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ОглавлениеAuf das Bleiben kommt es an
BISCHOF DR. STEPHAN ACKERMANN
1 Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater ist der Winzer. 2 Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, schneidet er ab und jede Rebe, die Frucht bringt, reinigt er, damit sie mehr Frucht bringt. 3 Ihr seid schon rein kraft des Wortes, das ich zu euch gesagt habe. 4 Bleibt in mir und ich bleibe in euch. Wie die Rebe aus sich keine Frucht bringen kann, sondern nur, wenn sie am Weinstock bleibt, so auch ihr, wenn ihr nicht in mir bleibt. 5 Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen. 6 Wer nicht in mir bleibt, wird wie die Rebe weggeworfen und er verdorrt. Man sammelt die Reben, wirft sie ins Feuer und sie verbrennen. 7 Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, dann bittet um alles, was ihr wollt: Ihr werdet es erhalten. 8 Mein Vater wird dadurch verherrlicht, dass ihr reiche Frucht bringt und meine Jünger werdet. 9 Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe! 10 Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, so wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe. 11 Dies habe ich euch gesagt, damit meine Freude in euch ist und damit eure Freude vollkommen wird. 12 Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, so wie ich euch geliebt habe. 13 Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt. 14 Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage. 15 Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe. 16 Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt. Dann wird euch der Vater alles geben, um was ihr ihn in meinem Namen bittet. 17 Dies trage ich euch auf, dass ihr einander liebt.Joh 15,1–17
Schon oft habe ich über diese Verse meditiert, die mir über Jahre zum Teil dunkel und verschlossen vorkamen. Heute gehören gerade die eher sperrigen Passagen zu meinen Trostworten für schwere Zeiten.
Die Verse gehören zu den sogenannten Abschiedsreden Jesu im vierten Evangelium. Nach dem Zeugnis des Evangelisten spricht Jesus diese Worte im Abendmahlssaal nur wenige Stunden, bevor er aus dem eigenen Kreis verraten wird und seine Leidensgeschichte beginnt. Auch wenn der Text als solcher natürlich erst nach Ostern niedergelegt wurde und in ihn schon die Erfahrung eingeflossen ist, dass Jesus auferstanden ist und lebt, so atmen die Worte dennoch die Schwere der ursprünglichen Situation, die geprägt ist von den großen Themen Freundschaft, Liebe, Verrat, Abschied und Auftrag. Insofern eignet sich der Text unbedingt als biblischer „Notproviant“ für schwere Stunden.
Aus den dichten Versen möchte ich nur drei Schlüsselworte herausgreifen, an die ich – manchmal unwillkürlich – immer wieder denken muss. Ich beginne am Schluss:
Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt … (Vers 16).
Diese Worte klingen aufs erste Hören nicht gerade wie ein wohltuendes Trostwort. Sie klingen autoritär und belehrend, gerade so, als ob Jesus an diesem letzten Abend seinen Jüngern noch einmal sagen wollte, wer der eigentliche Chef ist. Gerade für uns Heutige, die wir in einer so freiheitsliebenden Welt leben, wirken die Worte Jesu befremdlich. Wir wollen nicht einfach das Vorbestimmte und Vorgestanzte wählen. Andererseits spüren wir, dass die Freiheit nicht selten umkippt; sie wird ein Zwang zum Wählen. Dann ist sie eine Belastung und wir erkennen: Ich werde nicht automatisch glücklicher, je mehr ich wählen darf. Nein, das tiefste Glück besteht darin, erwählt zu werden. Ob nicht die Depression vieler Zeitgenossen ihren Grund darin hat, dass sie sich zwar vor viele Wahlmöglichkeiten gestellt sehen, aber nicht erleben, dass sie erwählt werden, das heißt, dass jemand sich für sie interessiert und sie erwählt als Lebenspartner/-in, als Freund/-in, als Ratgeber/-in oder schlicht als Arbeitnehmer/-in …
Wenn Jesus sagt: Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt, dann beschreibt er damit das eigentliche Glück eines jeden Jüngers, eines/-r jeden Getauften, letztlich eines jeden Menschen. Es besteht in der Erfahrung: Da ist einer, der mich sieht, der mich kennt, der mich will. Entspricht diese Schrittfolge, Gewählt-Werden – Selbst-Wählen, nicht auch der konkreten Geschichte unseres persönlichen Glaubens? Lange bevor wir uns bewusst für den Glauben entscheiden konnten, kamen der Glaube und die Botschaft und damit Jesus Christus selbst auf uns zu. Wann immer ein Mensch den Glauben wählt, ist diese Wahl letztlich „nur“ Antwort und Reaktion auf Gottes Wahl.
Für mich haben die Worte Jesu deshalb etwas sehr Entlastendes, gerade auch in den Zeiten, in denen mich Zweifel befällt, ob die Botschaft des Glaubens tatsächlich so stark und so wahr ist, wie wir es mit der ganzen Kirche bekennen. Dann denke ich an Jesu Satz „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt.“ Er sagt mir: Jesus selbst übernimmt die Verantwortung für die Wahrheit seiner Worte. Ich habe mir sie nicht selbst ausgedacht. Sie sind nicht das Ergebnis meines Nachdenkens. Es sind seine Worte. Deshalb kann ich mich ihnen anvertrauen.
Bleibt noch die Frage, ob ich diese Worte überhaupt als Worte Jesu auf mich anwenden darf? Hat Jesus sie im Abendmahlssaal nicht zu den Zwölf, also zum engsten Jüngerkreis gesprochen? Was berechtigt dazu, diese Worte auf alle Christen hin auszudehnen? Es ist Jesus selbst. Erinnern wir uns nur, wie er den Menschen begegnet, mit denen er zusammentrifft. Er hat nicht nur einen Blick für diejenigen, die er in die unmittelbare Nachfolge berufen will. Er sieht voll Liebe auch diejenigen, die sich nicht trauen, sich ihm vorzustellen: Zachäus (Lk 19,1–6), die an Blutfluss erkrankte Frau (Mk 5,25–34), die Kinder, die nicht zu ihm vorgelassen werden (Mk 10,13–16), den Gelähmten, der die Hoffnung auf Heilung längst aufgegeben hat (Joh 5,2–8) … Sie alle lässt er durch die Art, wie er mit ihnen umgeht, wissen: Du bist nicht irgendwer, sondern du bist eine geliebte Tochter, ein geliebter Sohn Gottes.
Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, schneidet er [mein Vater, der Winzer,] ab und jede Rebe, die Frucht bringt, reinigt er, damit sie mehr Frucht bringt. (Vers 2)
Auch diese Sätze klingen herb und schmerzhaft, selbst für die Reben, die nach Jesu Verständnis Frucht bringen. Denn so gut es der Winzer auch mit dem Weinstock meinen mag: Reinigung heißt nicht Streicheln. Reinigung meint Bearbeitung, Hochbinden (nicht selten in eine Richtung, in die die Reben von selbst nicht wachsen würden) und Beschneiden. Damit ist der Schmerz offen angekündigt. Wundern wir uns also nicht, wenn uns der Glaube nicht vor Schmerz bewahrt, ja vielleicht sogar dazu führt, dass wir manches in unserem Leben noch schmerzlicher wahrnehmen als Menschen, die nicht gläubig sind, oder solche, die sich über so manches in unserer Welt weniger Gedanken machen.
Ein Exerzitienbegleiter hat mir einmal die Anregung gegeben, die schmerzlichen, die schwierigen Phasen des Lebens als Phasen der Reinigung und des Wachstums zu sehen. Nach dieser Lesart wäre dann in Schwierigkeiten und im Schmerz Gottes harte, aber positive Botschaft enthalten: „Du bist kein toter, vertrockneter Zweig. Du bist lebendig. Mit dir kann ich etwas anfangen. Bei dir ist noch mehr drin! Deshalb reinige ich dich.“
Gott, dem Winzer, und Jesus, dem Weinstock, geht es eben nicht darum, dass wir, die Reben, nur eine kurze Blütezeit erleben. „Ich will, dass ihr Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt“, sagt Jesus zu den Jüngern. Damit aus einer Blüte Frucht wächst, braucht es aber nicht nur Sonnentage. Es braucht auch die Kühle der Nacht. Es braucht Trockenheit und Regen. Reifung, auch menschliche Reifung, geschieht durch verschiedene Lebensumstände hindurch.
So verstehen wir die bildliche Rede. Sie gilt übrigens nicht nur für den Glauben. Sie gilt für das menschliche Leben insgesamt. Oder würden wir jemanden als einen reifen Menschen bezeichnen, von dem wir wüssten, dass er nie mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, immer auf der Sonnenseite des Lebens gehen durfte, nie Zweifel empfunden hat, nie in menschliche Abgründe – eigene und fremde – geschaut hat, keine Angst kennt und keine Dunkelheiten …? Nur ein Leben, das durch Höhen und Tiefen hindurch gereift ist, wird Frucht bringen, und zwar die Frucht, von der Jesus spricht: Sie ist kein schneller, oberflächlicher Erfolg, sondern Frucht, die bleibt. Papst Benedikt XVI. hat in der Messe zur Papstwahl 2005 wunderbar ausgedrückt, worin diese Frucht konkret besteht: „Das einzige, was ewig bleibt, ist die menschliche Seele, der von Gott für die Ewigkeit erschaffene Mensch. Die Frucht, die bleibt, ist daher das, was wir in die menschlichen Seelen gesät haben – die Liebe, die Erkenntnis; die Geste, die das Herz zu berühren vermag; das Wort, das die Seele der Freude des Herrn öffnet.“
Bleibt in mir, und ich bleibe in euch. – Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht. – Bleibt in meiner Liebe! (Vers 4.5.9)
In acht Versen spricht Jesus neunmal vom Bleiben! Wie ein Refrain zieht sich dieses Wort durch seine Rede hindurch. Immer wieder: Bleiben. Sooft ich den Text lese und meditiere, hat diese Aufforderung aus dem Mund Jesu auf mich eine beruhigende Wirkung. Denn sie klingt so wohltuend einfach: Der Herr fordert nicht zu irgendwelcher Aktivität auf, erst recht nicht zu irgendwelchen Großtaten. Ich muss nach seinem Willen nicht mehr tun als bleiben …
Natürlich ist dieses Bleiben kein Synonym für Trägheit. Es ist auch kein Ausdruck von Sturheit oder Trotz („Jetzt bleibe ich erst recht!“), und es ist keine Ausrede für Unbeweglichkeit. Vielmehr meint dieses Bleiben ein Sich-Festmachen in, ein Sich-Festhalten an Jesus. Schon dieses bloße Bleiben kann Kraft kosten. In jedem Fall braucht es eine Entscheidung, manchmal in einem bewussten Akt. In der Regel aber meint das Bleiben die Treue in der Alltäglichkeit eines gläubigen Lebens.
Dabei hilft es, sich zu erinnern, dass Jesus nicht gesagt hat: „Bleibt in eurer Liebe zu mir!“ Auch hat er nicht abstrakt gesagt: „Glaubt an die Macht der Liebe und bleibt in ihr!“ Nein, er sagt: „Bleibt in meiner Liebe!“ Mit anderen Worten: „Bleibt in der Liebe, die ich zu euch habe. Glaubt fest daran, dass diese Liebe da ist und dass sie gilt, auch wenn ihr es momentan nicht spürt und es euch schwerfällt, daran zu glauben. Bleibt und glaubt, auch dann, wenn eure eigene Liebe schwankt, zu verschwinden droht oder erkaltet.“
GEBET
Herr, du hast zu deinen Jüngern gesagt: Ich bin der Weinstock, ihr seid die Rebzweige.
Lass mich mit dir verbunden bleiben, damit du in mir bist und ich in dir.
Was auch geschehen mag, lass nicht zu, dass ich jemals von dir getrennt werde,
und bringe du in mir Frucht, die bleibt. Amen.
DR. STEPHAN ACKERMANN
BISCHOF VON TRIER