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III Klangnatur und Naturklang: Semplice (2006)

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Semplice für neue und alte Instrumente (2006) schrieb Smolka für das auf Musik des 20. und 21. Jahrhunderts spezialisierte Freiburger ensemble recherche und das auf Musik des 17. und 18. Jahrhunderts mit historischen Instrumenten konzentrierte Freiburger Barockorchester. Während das erste Ensemble in der modernen Grundstimmung Kammerton a′ = 440 Hz spielt, ist das zweite mitteltönig auf a′ = 415 Hz gestimmt, was dem gis′ in moderner Intonation entspricht. Uraufgeführt wurde Semplice unter Leitung von Lukas Vis bei den Donaueschinger Musiktagen 2006 neben weiteren Werken für dieselben zwei Ensembles: Chris Newmans Piano Concerto No. 2Part 2 (2006) und Wolfgang Mitterers Inwendig losgelöst.17 In der Partitur erscheint das moderne Ensemble I oberhalb des Ensembles II für historische Aufführungspraxis. Sämtliche Tonhöhen sind so notiert, als wären alle Instrumente auf 440 Hz gestimmt. In den Einzelstimmen des tiefer intonierten Barockensembles sind die Tonhöhen daher alle einen Halbton höher notiert, damit sie dann wie in der Partitur klingen. Was auf den ersten Blick einheitlich erscheint, verdankt sich in Wirklichkeit Instrumenten verschiedener Stimmung, Bau- und Spielweise. Bei den zwei Flöten handelt es sich um eine moderne Querflöte in Metallbauweise (auch Pikkolo und Bassflöte) sowie eine barocke Traversflöte aus Holz ohne Klappen. Das Solistenensemble für neue Musik zeigt epochentypische Besonderheiten in Klarinette, präpariertem Klavier und umfangreichem Schlagzeug mit Vibrafon, Röhrenglocken, Steel Drum und Gongs. Dagegen verfügt das Barock-Consort über je zwei Barockoboen und Naturhörner sowie über Fagott, Cembalo, Chitarrone, vier-, drei- und zweifach besetzte hohe Streicher, ein Violoncello und einen Kontrabass, jeweils bespielt mit Barockbögen auf Darm- statt Stahl- oder Kunststoffsaiten. Smolka möchte die beiden Ensembles verbinden und zugleich ihre individuelle Klangkultur erfahrbar machen. Im Werkkommentar schreibt er: »Old instruments should keep their tone culture and their typical baroque articulation, as far as this musical material makes it possible.«

Satz I des sechssätzigen Werks zeigt die für Smolkas Komponieren typische Kombination aus Einfachheit und Komplexität sowie von phänomenalem Zeigen und sprechendem Ausdruck. Während der ersten 20 Takte bestehen sämtliche Einsätze nur aus kleinen Terzen eg in verschiedener Oktavlage, Instrumentation, Dynamik, Dauer und Spielweise. Einst beleuchtete Franz Schubert wiederkehrende Themen durch immer andere Harmonisierungen, nun macht Smolka dies mit einem einzigen Intervall. Statt Variationen über ein Thema komponiert er solche über eine Terz. Der tonalen Konformität eines reduzierten Tonvorrats stellt er einen umso größeren Reichtum an nuancierten klanglichen Individualitäten gegenüber (Notenbeispiel 5). Im langsamem 4/4-Metrum schlägt zunächst der Cembalist die Terz e′′′ – g′′′ mp an. Während die Töne drei Viertel lang verklingen, kommen Violine und Viola von Ensemble I mit derselben Terz eine Oktave tiefer pp col legno battuto hinzu und schlägt der Perkussionist auf zwei entsprechend gestimmte Gongs. So reichen sich gleich zu Anfang typische Instrumente und Spieltechniken der neuen Musik und des Barock unter ausdrücklicher Wahrung ihrer Eigenart die Hand. Nach einer Generalpause beginnt in T. 3 abermals das Cembalo mit der Mollterz, nun jedoch piano und länger gehalten. Die Basslaute Chitarrone – auch Theorbe genannt – folgt mp mit der Oktavspreizung zur Dezime e′ – g′′, zu der sich aus Ensemble I Pizzikati auf den Saiten des Innenklaviers gesellen. Betonte T. 1 die Unterschiede der Aktionen, unterstreichen nun T. 3 und 5 die Verwandtschaft der Saiteninstrumente: Gezupft erinnert der moderne Konzertflügel an das Cembalo und mit der Oktavspreizung an die Theorbe. Deutliche Farb- und Intonationswechsel setzen dann Röhrenglocken und die mit Schrauben präparierten Klaviersaiten e und g. Außerdem bewirken modifizierte Zupfstellen im Innenklavier andere Klangfarben.


Notenbeispiel 5: Martin Smolka, Semplice für neue und alte Instrumente (2006), T. 1–11, ohne Streicher von Ensemble II, © Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2006


Notenbeispiel 6: Martin Smolka, Semplice für neue und alte Instrumente (2006), T. 62–71, nur Ensemble I und Flöte von Ensemble II, © Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2006

Später führt die Instrumentation der Terz mit Vibrafon, Gong, Röhrenglocke und Steel Drum zu starken Interferenzen, sodass sich die Frage stellt, ob es sich noch um dieselben Töne handelt oder bereits um verschiedene? Schließlich werden die Anschläge einer Triangel durch Eintauchen in Wasser abgesenkt und auf längsseitig mit Glas bestrichener Klaviersaite glissandierende Effekte erzeugt. In T. 20 kommen mit der im Innenklavier gezupften Dezime Ac′ definitiv zwei neue Tonhöhen hinzu, die sich mit den bisherigen Terzen zum ambivalenten a-Moll-Septakkord oder C-Dur-Sixt-ajoutée verbinden. Der erste liegende Klang ega der Streicher entspricht dem harmonikal schwebenden Kernmotiv des Schlussabschnitts von Mahlers Lied von der Erde. Ein vierteltönig vertieftes g– der Geige T. 29 sowie die Töne h und d im Vibrafon T. 34 lassen weitere Akkorde aufblitzen. Behutsam erweitert Smolka das Geschehen zum üblichen musikalischen Tonraum. Doch im gleichen Moment verschiebt er die Kategorien von Kunst und Natur. Demonstrierte er bisher die spezifische Natur der Instrumentalklänge, instrumentiert er nun ab T. 50 ein künstliches Tableau klingender Natur, namentlich ein flirrendes ›Waldweben‹ mit leise tröpfelndem Regenmacher, sanften ppp-Tremoli eines Holzstabs zwischen zwei Klaviersaiten, murmelndem Bisbigliando der Klarinette und Nachtigallen-Gezwitscher, das der Schlagzeuger auf einem mit Wasser gefüllten Pfeifchen hervorbringt (Notenbeispiel 6). Dazu blasen die Naturhörner mit dem achten und elften Oberton rein intonierte Naturterzen eg wie fernen Jagdschall »lontano« und gehen zwischen den Flöten gemäß historischer Hoquetus-Technik lockende Vogelrufe hin und her. Die Querflöte intoniert dabei viertel- oder sechsteltönig tiefer als die Traversflöte. Das tiefere g2– verwandelt die bisherige Terz eg schrittweise zur Terz fisa, mit deren wahlweise weiter oder enger intonierten Rufen die Flöten den ersten Teil (T. 1–86) beenden.

Die Szenerie erinnert an Mahlers Anweisung »Wie ein Naturlaut« zur Einleitung seiner 1. Sinfonie, die zwischen 1885 und 1888 in Prag entstand. Wie in Smolkas Prager Tableau Rain, a window handelt es sich nicht um wirkliche Naturklänge, sondern allenfalls um solche, die Natur kunstvoll imitieren oder denen der Topos des Natürlichen durch jahrhundertelangen Gebrauch zugewachsen ist. So gilt auch für Smolkas künstliche Natur, was Theodor W. Adorno im Hinblick auf Mahlers Sinfonie schrieb: »Die Natur, Gegenbild menschlicher Gewaltherrschaft, ist selber deformiert, solange Mangel und Gewalt ihr angetan werden. […] Natur, versprengt in Kunst, wirkt allemal unnatürlich.«18 Smolka verstärkt die Unwirklichkeit des ›Naturlauts‹, indem er seine imaginäre ›Szene am Bach‹ wieder in die anfängliche Natur des Klangs zurückkippen lässt, als habe er das Fenster seiner Komposition kurz geöffnet und nun wieder geschlossen. Die modifizierte Reprise (T. 87–165) beginnt in erhöhtem Tempo Viertel = 72 mit der obligaten e-Moll-Terz. Die zuweilen als ›naturgegeben‹ ideologisierte Tonalität wird abermals beschworen, doch schnell durch Viertel- und Sechsteltöne zu mikrotonalen Kleinclustern ›denaturiert‹. Erst gegen Ende des Satzes reduziert sich das Geschehen erneut auf die Anfangsterz. Das kitschig übersteigerte Gezwitscher des Nachtigallen-Lockers hat dann – wie auch am Ende des Finalsatzes VI – das letzte Wort, als lache es über die uneigentliche Natur des Stücks.

Wie gegenüber Smolkas artifiziellen ›Naturlauten‹ empfiehlt sich Vorsicht auch gegenüber der vordergründig proklamierten Simplizität. Die höchst differenzierte Behandlung der Moll-Terz ist alles andere denn einfach, obgleich die Konsonanz neo-tonalen Ausprägungen der ›New Simplicity‹ zu entsprechen scheint. Eher auf ›New Complexity‹ deuten dagegen die mikrologisch feinen Instrumentations- und Intonationswechsel sowie die Verklammerung der insgesamt sechs jeweils materiell und strukturell profilierten Sätze untereinander und mit anderen Werken Smolkas. Die stattliche Dauer von einer Dreiviertelstunde deutet ebenfalls mehr auf einen zyklischen Gesamtkomplex denn auf musikalische Schlichtheit. Satz II wiederholt – ähnlich dem Anfang von Remix, Redream, Reflight – als Pattern versetzte ff-Akkorde und Cluster, die dann abrupt durch diatonische Fünftonklänge ppp ersetzt werden. Satz III »aeolian harp« besteht aus natürlichen Flageoletts der Streicher, Saiteninstrumente sowie mit Bogen gestrichenen Vibrafonplatten und Crotales. Satz IV greift die Tutti-Cluster von Satz II im Wechsel mit chromatischen Sekunden auf, die sich zu einem Lamento über tonaler Quintfallsequenz verketten. Satz V besteht aus Tonbeugungen, angefangen bei geringen Intonationsschwankungen und Trillern bis zu mehroktavigen Glissandi, die von wuchtigen Tutti-Clustern wie in Satz II und IV unterbrochen werden. Der Schlusssatz VI greift dann die e-Moll-Terz und ›Naturlaute‹ des Kopfsatzes wieder auf. Satz IV und VI verbindet außerdem dieselbe rasch aufsteigende Melodie, hier in Flöte und Violinen »semplice« (S. 46 ff.), dort in den Tutti-Violinen »angelico« (S. 85 f.). Der über Quinte, Sexte und Dezime zur Undezime sich aufschwingende Sehnsuchtsgesang durchzieht mehr oder minder abgewandelt wie eine ›Idée fixe‹ auch andere Werke Smolkas, etwa Rain, a window (T. 471), Remix, Redream, Reflight (»appassionato« T. 131 ff., Notenbeispiel 4) sowie Wooden Clouds für Ensemble und Partch-Instrumente (2017/18).

MUSIK-KONZEPTE 191: Martin Smolka

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