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Natur und Nostalgie

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Intonation, Tradition und Expression der Musik Martin Smolkas

Die »absolute Musik« ist entweder Form an sich, im rohen Zustand der Musik, wo das Erklingen in Zeitmaass und verschiedener Stärke überhaupt Freude macht, oder die ohne Poesie schon zum Verständnis redende Symbolik der Formen, nachdem in langer Entwickelung beide Künste verbunden waren und endlich die musicalische Form ganz mit Begriffs- und Gefühlsfäden durchsponnen ist.

Friedrich Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches (1878)

Ja, ich weiß, daß Sie nicht wissen, wovon ich spreche, denn die Schönheit ist seit langem verschwunden. Sie ist unter der Oberfläche des Lärms verschwunden, des Wörter-, Musik-, Auto-, Buchstabenlärms, in dem wir leben. Sie ist untergegangen wie Atlantis. Von ihr ist nichts geblieben als ein Begriff, der von Jahr zu Jahr sinnentleerter wird.

Milan Kundera, Das Buch vom Lachen und Vergessen (1978, dt. 1980)

Von Jahrzehnten kompositorischer Konstruktion und Dekonstruktion erschöpft, erlebten Publikum und Fachleute nach 1990 auch in Westeuropa die Musik Martin Smolkas als aus nächster Nähe unmittelbar berührende Ansprache und wie aus weiter Ferne wehende Erinnerung an längst Vergangenes und Verlorenes. Diese Musik hat kein Programm oder Narrativ, keine avantgardistische oder gesellschaftspolitische Agenda. Sie hat nichts zu sagen, sondern etwas zu zeigen. Doch Zeigen und Sagen gehören bei ihr zusammen, indem sie das Gezeigte wie von selbst sprechen lässt. Smolkas Kompositionen basieren auf schlichten Elementen, einzelnen Tönen, Intervallen, Akkorden, Gesten, die in ihrer Verknappung vor-musikalisch wirken, als handle es sich um rohe akustische Phänomene. In Wirklichkeit aber ist diese ›tönende Natur‹ von Menschengeist, Herz, Hand und Mund geformt: die Instrumente mit ihren Spielweisen und Klangfarben, das Tonsystem mit seinen distinkten Höhen- und Zeitproportionen, die Quadratur der Rhythmik und Metrik, die Notation mit ihren fünf Linien sowie der Einsatz all dieser Mittel zum Zweck von Harmonik, Melodik, Form, Rhetorik, Stimmung, Atmosphäre, Signal und Bedeutung. Nicht die Musik an und für sich ist bedeutungsvoll, erregend, beredt, expressiv, sondern – wie schon Friedrich Nietzsche feststellte – »ihre uralte Verbindung mit Poesie hat so viel Symbolik in die rhythmische Bewegung, in Stärke und Schwäche des Tones gelegt, dass wir jetzt wähnen, sie spräche direct zum Inneren und käme aus dem Inneren«.1 Der jahrhundertelange expressive Gebrauch der Mittel wurde den Klängen zur zweiten Natur und damit letztlich zum Inbegriff dessen, was man traditionell unter Musik versteht. Seitdem ist jeder bewusst gespielte oder gesungene Ton immer schon musikalisch.

Dem Ton diese Musikalität wieder auszutreiben, war eines der Hauptanliegen der historischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts, vor allem der europäischen und US-amerikanischen Nachkriegsavantgarde. Stellvertretend für die Komponistengeneration von Pierre Boulez, Luigi Nono, Bruno Maderna, Luciano Berio, Karel Goeyvaerts, Henri Pousseur und anderen erhob Karlheinz Stockhausen 1953 den Anspruch, »nichts länger zu akzeptieren, das bereits vorgeformt existierte«,2 um stattdessen durch rationale Abstufung sämtlicher quantifizierbarer Parameter (Tonhöhe, Dauer, Lautstärke, später auch Dichte, Ambitus, Register, Raumstelle, Form) eine von allen tonalen Resten befreite, radikal neue Musik zu kreieren. Um auch die qualitative Eigenschaft Klangfarbe demselben Konstruktionsprinzip zu unterwerfen, verzichtete Stockhausen schließlich auf das herkömmliche Instrumentarium und griff stattdessen auf akustische Elementarteilchen zurück, elektronisch generierte Sinustöne, um diese gemäß seinen alle Parameter erfassenden integralen Strukturgesetzen nach entsprechenden Proportionen entweder zu neuen Frequenzspektren zu kombinieren – wie in Studie I (1953) – oder aus dem sogenannten Weißen Rauschen, dem Total aller Frequenzen des hörbaren Schallbereichs, Frequenzbänder unterschiedlicher Breite, Lage und Farbe herauszufiltern – wie in Studie II (1954). Erst damit schien die serielle Nachkriegsavantgarde tatsächlich tabula rasa zu machen.

Indes blieb der puristische Neuanfang mehr Wunsch als Wirklichkeit. Die seriellen Vorstrukturierungen, elektronisch generierten Mixturen, aleatorischen Verfahren, erweiterten Spieltechniken, Geräuschklänge und Einbeziehungen von Alltagsgegenständen, konkreten Natur- und Großstadtklängen erweiterten zwar den bis dato herrschenden Musikbegriff, hatten aber statt der intendierten ›Nicht-Musik‹ letztlich doch alle wieder Musik zur Folge. Die seit Mitte der 1940er Jahre geborenen französischen Spektralisten und westdeutschen Komponisten, die Ende der 1970er Jahre mit dem wenig tauglichen Etikett ›Neue Einfachheit‹ belegt wurden, zogen daraus Schlussfolgerungen, die auch das Schaffen des 1959 in Prag geborenen Martin Smolka prägen. Die Erfahrungen im elektronischen Studio hatten sie gelehrt, dass der Ton- und Hörraum ein nahtloses Kontinuum ist und jenseits diatonischer und chromatischer Abstufungen auch andere Intervalle und Intonationen möglich sind. Dieses Material ließ sich als rein akustische Klangnatur artistisch gestalten und erlebbar machen, weil es das Hören dafür schärft, mikrotonale Differenzen nicht mehr als Fehler im System der traditionellen Skalierung zurechtzuhören, sondern als das wahrzunehmen, was wirklich klingt. Zugleich entfalteten diese mikrotonalen Verstimmungen auch den Charakter expressiver Stimmungen im Sinne von Gestimmtheiten des Gemüts. Und da sich Musik und Musikhören ohnehin nicht von sämtlichen traditionellen Vorprägungen reinigen ließen, erwies es sich als sinnvoller, die bis dato überlieferte Musik verschiedener Zeiten, Kulturen und Weltgegenden zu integrieren statt auszuschließen, um beispielsweise tonale Akkorde und Melodien intonatorisch so zu verfremden, dass sie expressiv neu geladen werden. In seinem Manifest des umgestimmten Komponisten (1996) forderte Smolka daher: »Keine Revolutionen mehr in der Musik, bitte. […] Keine Neue Musik mehr, bitte, sondern Seltsame Musik.«3 Der tschechische Komponist verbindet Intonation, Tradition und Expression in der Tat zu ›seltsamen‹ Koinzidenen von kompositorischen Demonstrationen der Natur des Klangs mit demonstrativer Komposition von Klängen der Natur. Die ebenso starke wie zugleich vergebliche Sehnsucht nach einer seit Langem verschwundenen Schönheit – laut Milan Kundera »untergegangen wie Atlantis« – verleiht dabei Smolkas Musik einen nostalgischen Grundton.

MUSIK-KONZEPTE 191: Martin Smolka

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