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Stephanie Lammers: Die Gabe

Dass die Kollegen aus Johannas Abteilung es auch in diesem Jahr versäumt hatten für ein Geburtstagsgeschenk zu sammeln, tat weh.

Ach ja, richtig!

Sorry, total vergessen.

Der Stress, du weißt schon.

Johanna zwang sich zu einem Lächeln und reichte die Tupperdose mit selbst gebackenen Muffins herum. Der Schmerz, der ihr seit Tagen den Magen zusammenknüllte, hatte andere Gründe.

Einer dieser Gründe verließ soeben das Kunden-WC. Er verharrte einen Augenblick, die Hand noch auf der Klinke, schwebte dann quer durch die halbe Belletristik und blieb schließlich vor dem Regal H bis I stehen: ein Mann um die vierzig, Anzugträger, mit dezentem Schlips. Typ: Geschäftsreisender – nur dass seine glänzenden schwarzen Schuhe den Boden nicht berührten.

Johanna fröstelte, trotz der viel zu warmen Heizungsluft.

»Also, ehrlich, die Kundentoilette ist der reinste Bahnhof«, verkündete Henning, der zwar Johannas Blick gefolgt war, aber offenbar nichts Ungewöhnliches bemerkt hatte. Jedenfalls pulte er ungerührt einen Schokomuffin aus seiner Papiermanschette und biss hinein. »Die Leute kommen einfach so von der Straße reinspaziert. Und das nur, um die paar Cent für die Klofrau zu sparen.«

Demnach war Henning entgangen, dass der Kunde die Kundentoilette zwar verlassen, sie aber zuvor nicht betreten hatte.

Die Tür befand sich genau in Johannas Blickfeld. Niemand konnte das WC aufsuchen, ohne an Johannas Verkaufstresen vorbeizugehen. Der schwebende Mann war ihr ganz gewiss nicht unter die Augen gekommen.

»Schon gesehen? Das Überwachungssystem ist mal wieder im Eimer«, schimpfte Doris dazwischen und hämmerte auf der Tastatur des Bestell-PCs herum, so als könnte größerer Nachdruck die Kamerabilder zurückbringen. Der viergeteilte Flachbildschirm revanchierte sich mit Elektroschnee.

»Als wäre das hier eine öffentliche Toilette.« Henning hielt hartnäckig an seinem Thema fest. Eigentlich hatte er als Sortimenter der Reisebuchabteilung in diesem Teil des Ladens nichts verloren, aber er nutzte jede Gelegenheit, sich unter die »drei Damen von der Belletristik« zu mischen und mit Johannas Kolleginnen Doris und Edwina zu flirten. »Also, echt! Können die Leute nicht wenigstens nebenan bei MacDoof gehen?«

»Also« war eines seiner Lieblingsworte.

»Vielleicht mögen sie Bücher?«, murmelte Johanna, ohne die Augen von dem schwebenden Kunden zu wenden. Der Mann, wenn es denn ein Mann war – Johanna war da nicht sicher –, hatte langsam den Arm ausgestreckt und mit spitzen Fingern ein dickes Taschenbuch aus dem Regal gezogen. Nun drehte und wendete er es in seiner Hand, als hätte er noch nie zuvor ein Buch gesehen. Schließlich schlug er das Buch irgendwo in der Mitte auf, betrachtete die bedruckten Seiten, klappte das Buch wieder zu, und wieder auf, und wieder zu. Anschließend strich er mit den Fingerspitzen über die Rückseite, als sei der Klappentext in Blindenschrift verfasst. Zuletzt stellte er das Buch wieder an seinen Platz, nur um sich das Nächste zu greifen, streng nach Alphabet.

»Guck dir den an«, sagte Henning und wies mit dem Kinn auf den Mann, der gerade ein paar Zentimeter höher schwebte, um einen historischen Roman in seine Lücke zurückzustellen. »Also, der Typ kauft bestimmt nichts. Jede Wette.«

»Die Wette halten wir«, warf Doris rasch ein, »nicht wahr, Johanna?«

Johanna hätte sie dafür am liebsten zum Mond geschossen.

»Genau. Klingt nach einem Fall für unser Verkaufswunder«, sagte Edwina kauend und krümelnd, und nicht ohne Biss. »Unsere Johanna findet für jeden Kunden das richtige Buch. Garantiert.«

»Unsere Johanna« gab keine Antwort. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Von wegen Verkaufswunder. Das war einmal. Das war, bevor die Kunden anfingen, durch den Laden zu schweben.

»Los, zeig’s ihm, Johanna«, drängelte Edwina.

Johanna schüttelte den Kopf. Hatten Doris und Edwina nichts Besseres zu tun als diese dumme Wette?

Drüben in der Reisebuchabteilung wanderten schon zwei normale Kunden in einem unregelmäßigen Orbit um Hennings Bestellcomputer. Trotzdem machte Henning keine Anstalten, wieder an seine Arbeit zu gehen.

»Na los, Johanna, nun zier dich doch nicht so.« Edwina verzog den Mund zu einem Schmollen. »Komm schon. Die Ehre der Abteilung steht auf dem Spiel.«

Die Ehre der Abteilung war Johanna egal, jedenfalls im Augenblick. Auch der übliche Wetteinsatz von einer Runde Latte macchiato von nebenan war kein Anreiz. Aber tief in ihrem Inneren war Johanna überzeugt, dass gewisse Menschen und Bücher füreinander bestimmt waren. Johanna stellte sich oft vor, dass Schriftsteller beim Verfassen ihrer Werke eine ganz besondere Sorte Leser vor Augen hatten, bewusst oder unbewusst. Die Aufgabe des Buchhändlers war es, dafür zu sorgen, dass all die vielen Bücher ihren Bestimmungsort auch erreichten.

Bis vor ein paar Tagen noch war Johanna diese Aufgabe leichtgefallen. Doris behauptete immer, Johanna habe eine Art magische Gabe: Sie könne jedem Kunden seinen Bücherwunsch an der Nase ablesen. Das war natürlich Quatsch. Na gut, es kam gelegentlich vor, dass Johanna einem Kunden auf den ersten Blick ansah, welches Buch zu ihm passte, doch in den meisten Fällen kam sie erst im Verlauf eines kurzen Verkaufsgesprächs dahinter.

Seitdem die Kundentoilette jedoch angefangen hatte Kunden auszuspucken, die zwei bis drei Zentimeter über dem Fußboden dahinglitten, fühlte sich Johanna von ihrer Gabe im Stich gelassen. Auch wenn sie jetzt zu dem schwebenden Mann hinüberblickte, regte sich in Johanna gar nichts – abgesehen von der nagenden Angst, den Verstand zu verlieren.

In fast allen Büchern, die sie gelesen hatte, musste sich der Held am Ende seinen Ängsten stellen. Vorhersehbar, wie Johanna fand, Schema F, aber irgendwie auch tröstlich. Natürlich war sie keine Heldin, und Literatur hatte die Wirklichkeit nachzuahmen, nicht umgekehrt, und … und all diese Überlegungen führten zu rein gar nichts. Sie war Buchhändlerin. Buchhändlerinnen verkaufen Bücher, Punkt. Meinetwegen auch an den Grafen Dracula, wenn der in den Laden kam. Ein Kunde war ein Kunde war ein Kunde, oder so.

Johanna nahm einen tiefen Atemzug, zupfte ihren Pullover zurecht und setzte ein Lächeln auf, auch wenn ihr gerade nicht danach zumute war. Den Blick fest auf ihr Ziel gerichtet nahm sie Kurs auf das Regal H bis I. Schritt für Schritt.

Ein zimtiger Geruch stieg ihr in die Nase, und die Luft knisterte wie ein Polyesterpullover.

Der Mann hatte ihr den Rücken zugewandt. Er trug einen schiefergrauen Mantel, darunter Hosen in etwas hellerem Grau, gute Qualität. Nicht so flott wie ein Banker, aber auch nicht so fad wie die Sachbearbeiter des nahe gelegenen Finanzamtes. Schicke Schuhe, dachte Johanna, nervös. Oberflächlich gesehen.

Wenn sie nämlich genau hinschaute, kräuselten sich die Schuhe, die Hose, der Mantel und die blonden Haare des Mannes, wie eine Teichoberfläche, wenn Wind sacht darüberstreicht. Darunter blitzte etwas anderes auf. Nur kurz. Kaum zu sehen, schon wieder weg, unter der Oberfläche verborgen: Da waren weder Schuhe noch Füße, sondern, nun ja, etwas Glänzendes, das sich ringelte und wand wie ein Knäuel Regenwürmer.

Johanna nahm allen Mut zusammen, froh, dass der Mann nicht hören konnte, wie ihr Herz raste. »Verzeihung, kann ich Ihnen behilflich sein?«

Der Mann zuckte zusammen.

Das Taschenbuch, in dem er geblättert hatte, landete mit einem satten Plumps auf dem Teppichboden.

»Oh, verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken.« Johanna bückte sich und hob das Buch auf. Sie strich die zerknickte Titelseite glatt und blickte auf.

Fahlgraue, ungewöhnlich flache Augen starrten zurück. Reglos wie auf einer schlechten Fotografie.

Der Mann streckte langsam die Hand nach dem Buch aus. Die Nägel waren kurz geschnitten. Eine protzige Armbanduhr prangte an seinem Handgelenk. Seltsam, was für Details einem manchmal so auffielen. Und unter dem Offensichtlichen, dem Alltäglichen ein Wimmeln und Wuseln, wie von Tintenfischarmen …

Johanna reichte ihm das Buch. Den Instinkt, der ihr riet, sich umzudrehen und schreiend davonzulaufen, rempelte und schubste sie in die hinterste Ecke. Für Hysterie war auch später noch Zeit.

Der Mann verneigte sich. »Ich danke Ihnen.« Seine Stimme war schlüpfrig und nur fast menschlich, und Johanna fiel auf, dass Worte und Lippenbewegungen nicht zusammenpassten, wie bei einem schlecht synchronisierten Film.

Sie schluckte. Entweder sie hatte eine Art Kurzschluss im Gehirn und sah lauter Dinge, die nicht da waren, oder aber das Gewimmel war echt, und die menschliche Gestalt nur eine Art Tarnung. Dann allerdings war die Tarnvorrichtung, die fremdartige Bewegungen und Sprache in menschliche Ausdrucksformen übersetzte, irgendwie kaputt.

»All das«, fuhr der Mann fort und wies auf die Regale voll Bücher, »all das ist passiert, ja?«

»Was in den Büchern steht? Nein, nicht unbedingt. Was darin passiert, ist meistens erfunden, aber nicht das, worum es geht«, sagte Johanna. Ihr Herzschlag beruhigte sich ein wenig. Bei solchen Gesprächen befand sie sich auf vertrautem Terrain.

Der Mann legte den Kopf schief. Seine Stirn furchte sich. Menschliche Mimik. Ziemlich gut gelungen.

Johanna lächelte. »Gute Geschichten lügen, um die Wahrheit zu sagen.«

»Oh.« Die fahlgrauen Augen zuckten und flimmerten, aber Johanna erschienen sie jetzt nicht mehr ganz so flach. »Gibt es viele solcher ›Geschichten‹?«, fragte er und wackelte heftig mit den Fingern, so als wollte er nach etwas greifen.

»Sehr viele.« Johanna wies auf die Tische mit den Neuheiten. »Und es werden ständig neue geschrieben.«

Unzählige Fragen lagen ihr auf der Zunge: Wo kam er her? War er wirklich ein »er«? Wie viele seiner »Landsleute« gab es noch auf der Erde? Waren sie Touristen oder nur auf der Durchreise? Was war mit der Kundentoilette? Lag es an ihm, dass das Überwachungssystem ausgefallen war? Gab es dort, wo er herkam, auch Bücher – und was für welche? Hatte er überhaupt Geld, um zu bezahlen? Wie kam es, dass er menschliche Schrift lesen konnte? Und wie sahen Menschen in seinen Augen aus? Was sie ihn tatsächlich fragte, war: »Darf ich Ihnen vielleicht ein Buch empfehlen?«

»Das würden Sie tun?« Sein Gesicht hellte sich auf.

»Dazu bin ich da«, sagte Johanna.

Was sollte sie empfehlen? Ulysses? Einen Augenblick lang blitzte das Bild einer riesigen galaktischen Zivilisation vor ihrem inneren Auge auf: Milliarden von tentakelbewehrten Wesen, die gleichzeitig mit der Menschheit den Bloomsday begingen. Oder vielleicht doch eher Shakespeares gesammelte Werke? Sein oder nicht sein unter fernen Himmeln mit grünen Sonnen? Goethes Faust? Harry Potter?

Nachdenklich legte sie die Stirn kraus. Denk nach, sagte sie sich. Bücher sind wie Botschafter. Welchen Botschafter wirst du zu den Sternen schicken? Die Antwort stieg wie selbstverständlich in ihr auf. Natürlich!

Beschwingt schritt Johanna voran. Der Kunde schwebte dicht hinter ihr her. Beim Buchstaben S blieb sie stehen und griff ins Regal. »Man liest sie von vorne bis hinten«, erklärte sie, als sie ihm das Buch reichte. »Das hier ist ein Klassiker. Schauen Sie einfach mal, ob Ihnen das gefällt.«


Johanna verlor die Wette ihrer Kolleginnen. Der schwebende Mann kaufte das Buch nicht. Vielleicht hatte er keine Euros in der Tasche. Aber darum ging es Johanna ja auch nicht. Als sie zum Feierabend hinter den letzten Kunden den Laden abschloss, schwebte er immer noch dort, völlig in das Buch vertieft.

»Verzeihen Sie, wir schließen jetzt.«

Er hob den Kopf, langsam, als koste es ihn große Anstrengung, sich loszureißen. Mit einem letzten bedauernden Blick klappte er das Buch zu und hielt es ihr entgegen.

»Behalten Sie es ruhig.« Johanna lächelte.

Immer noch lächelnd zahlte Johanna den Kaufpreis in die Kasse und sah zu, wie der Mann zurück zur Kundentoilette schwebte, Gullivers Reisen wie einen Schatz unter einen Tentakel geklemmt.

DAS ALIEN TANZT WALZER

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