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Lukas Vering: 137
ОглавлениеVon unserem schmalen Balkon aus wirkt unsere neue Stadt wie ein Labyrinth zum Ausmalen. Solche, die auf den Rückseiten von Müslischachteln abgedruckt sind. Oder auf den Papierunterlagen von Fast-Food-Läden. Doch würde ich einen Stift nehmen und einen Weg durch den Irrgarten zeichnen, würde ich immer nur in Sackgassen enden. Da müssen Abbiegungen und Auswege sein, die ich in der vagen Beleuchtung einfach nicht sehen kann. Das bisschen Licht, das einen Weg durch die dichten, staubfarbenen Wolken findet, bleibt irgendwo in den obersten Stockwerken der hohen Gebäude hängen. Hier unten bleibt uns dann nichts als das gelbe Schimmern der Straßenlaternen und das blaue Flickern der Computerbildschirme.
Hinter mir dringen lauter werdende Stimmen durch die dünne Balkontür. Sie streiten wieder. Über Dinge, die sie nicht mehr ändern können. Die sie niemals hätten ändern können. Die sich niemals ändern werden. Sie sind wie eingesperrte Wildkatzen, immerzu laufen sie auf und ab in ihrem kleinen, engen Käfig aus Plastik, bis sie die Geduld verlieren und aufeinander los gehen. Dann werden ihre Worte zu krallenbesetzten Pranken, die verletzen wollen. Ich habe schnell gelernt, nicht zwischen ihre Fronten zu geraten. So wird man nicht verletzt, wenn Wut und Verzweiflung aus Eltern Wildkatzen machen. Aber Wildkatzen, hat Mutter schon so oft gesagt, sind ausgestorbene Wesen. Sie weiß, dass Gleiches in unserer neuen Stadt schon bald auch für Eltern gilt.
Ich kenne einen Trick, um aus dem Kreuzfeuer zu fliehen. Ich muss mich nur über das Geländer schwingen, die Füße ins Leere baumeln lassen, bis sie den unter uns liegenden Balkon finden und dann loslassen. Nach vier Balkonen erreicht man ein Flachdach, von dem aus eine Feuerleiter bis hinab in eine enge Gasse auf der Straßenebene führt. Die Plastikwände der Wohnblöcke sind in der Gasse so nah, dass ich die Arme nicht ausstrecken kann. Schaut man von hier nach oben, sieht man nur Wände, Brücken, Kanten und Ecken. Alles aus dem gleichen, farblosen Plastik gegossen, dass sie aus den vergifteten Meeren gefischt und mit hierher gebracht haben. Irgendwo dazwischen erhascht man mit viel Glück einen Fetzen Himmel. Orange, beige, staubig, blass, aber gefüllt mit einer Idee von weit entferntem Sonnenlicht. Wenn man das Gesicht in Richtung so eines Fetzens streckt und die Augen schließt, könnte man beinah glauben, so etwas wie Wärme auf seiner Haut zu spüren. Aber viel davon dringt nicht durch die Plastikglocke, die unsere neue Stadt umgibt. In den Pflichtlektüren unserer neuen Schule habe ich gelesen, dass die Glocke uns vor Staub, Wind und Strahlung schützt. Und dass sie derzeit immer noch daran arbeiten, dass die kleinen Partikel im Material der Glocke einen strahlend blauen Himmel simulieren. Vielleicht, wenn es soweit ist, könnten sie dann auch ein bisschen Wärme vortäuschen.
Ich verlasse die Gasse und betrete die Straße. Sie ist nicht viel breiter, nur ein Gehweg. Die wirklich breiten Straßen, auf denen die Tube verkehrt, sind die einzigen Schneisen, die sich durch die dichte Stadt fräsen. Alles andere sind nur Risse. Ich lasse meinen Blick wieder nach oben wandern, versuche von hier aus den Balkon zu erkennen, von dem ich gerade geflohen bin, doch es ist unmöglich, den richtigen zwischen den Abertausenden von baugleichen Balkonen auszumachen. Alle haben das gleiche schwarze Plastikgeländer, den gleichen halben Meter bis zur Tür aus durchsichtigem Hartplastik und das gleiche viereckige Fenster daneben. Reihen über Reihen über Reihen davon schichten sich aufeinander, nebeneinander, ineinander. In irgendeiner dieser engen Plastikschachteln streiten meine Eltern und bemerken nicht, wie ich verschwinde. Wie ich immer weiter verschwinde.
Nach der Flucht war alles anders. Es gab keine andere Wahl, sagt Vater immer. Wir haben zurückgelassen, geopfert und aufgegeben. Alles, was wir einmal waren, ist jetzt nicht mehr von Bedeutung. Das große Haus, das viele Geld, das schnelle Auto, der Platz an der Sonne. Jetzt gibt es nichts mehr zu wählen, sagt Mutter dann immer.
Ich tauche in das Licht einer Straßenlaterne ein. Es ist kalt und steril, gefühlloses LED. Für einen Moment bin ich strahlend gelb, dann wechsle ich wieder in die trübe Dunkelheit, die hier unten regiert. Andere Menschen kommen mir entgegen, ihre Gesichter kann ich nur in den flüchtigen Momenten erkennen, in denen sie selber durch einen Laternenkegel streifen. Sie sind blass und schmallippig, genau wie ich. Verlorene Raubtiere in einem Urwald aus Schatten. Ich frage mich, welche Sprache sie sprechen.
Der Gehweg mündet in einer breiteren Straße, über deren Mitte eine Schiene verläuft. Darauf gleitet die Tube geräuschlos durch die Innereien der Stadt, windet sich einen Weg über den Bodensatz dieser riesigen, in Plastik verschweißten Blase. Ich schaue nach links und rechts, doch kann nirgendwo eine herannahende Tube erspähen. Ich nutze den Moment, stelle mich auf die Mitte der Straße und schaue aufwärts. Von der Mitte dieser breiten Schneise hat man den besten Blick nach oben. Ich erspähe mehr himmelfarbige Flecken, als ich zählen kann. Von hier aus fällt es mir fast leicht, mir vorzustellen, den ganzen weiten Horizont zu überblicken, über alle Dächer hinweg, bis zu der Linie, die Land und Himmel trennt. Wie wäre es wohl, über diese magische Linie zu treten? Ich würde meine eigene Rakete bauen, die mich vom Land in den Himmel trägt und weit, weit fort von hier bringt. Weg von den beengenden Gassen, den schwindelerregend hohen Häusern, den endlos übereinandergeschichteten Schachtelwohnungen, den nimmersatten Schatten. Weg von den zahllosen Ebenen der Stadt, von denen ich die unterste behause. Doch egal wie sehr ich die Himmelfetzen in meiner Fantasie zusammenflicke, es wird doch keine Decke daraus. Also schaue ich nur verzweifelt auf die Brücken, die sich zwischen den höchsten Häusern spannen, und auf die stummen Fassaden, die mir den Blick verbauen. Ob die Menschen, die dort oben leben, wohl den Horizont sehen? Sie haben schließlich genug dafür bezahlt.
Jemand ruft. Ich verstehe nicht was, aber ich verstehe den Tonfall. Hastig löse ich den Blick von der fremden Welt über mir und erkenne sofort die Tube, die auf mich zu rast. Eine längliche, durchsichtige Röhre, zwei Scheinwerfer fräsen sich vor ihr durch die Dunkelheit, in ihrem Bauch sitzen und stehen Körper ohne Ausdruck. Sie ist noch weit genug entfernt. Ich muss nur zur Seite treten, in die nächste Gasse verschwinden, mich von den Schatten verschlucken lassen.
Ich kenne einen Ort, den es nicht geben sollte. Ich habe ihn auf einem meiner Streifzüge entdeckt. Sicher war es ein Fehler im Bauplan unserer neuen Stadt. Vielleicht aber auch eine Falle. Für neugierige Wesen wie mich. Es ist ein Aufzug. Nicht einer von denen, die von einem Stockwerk im Wohnkomplex ins nächste fahren. Und auch nicht einer von denen, die von der Straßenebene auf die höherliegende Ladenzeile steigen. Dieser Aufzug schraubt sich durch eines der großen Gebäude, der wirklich großen Gebäude. Unsere neue Stadt ist nicht nur die zwielichtige Welt hier unten auf der Straßenebene. Weit über uns, dort wo die ersten Brücken ein neues Netz aus Gehwegen spannen, leben jene, die mit volleren Händen als wir auf die Flucht gingen. Und noch weiter oben, weit, weit oben, wo die Dächer der Häuser schon fast an der Plastikglocke kratzen, leben jene, deren Gnade wir es zu verdanken haben, dass es überhaupt eine Flucht gab. Man erzählt sich, dass sie dort in riesigen Wohnungen leben, auf den Dächern grüne Gärten angebaut haben, das Sonnenlicht durch ihre Fenster flutet. Von hier unten kann ich nur schweigende Fronten und schwebende Schienen erkennen. Lautlos schieben sich die Tuben dort oben am Himmel von einem Gebäude zum nächsten. Manchmal, an Tagen, an denen sich die staubige Wolkendecke etwas lockert, glaube ich sogar Fußsohlen durch den transparenten Tubenboden erkennen zu können.
Die Tür zu dem Aufzug liegt in einem Hof. Diese runde Aussparung im Häuserdickicht ist in das tiefrote Licht einer surrenden Lampe getaucht, die gleich über der Tür zum Fahrstuhl hängt. Als ich den Hof das erste Mal fand, während ich mich mit Absicht in den Wirrungen des Labyrinths verlor, fühlte ich mich ganz unreal im rubinroten Licht. Es malte mich in einer Farbe an, die nicht mir zu gehören schien. Ich entdeckte die Tür, weil zwischen ihren beiden Flügeln ein heller Schlitz leuchtete. Ich zog sie auf, betrat das überraschend geräumige Innere und fand einen Knopf mit der unglaublichen Zahl 137. Damals wagte ich nicht, ihn zu drücken.
Jetzt presse ich meinen Finger energisch auf die 137. Im Inneren des Fahrstuhls schiebt sich eine Tür vor meinen Ausgang, der letzte Schimmer des roten Lichts verschwindet. Ich halte den Atem an. Ich habe lange darüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es sich um einen Lastenaufzug handeln muss. Wer weiß, was die von da oben zu uns herunter transportieren müssen. Was sie loswerden müssen. Ich bin auch zu dem Schluss gekommen, dass sie wohl kaum die Türen eines Lastenaufzuges überwachen werden. Und selbst wenn, werden sie wohl kaum ein Kind aus dem hundertsiebenunddreißigsten Stockwerk werfen. Keine Zeit zum Zweifeln. Der Fahrstuhl fährt bereits. Ich spüre, wie Stockwerk nach Stockwerk an mir vorüberzieht. Ein Kribbeln steigt in meine Finger. Meine Füße fühlen sich schwer wie Stein an, mein Herz leicht wie Sand. Die Gedanken an meine Wehrlosigkeit verfliegen. Auf einem Display steigen die Zahlen immer höher. Plötzlich flutet gleißendes Licht den Fahrstuhl. Erschrocken reiße ich die Hände vor das Gesicht. Die Aufzugkabine ist in Wirklichkeit ein Glaskasten, der nun von einem dunklen in einen transparenten Schacht gewechselt hat. Tageslicht flutet ohne Gnade vor meinen lichtentwöhnten Augen auf mich ein. Fassungslos trete ich an die durchsichtige Wand heran und schaue hinaus in die Stadt, die klein und verschlungen und zerfressen von Schatten unter mir liegt. Kein Wunder, dass niemals jemand von hier oben zu uns herunterkommt.
Ich hebe den Blick, löse ihn vom schrumpfenden Labyrinth unter meinen Füßen. Ich sehe rechteckige Hochhäuser mit schimmernden Fassaden, an denen ich vorbeiziehe, bis ich auf ihre flachen Dächer schauen kann. Ich sehe keine grünen Gärten darauf, aber riesige Satellitenschüsseln. Suchen sie Kontakt? In einiger Ferne erkenne ich das Gerüst einer Druckmaschine. Vermutlich thront sie auf einem niedrigeren Gebäude und sprüht gerade Schicht für Schicht heißes Plastik aufeinander, bis daraus ein neues Dutzend Schachtelwohnungen entsteht. Dann schichtet sie eine Handvoll geräumiger Wohnungen für die oberen Etagen darauf, und wer weiß, was zu guter Letzt als krönender Abschluss folgt. Vielleicht sind wir getrennt durch Ebenen und Stockwerke, doch das Plastik aus den Druckmaschinen macht uns alle gleich. Es war das einzige Material, dass wir auf die große Flucht mitnehmen konnten. Viel hat nicht auf unsere Schiffe gepasst, die in die schwärzeste See stachen, um unserer brennenden Heimat zu entfliehen. Noch nicht einmal Mitleid für jene, die wir zurückgelassen haben, in dem Chaos, das wir durch unsere Gier und Selbstsucht entzündet haben. Wir ließen sie glauben, sie könnten die Welt mit Bio-Siegeln, Fair-Trade-Kaffee und ein bisschen Klimaschutz retten, dabei war der Untergang längst unabwendbar und unsere Flucht lange geplant. Es gab keine andere Wahl, sagt Vater immer, verzweifelt und geschlagen vor Schuld. Jetzt gibt es nichts mehr zu wählen, sagt Mutter dann immer, ernüchtert und ausgebrannt von der Erkenntnis, dass sie jetzt zu denen gehört, die man einmal zurücklassen wird.
In weiter Ferne, hinter den riesigen Pumpen der Druckmaschine und den letzten Hochhausfassaden, erkenne ich das vage Schimmern der Glocke, die dort als Wand in die Vertikale steigt. Mein Blick wandert an ihr empor, bis sie sich wie ein Himmel aus Plastik über die Dächer unserer neuen Stadt spannt. Hinter ihr, in noch weiterer Ferne, nach einer Wüste aus rotem Staub und Fels, sehe ich eine weitere Glocke. Und bevor ich die Linie ausmachen kann, die Land und Himmel trennt, noch eine dritte und eine vierte Stadt unter ihrer eigenen Plastikglocke. Geschützt vor Staub, Wind und Strahlung. Und der atemlosen Luft unseres neuen Planeten.