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Michael J. Awe: Die Passage

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Die Sterne spiegelten sich in den Augen der alten Frau, die reglos vor der transparenten Hülle der Außenwand stand. Die Uniform an ihrem immer noch aufrechten Körper war ihr nach all den Jahren im Weltraum zu einer zweiten Haut geworden. Ihr tiefes Blau verschmolz mit dem schwarzen Hintergrund des Alls. Für einen Moment stellte sie sich vor, wie sich das Sichtfenster ihres Raumes auflösen und das Vakuum sie in die eisige Stille hinaussaugen würde, wo ihr Körper Ewigkeiten umhertreiben konnte. Ein verschwindend kleiner Gegenstand zwischen den Sternen. Das Letzte, was sie wahrnehmen würde, wäre die absolute Geräuschlosigkeit, die alles Leben erstickte.

Ein leises Türsignal ertönte, dann glitt die Tür zu ihrem Raum auf.

»Kapitän«, erklang eine Stimme hinter ihr. Es war Ivan, der Chefmechaniker an Bord.

»Was gibt es?«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. Sie verspürte einen Widerwillen, ihren Blick von der endlosen Weite abzuwenden.

»Das sollten Sie sich einmal angucken«, antwortete Ivan. »Wir haben einen blinden Passagier.«

Neben der breiten Gestalt ihres Chefmechanikers stand ein Mädchen von vielleicht vierzehn Jahren, in dicke, robuste Sachen gehüllt, die ihr alle eine Nummer zu groß waren. Ihr strähniges, schwarzes Haar ließ erkennen, dass sie lange kein Bad mehr gesehen hatte. Der Kapitän überschlug im Kopf ihren jüngsten Landaufenthalt, der auf Deleria 4 vor knapp drei Wochen gewesen war. Einer der letzten bewohnten Planeten vor der Passage.

Sie fixierte das Mädchen, das unter ihrem Blick nervös wurde. Mit einem Wink gab sie dem Chefmechaniker zu verstehen, dass er sie allein lassen sollte. Mit ruhigen Schritten ging der Kapitän zu einem altmodischen Holztisch, der an der Kopfseite des Raumes stand.

»Mein Name ist Shavon«, sagte sie. Ihr Name kam ihr ein wenig schwerfällig über die Lippen, da sie meistens nur als der Kapitän bezeichnet wurde. Sie nahm eine Porzellantasse zur Hand, deren Form und Dekor von vergangenen Zeiten zeugten. Das Licht von der Decke blitzte für einen Moment auf den silbernen Abzeichen an ihren Unterarmen.

»Du bist an Bord der Ikarus.«

Sie goss Tee in die Tasse. Das Mädchen stand wie angewurzelt neben der Tür und beobachtete jede ihrer Bewegungen. Ihr Haar war von so einem tiefen Schwarz, dass es im Schein der Deckenbeleuchtung bläulich schimmerte.

»Damals hatten die Namensgeber der Raumschiffe noch Humor!«

Der Kapitän nahm einige Butterkekse aus einer verzierten Keksdose und legte sie auf einen Teller. Der Blick des Mädchens verharrte auf dem Gebäck.

Der Kapitän machte eine einladende Geste auf den freien Stuhl ihr gegenüber und nahm am Tisch Platz. »Weißt du, was man früher mit blinden Passagieren gemacht hat?«, begann sie beiläufig und schenke sich ebenfalls von dem schwarzen Tee ein. »Zu der Zeit, als die Schiffe noch die Meere der Erde befuhren, warf man ungebetene Gäste ins Wasser und überließ sie ihrem Schicksal. Oder man kielholte sie.«

Die Augen des Mädchens weiteten sich und ihr schmaler Brustkorb unter der groben Kleidung hob und senkte sich sichtbar.

»In heutigen Zeiten muss sich der Kapitän allerdings mit der Luftschleuse begnügen.«

Das hagere Gesicht der Offizierin glich einer ausgehärteten Maske aus Lehm, in die man Muster geritzt hatte. Ihr kurzes graues Haar, das sie wie ein Mann trug, war in der schwachen Beleuchtung des Raumes ein heller Fleck.

»Das All ist ein unwirtlicher Ort«, sagte sie und griff nach dem Sahnekännchen. »Glaube mir, wir Menschen haben hier nichts verloren.« Sie winkte den blinden Passagier heran. »Komm her, Kleines! Stell dich nicht so an!«

Die Lippen des Mädchens pressten sich aufeinander. Ohne sie anzusehen, nahm das Kind ihr gegenüber Platz.

»Du bist stumm«, sagte der Kapitän. Es war eine Feststellung, keine Frage.

Das Mädchen zog aus ihrer Jacke ein Büchlein aus Papier und schrieb mit einem Stift einige Buchstaben hinein. Mit schmutzigen Händen schob sie das dünne Heft über den Tisch. Die alte Frau beugte sich nach vorne und las: Aline.

»Ein schöner Name!« Der Kapitän berührte mit den Fingerspitzen das Papier. »Und ein schönes, altes Material.«

Aline schielte heimlich zu dem Keksteller hinüber und der Kapitän schob ihr den Teller hin. Zögernd nahm das Mädchen einen Keks und biss hinein.

»Aber was machen wir nun mit dir?«

In der einsetzenden Stille war das Kauen Alines deutlich zu hören. Sie zog wieder das dünne Heft hervor und schrieb in kleinen Druckbuchstaben etwas unter ihren Namen.

»Wirfst du mich nach draußen?«, las der Kapitän.

Der Kapitän beobachtete das zierliche Ding in den zu großen Klamotten, die sie nervös ansah. »Warum bist du hier?«

Aline schüttelte den Kopf.

»Du weißt es nicht oder du möchtest es mir nicht sagen?«

Das Mädchen starrte auf ihre Hände und rührte sich nicht mehr. Ihr langes schwarzes Haar bedeckte ihr schmales Gesicht. Die alte Frau lehnte sich im Sessel zurück und betrachtete Aline über den Rand der Tasse hinweg. Vierzig Jahre hatte sie auf Schiffen im All verbracht und nie war ein blinder Passagier an Bord gewesen. Nicht einer. Und jetzt tauchte dieses dünne Geschöpf in zu großen Klamotten auf, schmutzig und stinkend … Es kam ihr bedeutsam vor.

»Erst mal bleibst du an Bord. Notgedrungen …«

Aline schaute auf.

»Und ich schlage eine Dusche vor …«

Das Mädchen roch am Ärmel ihres Pullovers, die blassen Wangen hatten etwas Farbe bekommen.

»Iss erst mal! Den Rest erledigen wir später.«

Aline schnappte sich einen weiteren Keks und stopfte ihn sich in den Mund. Der Kapitän fragte sich, von was das Kind die letzten drei Wochen gelebt hatte? Ruhig sah sie Aline dabei zu, wie sie ein Plätzchen nach dem anderen verdrückte. Die Weite des Alls und das Alter hatten sie Geduld gelehrt. Erst als der ganze Teller leer war, griff das Mädchen nach der Tasse und trank sie in hastigen Zügen.

»Weißt du eigentlich, wohin die Reise geht, Kleines?«

Aline erstarrte mitten in der Bewegung.

»Das ist meine letzte Fahrt, mein Kind«, sprach der Kapitän. »Du hast dir einen merkwürdigen Zeitpunkt ausgesucht, um zu uns zu stoßen!«

Ein akustisches Signal ertönte aus einem Lautsprecher an der Decke und Aline zuckte zusammen. »Kapitän«, erklang eine Stimme »Wir sind da!«

Eine Weile blieb die alte Frau sitzen und beobachtete das Mädchen, als wäre nichts vorgefallen. Dann erhob sie sich und zog die Uniformjacke zurecht. »Ich glaube, das sollten wir uns ansehen!«

Als sie mit Aline die Brücke betrat, konnte sie die Neugierde in den vertrauten Gesichtern erkennen. Die meisten dienten seit zwanzig Jahren unter ihr, sie hatten vieles gesehen und gehört, aber ein blinder Passagier stellte eine kleine Sensation an Bord dar.

Auf dem holografischen Display an der Stirnseite des Raumes erschien das Bild eines winzigen Himmelskörpers. Während sie alle auf den unscheinbaren Fleck schauten, spürte der Kapitän die Anspannung der Mannschaft. Es war ein kurzer Zwischenstopp, bevor sie die Passage nahmen. Viele Schiffe hielten hier, ehe sie ins Ungewisse sprangen. Und doch war es mehr als das. Eine Legende unter den Sternenfahrern.

»Schau dir diesen armseligen Felsbrocken an«, sagte der Kapitän zu Aline. »Kaum groß genug, damit unser Schiff landen kann. Aber er beherbergt einen der heiligsten Orte des bekannten Universums.«

Der Kapitän sah die Spiegelung des Planeten in den dunklen Augen des Mädchens. Was für eine seltsame Kombination, dachte sie. In dem Moment wusste sie, was sie zu tun hatte.

»Du kannst mich begleiten!«, sagte sie.

Das Mädchen starrte den grauen Fleck auf dem Display an.

Die Landedüsen des Sternenschiffes wirbelten hellen Staub auf, als es inmitten der öden Steinlandschaft aufsetzte. Noch während der Antrieb erlosch, eilte der Kapitän mit schweren Schritten durch die Gänge, das Mädchen dicht hinter ihr, und ließ die schweigsame Mannschaft zurück. Sie war nie ein Freund überflüssiger Worte gewesen und es gab nichts mehr zu sagen. Als sie mit Aline nach draußen trat, standen sie unter einem üppigen Sternenhimmel.

»Dort«, sagte der Kapitän und deutete auf einen entfernten Klecks in der tiefen Schwärze. »Da hinten befindet sich die Erde. Ich bin so weit weg von ihr, wie ich es noch nie war.«

Aline zeigte zum Himmel, rieb sich über die Arme und machte eine fragende Geste.

»Das stimmt!«, antwortete der Kapitän. »Keine Sonne! Und doch erfrieren wir nicht. Du bist sehr schlau.«

Aline atmete tief ein und klopfte auf ihre Lungen.

»Die Atmosphäre und die Schwerkraft des Planeten sind künstlich, aber niemand weiß, wie es gemacht wird. Man sagt, dass sich die Lebensbedingungen hier an die Besucher anpassen, sodass jeder die Möglichkeit hat, das heilige Buch zu sehen.«

Das Mädchen blickte skeptisch. Das hätte sie, wie die alte Frau dachte, in ihrem Alter auch getan. Als Kind hatte sie an Wunder und all die Phänomene geglaubt, die die Naturgesetze nicht erklären konnten. Das war der Grund gewesen, warum sie die Offizierslaufbahn angestrebt hatte. Sie wollte irgendwann ins All starten und das Unerklärliche mit eigenen Augen sehen. Aber als es endlich so weit war, war von den Vorstellungen ihrer Kindheit nicht mehr viel übrig geblieben.

In einiger Entfernung befand sich ein hohes Gebäude, in dessen Fenster ein schwacher Schein glomm. Es war das einzige sichtbare Bauwerk in der öden Wüstenlandschaft. Der Kapitän sah sich nach der Ikarus um. Die vertrauten Umrisse des Raumschiffs hatten ein schwarzes Loch in den Sternenhimmel gestanzt. Sie spürte die Blicke ihrer Mannschaft, die ihr ein halbes Leben lang gefolgt war.

Seite an Seite mit Aline ging sie auf das Heiligtum zu. Der stechende Schmerz in ihrem Unterbauch machte sie kurzatmig, aber sie hatte gelernt, mit ihm auszukommen. Der Boden leuchtete schwach im Glanz der Sterne.

Sie waren nicht lange gegangen, da schälten sich die Umrisse einer Gestalt aus der Dunkelheit. Zuerst hatte der Kapitän an eine Sinnestäuschung gedacht, aber bald konnte sie eine Kutte erkennen, deren Kapuze wie der übergroße Kopf eines Jungvogels wirkte. Langsam bahnte sich die Gestalt einen Weg zwischen den Steinen entlang, verschwand kurz in einer Senke und tauchte schließlich mit ihrem gemächlichen Schritt oben wieder auf. Als sie vor ihnen stehen blieb, stellte sie sich als schlanker Mann von unbestimmbaren Alter heraus, dessen bloße Füße in schlichten Sandalen steckten. Seine graue Robe besaß die Farbe der Steinwüste. Er schob seine Kapuze zurück und sah sie mit unergründlich schwarzen Augen an. »Seid Ihr gekommen, um das Buch der Sterne zu sehen?«

Der Kapitän nickte und legte die Hand auf die Schulter von Aline. »Wir haben einen weiten Weg hinter uns.«

»Folgt mir!«

Langsam ging der Mönch vor ihnen her. Sie passten sich seinem gemächlichen Schritttempo an, während sich ihre Augen allmählich an die Dunkelheit gewöhnten. Der Kapitän betrachtete den Mönch und fragte sich, ob er nur ihnen wie ein Mensch erschien oder ob er wirklich einer war? Unter den Sternenfahrern erzählte man sich, dass die Hüter des Heiligtums von Menschen abstammten, die vor langer Zeit die Erde verlassen hatten. Mehrere Generationen lang sollen sie durchs All gestreift sein, bis sie hier ankamen, kaum noch eine Handvoll Individuen. Sie errichteten das Gebäude mit ihren bloßen Händen.

Während sie einen sanften Abhang hinuntergingen, zog Aline erschrocken die Luft ein und zeigte mit der Hand nach vorn.

Mehrere Gestalten verließen gerade das hohe Gebäude. Aline sah mit schreckgeweiteten Augen zu den Skeletten hinüber, deren bleiche Knochen sich deutlich in der Dunkelheit abzeichneten.

»Es heißt«, flüsterte der Kapitän dem Mädchen zu, »dass der Mönch ewig lebt, aber das ist nicht wahr. Er lebt nur sehr lange. Eines Tages muss auch er sterben und dann … Nun, das wirst du bald sehen.«

Sie kamen an einem Hang vorbei, in dem der Eingang einer Höhle lag. Eines der Skelette trat mit einem Tablett heraus und ging direkt auf sie zu. Aline wich ein wenig zurück. Die bleichen Knochen schimmerten, wie mit einer klaren Flüssigkeit eingerieben, und als es vor ihnen stehen blieb, brachte es den Duft von Weihrauch mit sich. Auf dem Tablett standen zwei irdene Becher.

Der Kapitän nahm die beiden Becher, einen davon reichte sie an das Mädchen weiter, das misstrauisch an dem blutroten Inhalt schnupperte. Die alte Frau trank den schweren Gewürzwein in einem Zug aus. Das Aroma breitete sich in ihrem Mund aus. Trauben, dachte der Kapitän. Muskat. Zimt. Und irgendetwas Süßes.

Aline nippte an dem Wein und schüttelte sich. Das Skelett wartete, bis sie ihre Becher wieder auf das Tablett gestellt hatten, und entfernte sich ohne ein Wort. Das Mädchen ließ das Wesen nicht aus den Augen.

Der Mönch blickte Aline fragend an.

»Das Mädchen ist stumm«, sagte der Kapitän.

Der Mönch musterte das Mädchen und wandte sich ab. Schweigend ging er weiter voran zu dem Gebäude.

Aline wäre beinahe gestolpert, weil sie sich immer wieder umblickte, und stieß den Kapitän fragend an.

»Man sagt«, erklärte die alte Frau, »dass ein Mönch nach seinem Tod weiterhin dem Heiligtum dient. Was du hier siehst, sind alles seine Vorgänger. Sie kümmern sich um die Instandhaltung des Gebäudes und die Versorgung des Mönchs. Es sind die stummen und dienstbaren Geister dieses Ortes.«

Der Mönch ging langsam voran. Das Gebäude vor ihnen wurde allmählich größer, war aber immer noch undeutlich zu erkennen. Seine Umrisse verschwammen vor dem Grau der Steinwüste.

Als Mädchen war der Kapitän häufig in einen nahe gelegenen Wald gegangen und schon etliche Meter, bevor sie zwischen den ersten Bäumen stand, hatte sie eine Veränderung der Luft wahrgenommen, als würde sie in eine andere Atmosphäre eintauchen. An heißen Tagen war es wie der Aufenthalt am Ufer eines Sees gewesen, dessen Wasser ihren Körper kühlte und ihre Lungen reinigte. Während sie dem Heiligtum näherkam, hatte sie dasselbe Gefühl. Mit einem Schlag war sie wieder ein elfjähriges Mädchen in den Wäldern Nordenglands. Alles um sie herum veränderte sich, als würden die Dinge eine andere Nuance erhalten oder als wäre ihr Blick auf die Umgebung ein anderer, sie vermochte es nicht zu sagen.

Dann ist es also wahr, dachte sie.

Das heilige Gebäude war alt und verwittert. Es war nicht sonderlich groß, viel kleiner, als seine Bedeutung erwarten ließ, und aus demselben grauen Gestein wie die Landschaft. Wie direkt aus dem Boden gewachsen, dachte die alte Frau. Die oben abgerundete Tür bestand aus einem durchscheinenden Material und war von Raben bedeckt, die mit ausgebreiteten Flügeln in das Gebäude strebten. Der milchige Verlauf der Tür brach das Licht aus dem Inneren und erinnerte den Kapitän an einen Wasserfall, der plötzlich erstarrt war.

Sie wusste, dass die Tür nur für sie so aussah. Es gab unzählige Berichte darüber. Die alte Frau musterte die Raben, die in den Wäldern ihrer Kindheit allgegenwärtig gewesen waren. Ihr heiseres Krächzen und der kluge Blick, wenn man unter den Baumkronen entlangging, die Geschichten, die man sich von ihnen erzählte, weitergegeben von der Mutter an die Tochter und vom Vater an den Sohn. Der Anblick der Vögel brachte etwas zum Klingen in ihr. Sie legte die Hand auf die Außenseite der Tür, die keinen Griff hatte. Alte Worte stiegen in ihr auf.

»Der Regen bildete eine Tür für mich und ich trat hindurch.«

Nachdem die Worte in der klaren Luft verklungen waren, gab die Tür unter ihrer Berührung nach. Die alte Frau betrachtete ihre Finger, die halb in das vormals diamantharte Material eingesunken waren. Der Wein?, überlegte sie. Irgendwelche psychotropen Substanzen? Das schwere, süße Getränk war ihr zu Kopf gestiegen und alles wirkte ein wenig unscharf. Sie zog die Finger heraus und ließ sie wieder in die Tür gleiten, die keinen Widerstand bot. Es kam ihr nicht vor wie ein Taschenspielertrick.

Der Kapitän trat durch die Tür.

Es fühlte sich an, wie durch eine Nebelwand zu treten. Als sie die Augen wieder öffnete, befand sie sich im Inneren des Gebäudes. Es roch nach dem Staub von Jahrhunderten. Durch ein hohes Fenster am anderen Ende konnte man das Firmament mit den unzähligen Sternen sehen. Unter dem Fenster stand ein kantiges Bücherpult, links und rechts von zwei leuchtenden Kugeln eingerahmt, die auf kleinen Säulen saßen. Sie spendeten ein kaltes, bläuliches Licht. Der Kapitän hörte, wie Aline in den Raum schlüpfte, erschrocken nach Luft schnappend. Die alte Frau achtete nicht auf das Mädchen und fixierte das große, durchscheinende Buch auf dem Pult. Der Schmerz flackerte in ihrem Unterleib, so rot glühend und scharf, dass es ihr den Atem nahm. Mit klopfenden Herzen schleppte die alte Frau sich weiter.

Die Innenwände bestanden aus einer schwarzen, glatten Steinschicht, die das wenige Licht im Gebäude verschluckte, sodass die Ausmaße des Raumes verschwammen.

»Ich wandle durch die sternenlose Schwärze«, murmelte der Kapitän.

Sie bemerkte, dass Aline sie fragend ansah, doch sie hielt den Blick auf das Objekt am anderen Ende des Raums geheftet. Die Schritte auf dem bloßen Steinboden hallten leise wieder.

Vor dem steinernen Buchständer blieb sie stehen. Obwohl alles in ihr danach rief, in das Buch aus Glas zu schauen, irrte ihr Blick über die Ränder des Buchständers, der aus dem grauen Gestein der Außenwand bestand und nach Alter und Staub roch. Aus der Nähe wirkte die Steinoberfläche porös, wie die verkraterte Oberfläche eines Mondes.

Ihr Gesicht, von dem sie wusste, dass es keine Regung zeigte, war hart wie das Material um sie herum, aber ihre Augen brannten. Seit Jahren vermochte sie nicht mehr zu schlafen, und sobald sie doch einmal die Augen schloss, waren dort nur Träume zu finden. Bilder, aus lang vergangenen Zeiten, ihrer nordenglischen Heimat, ihres Dorfes, die ihre Ruhephasen durchfurchten wie ein Pflug den Acker. Obwohl sie so weit gekommen war und ein Leben zwischen den Sternen gelebt hatte, kehrten sie während des Schlafes immer wieder in ihre Kindheit zurück. Längst vergessene Details wurden lebendig, als wäre sie erst gestern aufgebrochen. Ihr altes Gehirn ließ sie durch Wälder streifen und Gänseblümchen pflücken, ein junges Mädchen, das sich nie davor gefürchtet hatte, sich zu verlaufen. Und erst das Wecksignal holte sie zurück in die kleine Koje zwischen den kahlen Wänden der Ikarus.

Der Kapitän beugte sich über das Buch und schlug es auf.

Es war immer so: Keiner wusste, was ihn erwartete, wenn er in das Gläserne Buch blickte. Jeder sah etwas anderes, und doch war niemand von seinem Inhalt überrascht. Und so war es auch bei ihr.

Vor ihr erstreckte sich das endlose All und instinktiv stützte sie sich auf dem Buchständer ab, um nicht kopfüber zwischen die Sterne zu fallen. Es war, als hätte man ein Fenster ins Universum geschlagen, das sich unter ihr auftat. Sie stöhnte erschrocken auf, Schwindel erfasste sie und es gelang ihr nur mit Mühe, auf den Füßen zu bleiben. Sie zwang sich, den Blick nicht abzuwenden, während die Sterne sich vor ihren Augen zu bewegen begannen. Sie umklammerte das steinerne Bücherpult so fest, dass sie das Gefühl in ihren Händen verlor. Sie erkannte die Sterne, die ihre noch jungen Augen gesehen hatten, als sie als Offiziersanwärterin auf ihrem ersten Flug von der Erde aufgebrochen war. Ein Eindruck, der sich ihr für immer eingebrannt hatte. Planeten und Sternenbilder zogen vorbei wie die Jahre, die sie zwischen ihnen verbracht hatte, eine lange Zeit für einen Menschen, aber nicht einmal ein Wimpernschlag für die Unendlichkeit. Die alte Frau lächelte, während die vertrauten Bilder an ihr vorüberzogen. Wie im Schnellraffer sah sie ihre Reisen an sich vorüberziehen, und sie lächelte noch immer, als die Sterne ihren Zeitlauf überschritten und in die Zukunft hinforteilten. Der Zeitpunkt kam, an dem ihr irdisches Dasein endete und die Ewigkeit begann. Das Ende ihrer Reise. Aufmerksam sah sie hin, bevor sie sich langsam aufrichtete.

Sie war ein wenig zitterig, aber sie hatte genug Zeit gehabt, sich auf diesen Moment vorzubereiten, und das Alter hatte sie gelehrt, Unvermeidliches auszuhalten. Aline griff nach ihrer Hand und die menschliche Berührung überraschte sie. Wie lange war es her, dass jemand ihre Hand genommen hatte? Ein wenig unbeholfen tätschelte sie die glatte Haut des Mädchens. Langsam, und ohne ein Wort, kehrte sie zum Eingang zurück. Die Tür stand nun offen und ließ die öde Steinwüste erkennen.

Erst als sie gemeinsam vor das heilige Gebäude traten, fand der Kapitän die Worte wieder.

»Du bist nicht zufällig an Bord gekommen, weißt du«, sagte sie unter dem gigantischen Sternenhimmel zu dem Mädchen. »Ich war ungefähr so alt wie du, als ich mit meiner Ausbildung begann.« Der Kapitän machte eine Pause und musterte die Sternenkonstellation, stockte für einen Augenblick. »Manchmal ist es ein Schiff, das sich seine Menschen wählt.«

Aline sah sie fragend an.

»Ich glaube, du würdest gut an Bord der Ikarus passen. Sie hat noch die eine oder andere Reise vor sich und die Mannschaft könnte etwas Nachwuchs gebrauchen.« Der Kapitän lachte ein heiseres Altfrauenlachen. »Wir sind alle nicht mehr die Jüngsten.«

Aline wirkte überrascht und sah eine Weile zu dem entfernten Raumschiff hinüber, dessen Schatten in der Ferne nur zu erahnen war. Dann nahm sie das kleine Büchlein zur Hand und schrieb etwas hinein.

»Meine Eltern sind tot«, las der Kapitän.

Alines Finger, die das Heft hielten, zitterten.

»Wenn du an Bord eines Raumschiffes dienst«, sagte sie zu dem Mädchen, »bekommst du eine neue Familie. Sie werden auf dich aufpassen und sich um dich kümmern. Es ist leichter, an Bord zu sein, wenn du keine Familie zurücklässt!«

Der Kapitän aktivierte mit einem Sprachbefehl ein holografisches Terminal, das blauschimmernd zwischen ihnen auftauchte, und sendete eine kurze Nachricht an ihren Stellvertreter an Bord.

»Bereitet alles für unser neues Crewmitglied vor«, sagte sie. »Schaut, was sie kann, und bildet sie aus. Sie heißt Aline.«

»Verstanden, Kapitän«, antwortete Marl.

»Nachdem das erledigt ist, sollten wir …«

Aline zupfte energisch an ihrem Ärmel und zeigte auf sie.

»Was meinst du, Kleines?«

Aline kritzelte einige Wörter in das Büchlein und hielt es der alten Frau entgegen.

»Was ist mit dir?«, las der Kapitän. »Wie ich schon sagte, das ist meine letzte Reise! Komm mit!«

Die unweit des Heiligtums in den Felshang führende Höhle war kaum mehr als ein schmaler Gang, der sich erst nach ein paar Schritten weitete. Einige Seitengänge führten tiefer in den Felsen, von dem der Kapitän nicht sagen konnte, ob sie natürlichen Ursprungs waren oder über Jahre mühevoll in den Stein gehauen worden waren. In regelmäßigen Abständen befanden sich Behältnisse mit leuchtenden Steinen an den Wänden, die die Umgebung notdürftig erleuchteten. Der Gang endete in einer kleinen Kammer.

Der namenlose Mönch kniete vor einem verblichenen Gemälde, das im flackernden Licht einer Feuerschale golden glänzte. Drei Skelette standen neben ihm und musterten sie mit ihren dunklen Augenhöhlen. Der ganze Raum roch nach Weihrauch.

Der Kapitän erkannte, dass der Mönch ein- und dasselbe Wort immer und immer wieder wiederholte, eine endlose Litanei gemurmelter Silben, die zu einem monotonen Singsang verschmolzen. Bei jedem Ausatmen sprach er das Wort ohne hörbare Gefühlsregung, fast wie ein Hauchen, ohne besondere Betonung. Aber so sehr sich die alte Frau auch bemühte, sie konnte nicht verstehen, um welches Wort es sich handelte. Durch die beständige Wiederholung schien es von Schatten umgeben zu sein, als wäre es von einer übergroßen Deutlichkeit verhüllt.

Nach einer Weile verstummte der Mönch und drehte sich zu ihnen um. Außer dem leisen Flackern des Feuers war nicht das geringste Geräusch zu hören. Der Mönch nahm seine Kapuze ab und winkte Aline zu sich heran.

»Geh, mein Kind«, sagte die alte Frau leise.

Zögerlich ging Aline zu dem knienden Mann hinüber und ließ sich vor ihm nieder. Das schmale Gesicht des Mannes mit den schwarzen Augen wandte sich dem Mädchen ruhig zu. Aline blieb regungslos hocken und für eine Weile rührte sich keiner von beiden. Dann nahm der Mönch ihre beiden Hände in die seinen, beugte sich vor und flüsterte ihr ein Wort ins Ohr.

Das Mädchen schloss die Augen, als würde es in sich hineinlauschen.

Eine Weile passierte nichts.

Der Kapitän warf einen Blick zu dem alten Bild an der Wand, dessen Motiv er immer noch nicht erkennen konnte. Die Farben waren so ausgeblichen, dass man das Motiv erst erkennen konnte, wenn man nahe vor der Leinwand stand. Der Kapitän sah, dass das Bild eine Sternenkonstellation zeigte. Dieselbe Sternenkonstellation, erkannte sie, die ihr das gläserne Buch am Schluss gezeigt hatte.

Eine Weile stand die alte Frau da und betrachtete das Bild. Sie hatte lange genug in die Sterne geblickt, um bemerkt zu haben, dass die Sterne über diesem kleinen Gesteinsbrocken dieser Konstellation entsprachen. Alles war so klar, aber der letzte Schritt erforderte häufig die größte Anstrengung.

Ein Aufkeuchen riss sie aus ihren Gedanken. Aline lag auf dem Rücken und atmete schwer. Der Kapitän trat auf das Mädchen zu, aber der Mönch hob seine Hand. Ein Zittern durchlief den dünnen Körper. Das Gesicht, umrahmt von dem tiefschwarzen Haar, war kalkweiß.

»Was ist mir ihr?«, fragte der Kapitän.

Auf dem bleichen Gesicht des Mädchens lag ein Ausdruck des Schreckens, zwischen ihren zusammengepressten Lippen ragte der Stängel einer Rose hervor. Der Kapitän starrte auf den grünen, dornigen Stiel mit den tiefroten Blütenblättern, der Aline den Mund verschloss. Es war die eine Geschichte, von der sie noch immer träumte. Die erste, die ihr ihre Mutter erzählt hatte.

Wir sehen das, dachte sie, was in uns ist. Was für ein merkwürdiger Ort!

Bis heute gab es Menschen in den abgelegenen Ortschaften ihrer Heimat, die auf die Rückkehr des Rabenkönigs warteten. Die dem Glauben ihrer Vorfahren treu geblieben waren.

Die alte Frau kniete sich neben das Mädchen, das mit schreckgeweiteten Augen ihren Blick suchte. Die Rose, die den Mund verschloss. Das Zeichen des Paktes.

Der Mönch blickte sie erwartungsvoll an. In seinen dunklen Augen sah sie ihr nahes Ende.

Es überraschte sie, dass es so enden sollte. Mit diesem Symbol aus ihrer Kindheit. Einer alten Legende, an der sie ihr halbes Leben nicht mehr gedacht hatte.

»Hab keine Angst!«, sagte sie zu dem Mädchen.

Jeder sieht nur das, was er kennt … In ihrem langen Leben hatte sie Leben entstehen und Leben enden sehen. Im großen Ganzen der Schöpfung spielte es keine Rolle. Aber das menschliche Herz sehnte sich nach Bedeutung, nach etwas, das blieb.

»Kann ich hierbleiben?«, fragte sie den Mönch. »Wenn alles vorbei ist …«

Er neigte seinen kahlen Kopf.

Die Vorstellung, für ewig unter diesem Sternenhimmel zu liegen, erleichterte sie.

Langsam beugte sie sich nach vorne und hauchte dem Mädchen einen Kuss auf die Stirn. Ihre Finger fanden die Rose.

»Zu den Sternen, mein Kind …!«

Sie nahm die Rose von den Lippen des Mädchens.

Aline keuchte auf, schnappte mit weitaufgerissenem Mund nach Luft. Der Kapitän hielt die Rose in beiden Händen. Sie brannte auf der Haut, als wäre sie ein Eiszapfen. Im nächsten Augenblick kam der Boden auf sie zu.

Langsam atmete der Kapitän aus. Ihre alten Augen richteten sich zu der hohen Decke, über der sich das letzte Sternenbild ihrer sterblichen Existenz befand, weit aufgespannt in all seiner Pracht, in all seiner Dauer, die in menschlichen Maßstäben nicht zu messen war. Jemand beugte sich über sie und das Gesicht Alines sah auf sie herab. Sie hatte Tränen in den Augen.

Der Torheit der Menschen, dachte die alte Frau ohne Trauer, da aller Schmerz von ihr abfiel.

Das Licht nahm um sie herum ab, und sie hatte Mühe, Aline zu erkennen. Ihr Kopf fühlte sich so lebendig wie nie zuvor, aber ihr Körper stellte nach und nach seine Funktionen ein. Wie ein Baum, dachte sie, der kurz bevor er stirbt noch einmal austreibt.

»Ich wollte doch nur meine Eltern wiedersehen«, flüsterte Aline.

Die alte Frau wollte etwas sagen, aber ihre Lippen waren wie versiegelt. Die älteste Vereinbarung von allen. Ein Ende für einen Anfang.

Mühsam öffnete sie ihre Hände, aber sie waren leer.

Langsam fuhr sie mit den Fingern durch das Gras und pflückte ein Gänseblümchen ab, die einfachste unter den Blumen des Waldes, aber wie ein ganzes Universum voller Wunder in der Hand.

GEGEN UNENDLICH 16

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