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II Neues und Altes: Remix, Redream, Reflight (2000)

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Notenbeispiel 3: Martin Smolka, Remix, Redream, Reflight für Orchester (2000), T. 27–36, © Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2000

Spannungen zwischen alt und neu, Vergangenheit und Gegenwart prägen auch Remix, Redream, Reflight für Orchester (2000), uraufgeführt vom BR-Symphonieorchester bei der Münchner musica viva. Zu Anfang werden schnell zwischen Registern, Instrumentengruppen und Lautstärken wechselnde Akkordfolgen wiederholt. Die Pattern geraten nur stellenweise durch Verkürzungen oder Einschübe aus dem Tritt. Im Kontrast dazu spielen Bläser und Streicher dann sanfte Moll-, Dur- und Quartsextakkorde, die analog zu den vorigen rhythmischen Verschiebungen durch zeitlich variable Sechsteltonskalen gleiten. Ab T. 21 steigen Flöten und Oboen – letztere ausdrücklich schrill wie ein Dudelsack – legato vom des zu des+ und d– bis zu d und weiter an (Notenbeispiel 3). Die Ausgangstonart b-Moll changiert fließend nach B-Dur. Gesetzte Harmonien geraten ins Fließen, gehen verloren, werden umgeschmolzen, wiedergefunden oder überhaupt neu gebildet. Die Harmonik, Dynamik, Lage und Instrumentation der Akkorde erinnert an bekannte klassisch-romantische Musik. Man hört eine alte Schönheit, deren Magie und metaphorischer Wechsel von Moll und Dur direkt berühren und zugleich als unwiederbringlich vergangen erfahren werden, weil sie zerfließen wie die schmelzenden Uhren auf Gemälden von Salvador Dalí. Laut Smolkas Werkkommentar handelt es sich um Schlussakkorde aus bekannten Orchesterstücken, vor allem von Berlioz, Dvořák, Strawinsky und Schostakowitsch, namentlich Mozarts g-Moll-Sinfonie KV 550, das »Adagietto« aus Mahlers 5. Sinfonie und den a-Moll-Schlussakkord des »Allegretto« von Beethovens 7. Sinfonie. Die aus ihren Zusammenhängen gerissenen Zitate werden wie beim Computersampling neu remixt, montiert, geloopt und verstimmt. Während der schnellen Pattern bleiben sie komplett unkenntlich, lassen während der langsamen Passagen aber »die nostalgische Reflexion des Originals« anklingen.10


Notenbeispiel 4: Martin Smolka, Remix, Redream, Reflight für Orchester (2000), T. 127–136, nur Streicher, © Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2000

Nach einem ersten Rückgriff auf die schnellen Repetitionen des Anfangs beginnt T. 131 ein neuer Abschnitt »appassionato« (Notenbeispiel 4). Alle Streicher spielen f-unisono eine schnell aufsteigende Geste »espressivo molto« aus Quinte cg, nachfolgendem Viertelton as–, übermäßigem Tritonus d und vierteltönig verengter kleiner Terz f–. Tonales Zentrum ist zunächst ein mikrotonal geschärftes f-Moll. Dann kreisen Erweiterungen des Aufschwungs um c-Moll mit dramatischen Abbrüchen und Generalpausen. Die Melodie ist Smolkas eigene Erfindung, weckt aber sofort Erinnerungen an andere Musik. Wie im Werktitel angekündigt handelt es sich um das »Redream« eines romantischen Topos wie beispielsweise vom solistischen Anfang der Violinen im Adagio-Kopfsatz von Mahlers unvollendeter 10. Sinfonie. Smolka gestattet sich »ein so altmodisches romantisches Ausdrucksmittel wie den expressiven Einklang symphonischer Streicher«.11 Er komponiert unmittelbar expressive Musik und zugleich im Wissen um deren historische Verwandtschaft ›Musik über Musik‹. Eine zweite Reprise der repetitiven Anfangsakkorde ab T. 187 verkehrt insofern die Verhältnisse, als die Pattern jetzt nicht mehr die Regel bilden, sondern die Ausnahme innerhalb eines ständig variierten Gefüges, in dem ab T. 231 auch die expressive Streicher-Melodie wiederkehrt. Der letzte Abschnitt (T. 288–381) besteht dann ausschließlich aus Rückblick – im Werktitel als »Reflight« bezeichnet. Bestimmendes Element sind hier obligate Tonpendel, die zuvor nur vereinzelt auftraten und jetzt um a-Moll zentriert durch alle Register und Instrumente wandern. Dynamisiert wird diese in sich bewegte, äußerlich jedoch statische Textur durch schnell vom pp zum fff anschwellende Repetitionsfolgen der Violinen, die sich teils mikrotonal überlagern und endlich in den aus Beethovens »Allegretto« stammenden a-Moll-Schlussakkord auslaufen. Wie zum Anfangsakkord scheppert dazu blechern ein Peking-Opern-Gong, der während des gesamten Stücks hier zum zweiten Mal seinen verbeult wirkenden Klang hören lässt, als wollte er – wie der Schellenkranz in Mahlers 4. Sinfonie – die dazwischen beschworene romantische Kunstmusiktradition in ironisierende Anführungszeichen setzen, weil alles nur Oper und nicht so ernst gemeint gewesen sei: »Typical for my work […] is to juxtapose against these moods oposite expressions like furore or grotesque.«12 Im Werkkommentar zu Remix, Redream, Reflight gesteht Smolka:

»Ehrlich gesagt, ich bin der zeitgenössischen Musik schon etwas überdrüssig geworden. Und so habe ich versucht, ein Problem zu lösen, das an die Rätsel in Märchen erinnert: Wie kann man Komponist bleiben und weiterhin Musikwerke schreiben, dabei aber alles andere produzieren als zeitgenössische oder Neue Musik?«13

Indem sich Smolka gegen linearen Fortschritt wendet, plädiert er wie einst der junge Wolfgang Rihm gegen ein auf Vermeidungsstrategien basierendes »exklusives« und für ein »inklusives Komponieren«, das vergangene Entwicklungen einbezieht.14 Tonale Harmonik, diatonische Melodik und nicht durch die Popindustrie korrumpierte authentische Volks- und Bluesmusik mit dialektaler Färbung und mikrotonalen Abweichungen verwendet er beispielsweise auch in Walden, the Destiller of Celestial Dews für gemischten Chor und Schlagzeug (2000), uraufgeführt vom SWR Vokalensemble bei den Donaueschinger Musiktagen. Dabei versteht er die »diatonic melodies with ›blue‹ notes and tonal triads detuned by microtones as tool of painful expressivity«.15 Die vertonten Textstellen aus Henry David Thoreaus Walden, or Life in the Woods (1854) bringen Smolkas Liebe zur Natur und deren Schönheit zum Ausdruck sowie seine Kritik an Naturausbeutung, Umweltzerstörung und Skepsis gegenüber Moderne, Zivilisation und Urbanität. In Oh, my admired C minor für Ensemble (2002) huldigt er dem c-Moll-Dreiklang, dessen Terz er vierteltönig zwischen Dur und Moll changieren lässt und dessen Quinte er teils zur verkleinerten Sexte erhöht, sodass mikrotonale Aufrauungen und Reibungen – ähnlich der Musik von Giacinto Scelsi – immer wieder leittönige Spannungen entfalten wie in tonalem Zusammenhang sonst große Septimen oder phrygische kleine Sekunden. Entscheidend für Smolka ist dabei die Gleichzeitigkeit von Fremd- und Vertrautheit der Klänge: »What I enjoyed most was a certain duality: sounds that were simultaneously unheard of and familiar. Familiar and therefore evocative, awakening deep memories or dream-like fantasy.«16

MUSIK-KONZEPTE 191: Martin Smolka

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