich von Freisetzen: Sie ist weder zu befehlen noch zu reglementieren, aber sie wird freigesetzt, wo Menschen Gutes zugetraut wird. Die Bildungsforscherin Teresa Amabile hat Kreativitätskiller bei Kindern erforscht.4 Kreativität wird z. B. verringert durch Beaufsichtigung: Wenn wir unter ständiger Beobachtung stehen. Oder durch Bewertung: Wie beurteilen mich andere? Auch durch Gängelung: Vorschreiben, was wie zu tun ist – Selbstständigkeit und Exploration erscheinen dann als Fehler. Oder durch Einengung der Entscheidungsspielräume, statt Kinder nach Lust entscheiden zu lassen und Neigungen zu bestärken. Druck verhindert Kreativität: Überhöhte Erwartungen an Leistungen. Auch das Vorenthalten von Zeit, also Reglementieren, Unterbrechen und Herausreißen – statt Kinder selbst den Zeitbedarf festlegen zu lassen. Freisetzen eröffnet einen Freiraum für Kreativität – nicht die endlosen Sitzungen unserer Gremienkultur, die Zeit und Personen verschleißen. Sondern die Erlaubnis zum Experimentieren, zum Anfangen und zum Scheitern.
Wir haben in missionarischer Hinsicht erhebliche Freiräume in der offenen Gesellschaft, z. B. Freiräume zur Beteiligung am Leben anderer Menschen, Freiräume für Interesse, Präsenz, Gastfreundschaft, Beziehungen. Der Soziologe Hans Joas erzählt ein Beispiel: „Einer der Erfurter Theologieprofessoren, mit dem ich auch etwas befreundet bin und der in einem Dorf in Thüringen lebt, hat mir ein Beispiel gegeben: Er erzählte, im Regelfall gibt es rein säkulare Bestattungen, er habe es sich aber zum Prinzip gemacht, all diese Bestattungen zu besuchen und gewissermaßen als ‚Mitbewohner‘ dort anwesend zu sein. Das führe sehr häufig dazu, dass trauernde Angehörige in den nächsten Tagen bei ihm zu Hause vorbeischauen und sich bedanken für seine Anwesenheit. Aus diesen eigentlich nur als kurze ‚Stippvisite‘ gedachten Besuchen entwickeln sich oft stundenlange Gespräche über Trauer, über den Tod, über das, was wohl nach dem Tod kommt usw. Ich will damit sagen: Er leistet Seelsorge im allerbesten Sinn gegenüber Menschen, die nicht nur nicht Mitglied einer Kirche sind, sondern denen überhaupt jeder Zugang zu dem, was unter Kirche und Glauben läuft, abhanden gekommen ist und vielleicht sogar schon über mehrere Generationen.“5
Was passierte, wenn sich Gemeinden verabreden, offene Türen zu nutzen, z. B. bei den Beerdigungen der Konfessionslosen? Wenn wir als Pfarrer nicht zuerst fragen, ob wir zuständig sind, sondern ob jemand uns braucht? Das wären ähnliche Haltungen wie die der ersten Christen, die den anonym Verstorbenen eine Beerdigung in Würde ermöglichten. Kaiser Julian, der versuchte, die Hinwendung zum Christentum zurückzudrehen, konzedierte widerwillig: „Begreifen wir denn nicht, dass die Gottlosigkeit (= das Christentum) am meisten gefördert wurde durch ihre Menschlichkeit gegenüber den Fremden und durch ihre Fürsorge für die Bestattung der Toten? … Die gottlosen Galiläer ernähren außer ihren eigenen Armen auch noch die unsrigen; die unsrigen aber ermangeln offenbar unserer Fürsorge.“6 So etwas würde uns einen erheblichen Anteil an gesellschaftlichem Respekt wie Vertrauen zurückbringen, das die Kirchen mit Missbrauchsfällen, irrelevanten Gottesdiensten oder überkommenen Privilegien auf Spiel gesetzt haben.
2. Die Situation: Kreativität im Mangel entwickeln
Ein berühmtes Foto von 1948 zeigt das Wenige, das Gandhi am Ende seines Lebens besaß: zwei Paar Sandalen, eine Brille, eine Uhr, zwei Messer, ein Buch … ein unglaublich einfaches Leben mit einer enormen Wirkung weit über Indien, weit über sein Leben hinaus. Wir gelten weltweit als eine der reichsten Kirchen – und das Verrückte ist: Obwohl wir mehr Menschen verlieren als wir gewinnen, haben wir immer noch viel Geld. Klaus Pfeffer, der Generalvikar des Bistums Essen sagte sinngemäß bei einer Tagung:„Das wieder kräftig sprudelnde Geld wird fatal wirken, denn es hält von notwendigen Veränderungen ab.“ Mehr Geld, weniger Mitglieder – beunruhigt uns das wirklich? Ein Vers aus dem Sendschreiben an die Gemeinde in Laodicea sagt: „Du sprichst, ich bin reich und habe genug und brauche nichts, und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß“ (Offb 3,17).
Nun bedeutet Mangel, Knappheit nicht immer Gutes. Es gibt Mangel als Defätismus, oder mit Karl Barth gesprochen, als Trägheit, also als grundlegendes Format von Sünde. Trägheit ist des Menschen Unglaube: „Er verschließt sich dem göttlichen Wohlwollen, das ihm in der göttlichen Forderung zugewendet ist“, er möchte von diesem, von Gott ihm gesandten Nächsten, von Jesus, mit dessen „Ruf in die Freiheit in Ruhe gelassen sein. Er hält die ihm in seiner Existenz angekündigte Erneuerung des menschlichen Wesens für unnötig […]. Ein ernstliches Bedürfnis, ein Hunger und Durst nach dessen Erneuerung ist ihm unbekannt.“7
Trägheit erscheint bei Barth in den klassischen Formaten von Dummheit, Unmenschlichkeit, Verlotterung und Sorge. Ich erlebe sie heute v.a. als Resignation, als Gekränktheit, als Verweigerung oder Nostalgie. Man könnte sie klinisch als ‚Anelpidose‘ diagnostizieren, als Hoffnungsmangel8: ein Unglaube, der unserem Gott die Zukunft nicht mehr zutraut und deshalb lieber Sündenböcke sucht als schwierige Veränderungen annimmt. Der Anelpidose fehlt die Verheißungsorientierung, das Vertrauen auf Gottes Möglichkeiten, so wie den Skorbutkranken früherer Jahrhunderte Vitamin C fehlte und ihnen damit allen Antrieb nahm.
Mangel als Trägheit heißt: alles geschehen lassen, die Weiterrechnung der Trends als Fatum sehen, sich absehbaren Entwicklungen einfach hingeben, die Propheten göttlicher Möglichkeiten als Träumer diskreditieren. Wer die Zukunft nur als Extrapolation bisheriger Entwicklungen sehen kann, unterstellt sich anderen Gesetzen als denen von Jesaja 43,19: Denn da setzt das unberechenbare Wirken Gottes eine Realität, die der entscheidende Faktor jeder Zukunft ist. Die einzige Voraussetzung menschlicherseits ist das Unableitbarkeitskriterium des Jesaja: nicht vom Früheren, vom Vorigen allein die Zukunft ableiten, sie ist ja gerade neu, unableitbar – und „siehe!“, die Augen für alles öffnen, was aufzuwachsen beginnt, es will entdeckt werden.
Trägheit hat auch Anteile von Kurzsichtigkeit. Kann es denn sein, dass die sieben finanziell fetten Jahre jetzt vor allem zur Erhöhung der Rücklagen oder zur Sicherung der Altersversorgung der Babyboomer-Generation genutzt werden? Viel wichtiger wären das Ermöglichen von neuen Formen, das Aufspüren von Alternativen, die Herausforderung ungewöhnlicher Ziele, der Umbau überkommener Strukturen, der Aufbau von Alternativen zur herkömmlichen Finanzierung, die Freistellung von Pionieren für Arbeit unter Unerreichten.
Es gibt biblisch auch einen klugen Umgang mit Ressourcen bei absehbarem Mangel: in den fetten Jahren klug umgehen mit dem Reichtum, um für den kommenden Mangel vorbereitet zu sein (Gen 41). Dann gibt es Segen im Mangel. Nur so kann Mangel zur Ressource werden, kann Knappheit zum Antrieb führen. Nur dann ist Hunger der beste Koch, der ungewohntes Denken fördert und handeln lässt.
Ich bin kein Prophet, und das Ärgerliche am biblischen Kriterium für falsche bzw. echte Prophetie ist, dass man erst im Nachhinein klüger ist (Dtn 18,20 – 22). Aber es gibt einiges Aufbrechende, was es wert wäre, jetzt mit allem unterstützt zu werden, was uns möglich ist, damit sich daraus mögliche Zukunft entwickeln kann. Neue Formen von Gemeinde z. B., die sich nicht in die herkömmliche Trias von Institution, Organisation oder Bewegung fassen lassen. Auch eine Willkommenskultur für die vielen Gemeinden der fremdsprachlichen Christen unter uns wäre zukunftsfähig: Teilen unserer Gebäude statt Mietzahlungen von Geschwistern, Besuche in ihren Gottesdiensten statt exotischer Gesangsauftritte in unseren Gottesdiensten, Neugier auf Gottes Wirken dort statt Angst vor einer unberechenbaren Theologie und Frömmigkeit.9
Oder der Aufbruch zu Unerreichten. Warum sollen in den kommenden Jahren nicht auch Menschen aus der muslimischen Bevölkerung hier in Jesus mehr und anderes entdecken als nur einen Vorläufer ihres 700 Jahre später gekommenen eigentlichen Propheten Mohammed? Es sind die jungen Einwanderer, die unsere Zukunft mitbestimmen werden. Was hindert uns, um sie mit der Liebe Christi zu werben? Nicht in der Situation von Verfolgung und Mangel, da brauchen sie Gastfreundschaft und Solidarität. Aber in absehbar kommenden Begegnungen auf Augenhöhe, in allen Kontaktmöglichkeiten, die unsere offene Gesellschaft braucht und bietet. Einladende Präsenz, Zeugnis des Evangeliums und Austausch des Lebens können Menschen zu Christus führen. Die weltweite Kirche tut das, ohne dass Dialog, Konvivenz und Mission zu Alternativen werden. In Tansania etwa gibt es sowohl eine Tradition des friedlichen Zusammenlebens wie auch eine nennenswerte Zahl ehemaliger Muslime, die Christen geworden sind. Hier in Deutschland sind es an einigen Orten iranische Schiiten, die sich für den christlichen Glauben interessieren und sich taufen lassen.
Oder da ist die wachsende Zahl der Indifferenten. Detlef Pollack stellt fest: „Oft steht hinter der Abwendung von Religion und Kirche nicht eine bewusst vollzogene Wahl, sondern lediglich eine Aufmerksamkeitsverschiebung.“ Diese ‚Distraktions-These‘ sagt nicht, dass der Gottesdienst an sich für Indifferente uninteressant wäre, sie stellt aber sein schleichendes Ersetzen durch anderes fest: „Sie haben einfach anderes zu tun. Kircheninterne Gründe, dem Gottesdienst fernzubleiben, schlechte Predigten oder störender Gesang spielen hingegen keine zentrale Rolle. […] Die Abwendung von der Kirche vollzieht sich […] lautlos, unreflektiert und geradezu automatisch, als eine Abstimmung mit den Füßen, die sich einfach nicht mehr in Bewegung setzen wollen.“10 Auch das ist kein Automatismus: Warum soll es unmöglich sein, offene Indifferente wieder in relevante, einladende und kulturnahe Gottesdienste zu locken? 2011 kamen 70.000 Menschen in Großbritannien in Gottesdienste, die ohne Einladung nie dahin gekommen wären; Gottesdienst kann durchaus attraktiv sein, wie die Auswertungen des jährlichen Back to Church Sunday zeigen. Einige Pilotregionen hier werden es in den nächsten Jahren ausprobieren, ob und wie Gottesdienst auch in Deutschland für Distanzierte oder Indifferente eine inspirierende Erfahrung, eine Option auf Gottesbegegnung werden kann.
3. Die Handelnden: Zur Kreativität der Verantwortung
„Wo kämen wir hin, wenn alle sagten, wo kämen wir hin, und niemand ginge, um einmal zu schauen, wohin man käme, wenn man ginge“, dichtet Kurt Marti.11 Bei der Transformation unserer Kirchen und Gemeinden hin zu zukunftsfähigen Gestalten spielen risikobereite Verantwortliche, Pioniere, Kundschafterinnen, Anstoßgeber auf allen Ebenen eine Schlüsselrolle: Es sind die mit der Initiative, die Multiplikatorinnen und Leitungsverantwortlichen. Aufbrüche beginnen mit den Vernetzungen bestimmter Typen von Gemeindegliedern, Wachstum von Gemeinden und Erfolg von Projekten hängen ab von bestimmten Schlüsselbegabungen der Verantwortlichen.
Hier ist eine auffällige Weiterentwicklung gegenüber dem lange vorherrschenden strukturellen Denken zu beobachten: Einzelnen Akteuren kommt in Veränderungsprozessen eine viel größere Rolle zu, „als ihnen lange Zeit – in welcher das Forschungsinteresse zumeist auf die Grenzen des Handelns und systemische Emergenzeffekte gerichtet war – zugestanden worden ist“.12 Initiative Personen können größere Gruppen motivieren, Transformationen auslösen, Umbrüche begleiten und durch die langen Strecken der Wüste das Ziel im Blick behalten. Sie sind Multiplikatoren, vermitteln zwischen abgeschlossenen Gruppen. Sie praktizieren die „Stärke der schwachen Bindungen“ (nach Mark Granovetter13), also die Stärke von Kontakten, Bekanntschaften und Begegnungen. Enge Freunde, tiefe Beziehungen beschränken uns mit ihren starken Bindungen auf die eigene kleine Welt, aber je mehr Bekannte man hat, desto mehr Einfluss ist möglich, denn Bekannte leben noch in ganz anderen Welten. Gemeinden tendieren zu starken Bindungen – gut für alle, die dazugehören, schlecht für die anderen, also für die Reichweite und für die Mission. Initiative Personen leben in vielen schwachen Bindungen, bauen Brücken zu anderen Gruppen, sind Verbindungen in Netzwerken.
In der Change-Management-Forschung werden diese Schlüsselpersonen von Veränderung Heroes genannt, Pioniere des Wandels, change agents: „Sie verbreiten Innovationen, indem sie eine Politik des ‚Weiter-so-wie-bisher‘ hinterfragen, eine alternative Praxis schaffen und somit etablierte Weltbilder und Pfade in Frage stellen, Einstellungs- und Verhaltensmuster herausfordern sowie bei neuen Gleichgesinnten (followers, early adopters) eine dauerhafte Motivation zum selbst tragenden Wandel schaffen.“14
Es gibt verschiedene Funktionen und Typen der change agents, die sich überlagern können. ‚Welt im Wandel‘ kennzeichnet deren Rolle sowohl bei Innovation wie bei Umsetzung so: „Im Innovationszyklus handeln Pioniere des Wandels, indem sie offene Fragen und Herausforderungen benennen und auf die Tagesordnung setzen, indem sie als Katalysatoren Problemlösungen erleichtern, indem sie als Mediatoren zwischen Konfliktgruppen vermitteln oder in Gruppen blockierte Entscheidungsprozesse freisetzen, indem sie disparaten Innovationsbedarf zusammenfassen oder indem sie zur Problemlösung notwendige institutionelle Innovationen ‚von unten‘ oder als Entscheidungseliten ‚von oben‘ auf den Weg bringen. Im Produktionszyklus betätigen sich Pioniere des Wandels als Erfinder, Investoren, Unternehmer, Entwickler oder Verteiler neuer Konzepte, Produkte und Dienstleistungen, aber auch als ‚aufgeklärte Konsumenten‘, indem sie neue Produkte nachfragen und zirkulieren lassen.“15 In kirchlichen Umbrüchen werden sie auf allen Ebenen benötigt und brauchen ihre Freiräume.
Pioniere des Wandels sind unersetzlich: Sie bilden auf der Mikroebene das Gegengewicht zu den allgegenwärtigen Vetospielern, ähnlich wie Aufbruchsstimmung auf der Mesoebene Verlustaversionen auffängt und Innovation auf der Makroebene Kulturbarrieren überwindet.16 Eine Übertragung auf unsere drei Ebenen Gemeinde, Kirchenbezirk und Landeskirche liegen nahe. Wir im ZMiR suchen bundesweit nach Pionieren des Wandels, weil wir auswerten wollen, was sie wagen, weil wir sehen wollen, was sie richtig und was sie falsch machen – von beidem können viele andere lernen. Interessanterweise hat die anglikanische Kirche inzwischen landesweit einen eigenen pastoralen Ausbildungsgang für Pioniere (pioneer ministry) eingerichtet – eia, wären wir da.17
Mit ihren Haltungen und ihren Möglichkeiten können Leitungsverantwortliche Kreativität in Kirche und Gemeinden unterstützen, zwei Faktoren werden dabei oft unterschätzt. Der eine Faktor ist ein größtmögliches Maß an Freiwilligkeit. Es gibt vor, neben und nach allen verpflichtenden synodalen Mehrheitsentscheidungen ein weites Feld von veränderungsrelevanten Entscheidungen und Prozessen, die nicht von 100-Prozent-Teilnahme abhängen, wo eine einladende Freiwilligkeit aber Klima, Kultur und Wirkung von Veränderungen entscheidend mitbestimmt. Freiwillige Prozesse setzen auf die Gewinnung von Menschen, auf ihre Motivation und Leidenschaft, auf ihre Einsicht und Partizipation. Wer so gewonnen ist, wird nicht zähneknirschend oder mit dem geringstmöglichen Einsatz mitmachen, sondern sich die Anliegen zu eigen machen und sein Bestes geben. Einfach gesagt: Kreativität geht nur freiwillig. Umgekehrt: Wer zunächst zurückbleiben darf, kann durchaus später durch den Sogeffekt noch an Bord kommen – vorausgesetzt, es gibt weitere Zustiegsmöglichkeiten in Veränderungsprozessen. Der Gewinn, die guten Ergebnisse oder Leidenschaften anderer haben ihre eigene langfristige Attraktivität: „Wenn die das haben, wollen wir das auch haben.“
Ein weiterer Schlüsselfaktor ist ein größtmögliches Maß an Kommunikation. Trotz aller unserer Papiere und Texte sind Menschen erschreckend uninformiert, bleiben unbeteiligt, sowohl im Vorfeld als auch während oder im Nachgang von Entscheidungen. Hier gibt es eine Art von kollektiver evangelischer Beschluss-Illusion: Wir glauben an die Selbstwirksamkeit von synodalen Beschlüssen und an die Selbstevidenz von kirchlichen Texten. Die Kirche des Wortes tritt vor allem als Kirche der Texte auf. Aber das bleibt eine Illusion: Gewonnen werden Menschen nicht zuerst durch Information, sondern durch Kommunikation. Jeder „Transformationsprozess ist zum Scheitern verurteilt, wenn ‚Experten‘ auf die Selbstevidenz der Vernünftigkeit ihrer am grünen Tisch erarbeiteten Vorschläge setzen und ‚Laien‘ durch Informationskampagnen und Anreizsysteme veranlassen (wollen), entsprechende Maßnahmen im Nachhinein zu akzeptieren.“18
Die eigentliche Arbeit fängt lange vor der Entscheidung an, der eigentliche Transfer findet v.a. persönlich statt: Wer mich erreichen oder engagieren will, muss mit mir kommunizieren, muss mich aufsuchen, beteiligen und einbinden. Wenn ich jemand von unserer Arbeit im ZMiR berichte, überreiche ich den Veröffentlichungsprospekt selten ohne eine Erzählung aus einem konkreten Projekt. Ich frage auch häufig zurück, z. B.: Worauf würden Sie sich jetzt an unserer Stelle konzentrieren? Denn der fremde Blick ist für die eigene Planung unersetzlich. Und ich versuche, gerade die einzubinden, die nicht alles bestätigen, die kreativen Unruhestifter, die mit dem eigenen Kopf, die abseits der gewohnten Wege. Wir laden z. B. häufig neue Menschen ins Team ein, um mit ihnen Arbeitsvorhaben zu diskutieren, weil wir wissen, zu viele Verantwortliche haben sich schon in ihrem selbstreferenziellen Denken (group think) verrannt.
In Köln endet Kopisch’ Ballade mit einer Klage:
O weh! nun sind sie alle fort
Und keines ist mehr hier am Ort!
Man kann nicht mehr wie sonsten ruhn,
Man muß nun alles selber tun!
Ein jeder muß fein
Selbst fleißig sein,
Und kratzen und schaben
Und rennen und traben
Und schniegeln und biegeln,
Und klopfen und hacken
Und kochen und backen.
Ach, daß es noch wie damals wär!
Doch kommt die schöne Zeit nicht wieder her!
In London habe ich etwas anderes gefunden: Den Rechenschaftsbericht des Bischofs von London über den erstaunlichen missionarischen Aufbruch in seiner Diözese, den Richard Chartres nach 20 Jahren vorgelegt hat. Ich habe selten solch eine Kombination von Weisheit, Demut und Klarheit gefunden wie hier.19 Er reflektiert mehrere seiner Schlüsselentscheidungen, z. B. dass er als erster Bischof seit 200 Jahren wieder mitten in die City zieht. Er schildert die völlig überholte Struktur der großen Diözese am Ende der 80er Jahre mit ihrer Unzahl von Gremien und Ausschüssen für alles Mögliche, die man angesichts des Niedergangs einrichtete, mit dem erklärten Ziel, Beteiligung an Entscheidungen auszuweiten und Einsatz zu ermöglichen. Das Ergebnis war leider das Gegenteil: Überarbeitete Hauptamtliche, die sich mit den immer gleichen Themendiskussionen in kaum unterschiedlichen Gremien wiederfanden. Es gab Ideen in Fülle, nicht wenige neue Initiativen, aber es blieb kaum Energie für Umsetzung übrig. Die Verschmelzung bzw. Beendigung vieler Gremien schloss ein schwarzes Loch der Energie, die notwendigen Anstrengungen konnten endlich an denjenigen Orten landen, die Leben bewiesen und das missionarische Gen besaßen. Ähnlich wurde ein Finanzsystem umgestrickt, das faktisch Wachstum besteuerte und Tatenlosigkeit subventionierte – und dadurch viele in den Aufbrüchen frustrierte.
Richard Chartres schildert schwere Entscheidungen, die er gegen den Rat seiner Fachleute traf, z. B. den Erhalt und die Neubesetzung mehrerer Innenstadtkirchen, die angesichts zu geringer Teilnahme geschlossen werden sollten – alles unter der Anfechtung, dass er hier möglicherweise statt Glaubensschritten historische Fehler machte. Er weiß um den begrenzten Einfluss von Kirchenleitung, bietet aus seiner Erfahrung verschiedene Bilder dafür an: Leitung bedeutet Gemeinden segnen oder das Ganze im Blick halten, heißt Dirigent eines Orchesters sein oder ein Mitarbeiter unter vielen am Evangelium. Er redet vom ‚funktionalen Atheismus‘ in Teilen der Kirche: Er könne seinerseits nicht glauben, dass der Heilige Geist, der Urheber von Wachstum, eine schlichte Gussform, basierend auf Ökonomie, sei, und wisse, dass Programme und Beschlüsse aus sich nur eine sehr begrenzte Wirksamkeit hätten. So sei er, vom Wesen her eigentlich ein introvertierter Beobachter und Kommentator, durch die Berufung zum Bischof gezwungen worden, „a committed midwife of change“ zu werden, eine begeisterte Geburtshelferin des Wandels, was schlicht bedeute: vereinfachen, Störungen aus dem Weg räumen und dabei ein lebendiges Vertrauen auf Gott zu bewahren.
Die Zeit der Heinzelmännchen ist längst vorbei, Gegenwart wie Zukunft bieten definitiv keine Möglichkeit, Verantwortung an irgendwelche geheimnisvollen Problemlöser zu delegieren. Aber die schönen Zeiten liegen jedenfalls nach Jesaja 43 vor uns, und dafür können wir gar nicht genug ‚midwives of change‘, Geburtshelfer der Veränderung, haben.
4. Literatur
Bücher
BARTH, KARL, KD IV, 2, Zürich 19854.
BAUMFELD, LEO, Lebendigkeit und Institution. 1.7, Das Vitalitätsfenster, ZMiR:klartext Dortmund 2016, 31.
EVANGELISCHE KIRCHE IN DEUTSCHLAND, Gemeinsam evangelisch! Erfahrungen, theologische Orientierungen und Perspektiven für die Arbeit mit Gemeinden anderer Sprache und Herkunft, EKD-Texte 119, Hannover 2014.
GOLEMAN, DANIEL/KAUFMAN, PAUL/RAY, MICHAEL, Kreativität entdecken, München/Wien 1997.
GRANOVETTER, MARK S., The Strength of Weak Ties, American Journal of Sociology 78 (1973).
LOHFINK, GERHARD, Wie hat Jesus Gemeinde gewollt? Herder TB, Freiburg 1993 (1982).
POLLACK, DETLEF/ROSTA, GERGELY, Religion in der Moderne. Studienbrief R16. brennpunkt gemeinde 5/2015.
POMPE, HANS-HERMANN, Nachfolge mit leichtem Gepäck. Eine Einladung zur geistlichen Reise, Neukirchen-Vluyn 2015.
POMPE, HANS-HERMANN, Innovationen und frühe Mehrheiten, zmir:werkzeug Dortmund 2012.
WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT GLOBALE UMWELTVERÄNDERUNGEN, Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine große Transformation, WBGU Berlin, 20132, (2011).
Elektronische Quellen
CHARTRES, RICHARD, Lambeth Lectures, 30. September 2015, unter: <http://www.archbishopofcanterbury.org/articles.php/5621/bishop-of-london-delivers-lambeth-lecture-on-church-growth-in-the-capital>.
JOAS, HANS, Das Christentum globaler denken, unter: <http://blog.radiovatikan.de/„das-christentum-globaler-denken> (19. Juni 2012); eingesehen am 19. 12. 2015.
KOPISCH, AUGUST, Die Heinzelmännchen zu Köln (1836), zit. nach: <http://gutenberg.spiegel.de/buch/august-kopisch-gedichte-695/3>.
PRESSE- UND INFORMATIONSAMT DER BUNDESREGIERUNG (Hrsg.), Dialog über Deutschlands Zukunft. Ergebnisbericht des Expertendialogs der Bundeskanzlerin 2011/2012, 75 f. Digital unter: <www.dialog-ueber-deutschland.de/ergebnisbericht-lang>.