Читать книгу FILM-KONZEPTE 59 - Ulrich Seidl - Группа авторов - Страница 6
I. Fragmentarische Blicke auf das Werk eines umstrittenen Regisseurs
ОглавлениеAls einer der bekanntesten österreichischen Regisseure ist Ulrich Seidl, der mitunter als eine der »zentralen Gestalten des europäischen Autorenfilms«1 bezeichnet wird, wohl zugleich auch ein Filmemacher, dessen Werk2 die heftigsten Kontroversen ausgelöst hat. In den nunmehr 40 Jahren seines Schaffens, von denen er über 20 Jahre mit der Drehbuchautorin und Regisseurin Veronika Franz, seiner Partnerin, zusammengearbeitet hat, mit der gemeinsam er 2003 eine eigene Filmproduktionsfirma gründete, hat Seidl Kinoproduktionen ebenso vorgelegt wie Arbeiten für das Fernsehen, Kurzfilme, Fotobücher mit Standbildern aus seinen Filmen oder auch zwei Theaterstücke (Vater unser, 2004, Volksbühne Berlin; Böse Buben / Fiese Männer, 2012, Münchner Kammerspiele). Dabei ist bereits in seinem Frühwerk aus den 1980er Jahren vieles von dem angelegt, was auch später in seiner Karriere den Stil Seidls ausmacht: starre Kameraeinstellungen mit genau komponierter Kadrierung, Blicke der Personen direkt in die Kamera, die wiederum auf das Gegenüber fixiert zu sein scheint, Personenporträts von Außenseiterfiguren als Grundkonstellation des Gezeigten, das sich dem Hässlichen der Gesellschaft und den Abgründen des Menschen widmet, nicht selten grundiert mit einem erheblichen Maß an Provokationsgestus.
EINSVIERZIG markiert 1980 Seidls Erstling, ein Kurzfilm von 16 Minuten Länge, entstanden an der Wiener Filmakademie. Seidl zeigt darin Karl Wallner, einen kleinwüchsigen Mann mittleren Alters, der mit 14 Jahren aufgehört hat zu wachsen. So handelt es sich bei EINSVIERZIG – im Übrigen Seidls einzigem Schwarz-Weiß-Film – um das Porträt eines Kleinwüchsigen, der sich dem Publikum in Szenen aus seinem Alltagsleben präsentiert. Bereits dieser frühe Film brachte Seidl den im Zusammenhang mit seinem Werk seither immer wieder gehörten Vorwurf der Sozialpornografie ein. Man wird wohl nicht fehl darin gehen zu sagen, dass die schon in und mit EINSVIERZIG praktizierte Form der schonungslosen Darstellung der Menschen vor der Kamera zum Markenkern Seidls geworden ist, so dass EINSVIERZIG letztlich die »Rohform«3 des gesamten folgenden Werks genannt werden kann. 1982 folgte DER BALL (1982), ein 50-minütiger Dokumentarfilm, der in Horn, einer Kleinstadt in Niederösterreich, spielt, in der Seidl aufwuchs. Der Film zeigt Szenen des Schulballs der Gymnasiasten in der Faschingszeit in Form einer Provinzsatire. Bei DER BALL handelt es sich zugleich um Seidls letzten Film an der Filmakademie Wien, denn die angeblich rufschädigende Machart führte zur Demission des Jungregisseurs. Seidls erster Versuch, nach seinem Scheitern an der Filmakademie unabhängig Filme zu machen, blieb denn auch Fragment: LOOK 84 (1984), der keine Filmförderung aus öffentlichen Quellen erhielt und von dem lediglich 26 Minuten im Rohschnitt zu sehen sind, wobei rechtliche Gründe bis heute öffentliche Aufführungen verhindern, widmet sich am Beispiel von Sonja Kirchberger und dem Fotografen Peter Baumann Fotomodellen und der Verlogenheit des Werbegeschäfts – ein Thema, das Seidl später in MODELS (1998) wieder aufgegriffen hat. 1989 schließt KRIEG IN WIEN, eine Zusammenarbeit mit Michael Glawogger und zugleich dessen Abschlussarbeit an der Filmakademie, die Frühphase in Seidls Werk ab: Der Film zeigt Wiener Kleinbürger in ihren Wohnungen und betrunkene Obdachlose in den Straßen Wiens. In Form von Kontrastmontagen werden Ausschnitte aus den Weltnachrichten dokumentarischen Szenen aus dem Leben in Wien gegenübergestellt.
1990 verzeichnete Seidl mit seinem ersten Langfilm, GOOD NEWS: VON KOLPORTEUREN, TOTEN HUNDEN UND ANDEREN WIENERN, uraufgeführt auf dem Filmfestival Locarno, danach bei etlichen weiteren Festivals, darunter Chicago, Hof und Rotterdam, gezeigt und unter anderem mit dem Wiener Filmpreis ausgezeichnet, gleich einen ersten Erfolg. GOOD NEWS, der Seidl zum Durchbruch verhalf, zeigt den Tagesablauf von Zeitungsverkäufern auf den Straßen Wiens, Männern aus Ägypten, Indien, Pakistan und der Türkei, und kontrastiert das moderne Sklaventum dieser Sozialverlierer mit dem tristen Leben des Wiener Kleinbürgertums. Zugleich handelt es sich bei GOOD NEWS, fertiggestellt mit der Unterstützung Werner Herzogs, um ein Stadtporträt, um Stimmungsaufnahmen Wiens. In seiner Darstellung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der ausländischen Zeitungsverkäufer in Österreich wirkt GOOD NEWS geradezu journalistisch-reportageartig, wobei in diesem Porträt zugleich die Kunden eben jener Zeitungsverkäufer ins Visier genommen werden.4 Auch der nächste Seidl-Film, MIT VERLUST IST ZU RECHNEN (1992), uraufgeführt auf der Berlinale, beschäftigt sich mit dem Alltagsleben seiner Protagonisten und geht Beobachtungen in einer Grenzregion nach. MIT VERLUST IST ZU RECHNEN zeigt die Suche des Witwers Sepp Paur nach einer neuen Frau, und zwar in Tschechien, wo Paur auf die Witwe Paula Hutterová trifft, die allerdings weder ihre Unabhängigkeit aufgeben noch nach Deutschland umziehen will. Seidl fächert in diesem Film ein ganzes Themenspektrum auf: Verlust von Heimat, der eigenen Jugend und der Liebe, das Leben an der Ost-West-Grenze. 1994 liefert Seidl mit DIE LETZTEN MÄNNER, seinem ersten TV-Film, einen Quotenerfolg: Anhand des Lehrers Karl Schwingenschlögl, der sich eine Ehefrau aus Asien zulegen will und sich zu diesem Zweck mit anderen Männern austauscht, die bereits asiatische Frauen haben, rückt der Regisseur den Konnex aus Liebe/Sex und Neokolonialismus in den Mittelpunkt seines filmischen Interesses, werden die philippinischen Frauen von den österreichischen Männern doch via Agenturen quasi per Katalog bestellt.
1995 markiert Seidls dritter Langfilm, TIERISCHE LIEBE, einen Einschnitt in sein Werk, kann der Film doch getrost als erster Schocker Seidls bezeichnet werden, der bis heute, vor allem aufgrund der recht expliziten Sodomie-Szenen, zu den verstörendsten Seidl-Filmen zählt. TIERISCHE LIEBE, über den Werner Herzog sagte, man habe »niemals so tief in die Hölle gesehen«,5 wie bei diesem Film, zeigt vereinsamte Menschen und ihre tierischen Ansprechpartner, die mitunter ihre Bettgenossen sind. Fungiert die Liebe zu den Tieren hier als Ersatz für menschliche Liebe? Für TIERISCHE LIEBE wurde Seidl jedenfalls heftig kritisiert; die Vorwürfe lauteten: Sozialpornografie und Voyeurismus. Der Österreichische Rundfunk (ORF), der den Film mitproduziert hatte, verweigerte gar die Ausstrahlung. Und in der Tat: TIERISCHE LIEBE zeigt in drastischen Bildern das pervertierte Verhältnis der Menschen zu ihren Tieren und den Mangel an zwischenmenschlichen Beziehungen, ist insofern also ein Film über Menschen, nicht über Tiere, wobei er die Einsamkeit Ersterer nihilistisch darzustellen scheint.
Nach seiner Haltung Menschen gegenüber gefragt, bleibt Seidl letztlich ambivalent. So lassen sich durchaus humanistisch grundierte Aussagen finden, wie etwa die Folgende: »Gerade so prägend wie die katholische Erziehung war die Sympathie zum Kommunismus. Wie gesagt war ich schon immer gegen Heuchelei, falsche Autoritäten und alles, was das Individuum unterdrückt. Das ist gepaart mit einer Vision für ein anderes, besseres Leben, für mehr Würde und Freiheit. Das ist mein stärkster Drang. In meiner Kritik ist diese Vision enthalten. Würde ich das Leben nicht lieben, würde ich mir das nicht antun: solche Filme zu machen.«6 Und auch von anderen wird Seidl und mit ihm sein Werk so interpretiert: »Die Suche nach wirklichen Gefühlen und die Aufmerksamkeit, die Ulrich Seidl dem bizarren, manchmal deformierten Ausdruck dieser Gefühle schenkt, machen diesen Regisseur zu einem großen Humanisten. Er nimmt den einzelnen Menschen, sein Leid und seine Demütigungen ernst, indem er ihn in all seiner Verletzlichkeit und Kreatürlichkeit unverstellt auf der Leinwand zeigt.«7 Doch lassen sich zu dieser Einschätzung auch Gegenstimmen finden, wie etwa eine Beurteilung von GOOD NEWS zeigt: »Trotz dem voyeuristischen Eindringen ins Private bleibt auch hier die gefühlsmäßige Distanz bewahrt – Seidl lässt kein Mitleid zu. Seinem Kino liegt kein humanistischer Antrieb zugrunde. Er solidarisiert sich nicht mit den Schwachen, in deren Niederungen er sich begibt. Er steht nicht auf der Gegenseite; sondern hinter der Kamera.«8 Und auch Seidl selbst, der den »Wahnsinn der Normalität«9 zeigen wolle, scheint angesichts desselben bisweilen resigniert zu haben: »Ich glaube, dass der Mensch nichts lernt. Aus Erfahrungen, aus der Geschichte. Er wird also nicht besser. Deprimierend im Grunde. Das Böse steckt in uns Menschen, und immer, wenn uns Macht gegeben wird – oder anders gesagt: immer, wenn uns durch die Machtverhältnisse Verantwortung abgenommen wird –, dann kommt das Böse raus.«10 Letztlich muss es wohl offen bleiben, ob Seidl, dieser »Voyeur am Wirklichen«,11 dessen Filme der Schauspieler Joseph Bierbichler »Katastrophenfilme«12 nennt, als Existenzialist zu bezeichnen ist.13
Deutlich weniger extrem als TIERISCHE LIEBE sind die folgenden Filme Seidls, die noch stark dem Dokumentarischen verpflichtet sind, wenngleich dies bei Seidl immer ein umstrittener Terminus bleiben wird. 1996 filmt der Regisseur in BILDER EINER AUSSTELLUNG die Reaktionen österreichischer Durchschnittsbesucher auf moderne Kunst. Laien kritisieren Kunstwerke vor laufender Kamera, den Blick dabei jedoch nicht auf die Bilder selbst gerichtet, sondern auf das Objektiv der Kamera, so dass Seidl mit BILDER EINER AUSSTELLUNG einen Kunstreflexionsfilm im doppelten Sinne vorgelegt hat: zum einen über die Gemälde, wobei sich die Reflexionen über jene immer mehr zu Reflexionen über das Leben allgemein auswachsen; und zum anderen über die Rolle des Films selbst, blicken die Zuschauer von BILDER EINER AUSSTELLUNG doch auf die die Gemälde kritisierenden Personen wie auf die Objekte zugleich und werden von diesen wiederum in den Blick genommen.14 Die Bilder im Hintergrund werden immer weniger relevant im Vergleich zu ihren Kritikern; die Filmzuschauer wiederum werden zu Kritikern der Figuren und des Films insgesamt. Mit dieser Thematisierung der Grundfrage »Was ist Kunst?« und damit zugleich der Frage nach dem Kunst-Status von Seidls eigenen Filmen, die sich an jene immer wieder herantragen lässt, nimmt BILDER EINER AUSSTELLUNG eine Sonderstellung im Gesamtwerk des Regisseurs ein. Schließlich sei noch erwähnt, dass in BILDER EINER AUSSTELLUNG René Rupnik seinen ersten Auftritt in einem Seidl-Film hat, der dem Publikum gleich im darauf folgenden Seidl-Film, DER BUSENFREUND aus dem Jahr 1997, wiederbegegnen wird.15 Darin zeigt sich der 50-jährige Mathelehrer Rupnik, der bei seiner alten Mutter lebt, als Messie, häufig halbnackt im Filmbild zu sehen. Rupnik hat eine sonderbare Busenobsession und pflegt eine Fantasiebeziehung zu Senta Berger. Und auch mit DER BUSENFREUND war Seidl nicht vor dem Vorwurf gefeit, seinen Protagonisten der Lächerlichkeit preiszugeben. Milder scheint er dagegen in SPASS OHNE GRENZEN (1998) vorzugehen: Der Film stellt eine durch Missbrauch und Gewalt in der Familie traumatisierte Frau ins Zentrum, die Freizeitparkbesuchsweltrekordhalterin Dorothea Spohler-Claussen, anhand derer der Regisseur, wie häufig in seinem Gesamtwerk, die Einsamkeit des vereinzelten Menschen in den Mittelpunkt rückt. Der Freizeitpark, Rust bei Freiburg, wird als Fluchtort der Frau inszeniert, eine Heterotopie im Foucault’schen Sinne.16 Zugleich kritisiert Seidl mit und in SPASS OHNE GRENZEN die westliche Spaßgesellschaft.
In MODELS aus dem Jahr 1998, seinem vierten und zugleich letzten Langfilm vor dem endgültigen Durchbruch, widmet sich Seidl, nach dem Fragment gebliebenen LOOK 84, erneut dem Thema Mode:17 Die Modewelt inszeniert er als eine geschlossene, dominiert von geschönten Körperbildern und einer gleichsam kultischen Fetischisierung des Körpers. Seine Protagonistinnen, drei befreundete Mädchen aus Wien, sehnen sich nach Liebe, einem Mann, der idealen Figur, der großen Karriere auf dem Laufsteg. Dafür sind sie bereit, weit zu gehen, Erbrechen und Koksen inklusive. Mit MODELS werden Seidls Porträts zunehmend fiktional, und obgleich die Kamera hier ganz besonders wie eine Überwachungskamera wirkt, wird auch seine Darstellerführung erkennbarer, so dass davon zu sprechen ist, dass sich Seidl in seinem Werk Ende der 1990er Jahre zunehmend weg vom Dokumentar- und hin zum Spielfilm bewegt. Das Schwanken zwischen dem scheinbar rein Dokumentarischen und dem dokumentarischen Realismus wird fortan zu Seidls Markenzeichen; Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit sind im Grunde seit MODELS der ästhetische Modus und die Signatur Seidls.
Nachdem der Regisseur mit GOOD NEWS erstmals von sich reden machte, gelingt ihm mit HUNDSTAGE (2001) der internationale Durchbruch. Der Film spielt in einer Vorortsiedlung südlich von Wien in drückender Sommerhitze und zeigt an diesem Nicht-Ort18 der Autobahnauffahrten, Einkaufsmärkte und Reihenhaussiedlungen sechs Geschichten der eskalierenden Aggressionen im Milieu der Kleinbürger. Die entstandenen, fotografisch anmutenden Filmbilder19 offenbaren Seidls Interesse für Architektur, Räume und Schauplätze. Die Künstlichkeit der gezeigten Orte kommt dabei vor allem durch Seidls Faible für extreme Symmetrien zum Ausdruck. Obschon der Regisseur auch in HUNDSTAGE vor allem mit Laiendarstellern arbeitet, wird dieser Film als erster reiner Spielfilm Seidls wahrgenommen und auch von ihm selbst als solcher bezeichnet.20 Sowohl vom Publikum als auch von den Kritikern wird der Filmemacher für HUNDSTAGE gefeiert und zudem mit dem Großen Preis der Jury bei den Filmfestspielen von Venedig ausgezeichnet.
Als auf HUNDSTAGE folgender Zwischenfilm ließe sich ZUR LAGE (2002) beschreiben. Darin begeben sich vier Regisseure, unter ihnen Seidl, anlässlich der Regierungsbeteiligung der FPÖ unter Jörg Haider auf eine Spurensuche durch Österreich, und zwar hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Haltungen der Menschen. Seidl widmet sich dabei den Themen Ausländerfeindlichkeit und Alltagsrassismus. Insofern wird das Private, das in seinen anderen Filmen zumeist vorherrscht, in ZUR LAGE um eine politische Seite ergänzt. Mit JESUS, DU WEISST (2003) führt Seidl die Arbeit an seiner spezifischen Filmsprache fort. Der Film widmet sich in sechs fragmentarischen Porträts gläubigen Katholiken. In extrem starren Kameraaufnahmen21 zeigt Seidl diese Menschen und ihre intimen Beziehungen zu Jesus, etwa wenn sie ihr Gebet direkt zu Gott respektive in die Kamera sprechen. Die filmischen Zwiegespräche zwischen den Gläubigen und Jesus wurden vom Kinopublikum allerdings nicht goutiert, wenngleich JESUS, DU WEISST insgesamt auf 150 Festivals gezeigt wurde.22 Dass der Katholizismus als Kernthema Seidls zu bezeichnen ist, davon zeugt auch die auf den Film folgende Theaterarbeit für die Berliner Volksbühne, Vater Unser (2004), Porträts von sieben Christen, die in einer Flughafenkapelle beten, sowie die Tatsache, dass JESUS, DU WEISST quasi als Vorläufer zu PARADIES: GLAUBE (2012) interpretiert werden kann. Nach dem Intermezzo BRÜDER, LASST UND LUSTIG SEIN (2006), Seidls einminütigem Beitrag zum Mozartjahr 2006, neben denjenigen von 27 anderen österreichischen Filmemachern, in dem er das Sklavenchorlied aus Zaide umsetzt, seinem makabrem Stil gemäß in Bildern zweier sich selbst befriedigender Männer, arbeitet der Regisseur weiter an der ihm eigenen Filmsprache.
Nach HUNDSTAGE feiert Seidl mit IMPORT EXPORT seinen zweiten großen Erfolg: Produziert als erster Langfilm der von ihm 2003 gegründeten Produktionsfirma und eingeladen in den Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes 2007, widmet sich Seidl in IMPORT EXPORT der Geschichte zweier Menschen auf Arbeitssuche, Olga aus dem Osten Europas und Paul aus dem Westen. Beide reisen nach Westen bzw. Osten, ohne sich je zu begegnen, um dort Glück und Geld zu suchen. Die Krankenschwester Olga aus der Ukraine hofft in Wien auf bessere Lebensumstände, während der in seinem Beruf gescheiterte Wiener Sicherheitsmann Paul seinen Stiefvater auf einer Geschäftsreise in die Slowakei begleitet. Thematisch kreist IMPORT EXPORT um den Konnex aus Arbeit, Emigration und Sex und wurde, wie etliche Seidl-Filme zuvor und danach, heftig diskutiert. Die Kritik richtete sich dabei vor allem auf Seidls Umgang mit der Würde der dargestellten realen Personen, insbesondere der Bewohner eines Altersheimes.23
2012 ist Seidl mit der sogenannten PARADIES-Trilogie auf dem Höhepunkt seines filmischen Schaffens angekommen. Ursprünglich als ein Film geplant, mit insgesamt 90 Stunden gedrehtem Material jedoch deutlich zu umfangreich und ob dieser Materialfülle in drei Filme unterteilt,24 widmet sich das PARADIES-Werk der Suche dreier miteinander verwandter Frauen nach ihrer jeweils eigenen Form von Paradies: sei es als Sextouristin in Kenia, als Missionarin in Österreich, oder als zum Abspecken bereite Teilnehmerin in einem Diät-Camp. Innerhalb eines Jahres war Seidl mit den Trilogie-Filmen im Wettbewerb aller drei A-Festivals, Venedig, Cannes, Berlin, vertreten und erlangte so auch bei einem breiten Publikum große Bekanntheit. Seidls vom ihm als solche bezeichnete »Sehnsuchtsgeschichten«25 kreisen um den Themenkomplex aus Körperlichkeit, Sexualität und Begehren. Der Titel der PARADIES-Trilogie erweist sich dabei als Anspielung auf das Hohelied der Liebe26 sowie als Referenz an das gleichnamige Drama Ödön von Horvaths aus dem Jahr 1932. Den Auftakt zu diesem dreiteiligen Filmwerk bildet PARADIES: LIEBE (2012), der bei den Filmfestspielen von Cannes Premiere feierte und gleich mit mehreren Preisen bedacht wurde. Anhand seiner Protagonistin (Margarethe Tiesel) und deren Urlaub in Kenia in Form von Sextourismus stellt der Film ihre Suche nach Liebe ebenso dar, wie er eben jenen Sextourismus als Neokolonialismus in den Blick nimmt.27 PARADIES: GLAUBE wiederum, der im Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele von Venedig lief und dort mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde, zeigt die 50-jährige Katholikin Anna Maria (Maria Hofstätter), die an der Peripherie Wiens mittels Wandermuttergottes missioniert, sich in ihrer an eine Zwangsneurose erinnernden Gläubigkeit auf erotische Weise zu Jesus hingezogen fühlt und zu Hause ihren behinderten, muslimischen Mann quält. Skandalumwittert war eine Filmszene, in der sich Anna Maria mit dem Jesus-Kreuz selbst befriedigt, wofür Seidl in Italien wegen Blasphemie angezeigt wurde. Den Abschluss der Trilogie bildet 2013 PARADIES: HOFFNUNG, gezeigt im Wettbewerb der Berlinale. In diesem Film verliebt sich im Sinne einer Variation des Lolita-Motivs das übergewichtige, 13 Jahre alte Mädchen Melanie in einen 40 Jahre älteren Arzt in einem Diät-Camp, während ihre Mutter in Kenia weilt und ihre Tante in Wien missioniert. Ebenfalls 2013 veröffentlichte Seidl ein Fotobuch zur PARADIES-Trilogie mit Filmbildern zu den Themen Sexualität, Spiritualität und Körperlichkeit, die auch in einer Ausstellung in Berlin zu sehen waren, erneuter Ausweis der Nähe des Filmemachers Seidl zur Fotografie.
Nach dem Theaterstück Böse Buben / Fiese Männer, das 2012 in den Münchner Kammerspielen aufgeführt wurde, legte Seidl 2014 den Film IM KELLER vor, eine Rückkehr zum episodischen Erzählen und gleichsam zum Dokumentarischen nach der PARADIES-Trilogie. IM KELLER zeigt die Obsessionen der Österreicher, die diese in ihren Kellern ausleben, so zum Beispiel zwischen Nazi-Devotionalien singende Männer, darunter inzwischen zurückgetretene Gemeinderäte der ÖVP. Seidls vorerst letzter Film, SAFARI aus dem Jahr 2016, erinnert mit seiner Darstellung des Jagdtourismus in Afrika und der ambivalenten Beziehung der Menschen zu den Tieren an TIERISCHE LIEBE 20 Jahre zuvor; beides Filme nicht über Tiere, sondern über Menschen. Und auch in SAFARI präsentiert Seidl, wie schon anhand des Sextourismus in PARADIES: LIEBE, eine Form des Neokolonialismus, hier anhand des Jagdtourismus, bei dem Tiere zum Todesopfer des Menschen werden.
Seidls Gesamtwerk umfasst damit, von 1980 bis heute, über 20 Filme, die zu seinem 65. Geburtstag in einer umfassenden DVD-Box-Sammlung nochmals veröffentlicht wurden. Und auch bei seinem aktuellen, zusammen mit Veronika Franz verantworteten Projekt, dem Spielfilm BÖSE SPIELE, geht es Seidl wieder um ein intimes Porträt, diesmal das zweier Brüder, die nach dem Tod der Mutter auf den an Demenz erkrankten Vater treffen.