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Vom toten Kanarienvogel
ОглавлениеStellen Sie sich Folgendes vor:
Sie genießen gerade einen ruhigen Nachmittag in Ihrem Garten. Aber plötzlich – nein, nicht doch! – ist er schon wieder da! Ihr »wundervoller« Nachbar, der Sie ständig in endlose Gespräche über seinen albernen Kanarienvogel verwickeln will! »Warum ausgerechnet heute?«, fragen Sie sich. In diesem Moment erkennen Sie, dass Ihr Nachbar sehr aufgeregt ist. Er weint. Was ist nur passiert?
Als er näherkommt, sehen Sie, dass er etwas in den Händen hält. Etwas, das aussieht wie Vogelfedern. Kann das wirklich sein? Kleine gelbe Vogelfedern?
Vorsichtig fragen Sie nach, was passiert ist. Weshalb er so außer sich ist? Er beginnt zu erzählen …
Er erzählt Ihnen, sein geliebter Kanarienvogel sei gestorben. Der Teufel selbst (die Katze der Nachbarin – Gott sei Dank nicht Ihre eigene Katze!) kam und riss den kleinen Vogel aus dem Leben. Sie schluckte ihn in einem Stück hinunter. Nun bleibt Ihrem Nachbarn nur noch die Hoffnung, dass der kleine Vogel im Magen des Teufels pickt und hackt, bis der Bauch des Teufels anschwillt und platzt. »Bis er platzt?«, fragen Sie. »Bis er platzt!« Oje, denken Sie, ich bin wirklich froh, dass ich nicht diese Katze bin …
Eine ähnliche Szene inspirierte Georg Philipp Telemann (1681 – 1767), seine Kanarienvogel-Kantate zu komponieren, eine Kantate für eine Singstimme und ein Kammerorchester, die Telemann selbst als »Tragikomödie« bezeichnete. Der Originaltitel des Stücks lautet Trauer-Music eines kunsterfahrenen Canarienvogels, als derselbe zum größten Leidwesen seines Herrn Possessoris verstorben. Telemann gab die Anweisung, das Stück sei auf sehr ernsthafte Weise vorzutragen. Dies wird insbesondere an der Stelle zur Herausforderung, an der sich der Sänger in der Rolle des Nachbarn wünscht, der Magen des »Teufels« möge anschwellen und platzen. Die Melodie zu den Worten »anschwellen« und »platzen« ist so aufwendig ausgeschmückt, dass das Publikum direkt spürt, wie besessen der Nachbar davon ist, sich an dem Übeltäter zu rächen!