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Die Frage nach dem Sinn unseres Daseins

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ERZBISCHOF STEPHAN BURGER

1 Danach offenbarte sich Jesus den Jüngern noch einmal, am See von Tiberias, und er offenbarte sich in folgender Weise. 2 Simon Petrus, Thomas, genannt Didymus, Natanaël aus Kana in Galiläa, die Söhne des Zebedäus und zwei andere von seinen Jüngern waren zusammen. 3 Simon Petrus sagte zu ihnen: Ich gehe fischen. Sie sagten zu ihm: Wir kommen auch mit. Sie gingen hinaus und stiegen in das Boot. Aber in dieser Nacht fingen sie nichts. 4 Als es schon Morgen wurde, stand Jesus am Ufer. Doch die Jünger wussten nicht, dass es Jesus war. 5 Jesus sagte zu ihnen: Meine Kinder, habt ihr keinen Fisch zu essen? Sie antworteten ihm: Nein. 6 Er aber sagte zu ihnen: Werft das Netz auf der rechten Seite des Bootes aus und ihr werdet etwas finden. Sie warfen das Netz aus und konnten es nicht wieder einholen, so voller Fische war es. 7 Da sagte der Jünger, den Jesus liebte, zu Petrus: Es ist der Herr! Als Simon Petrus hörte, dass es der Herr sei, gürtete er sich das Obergewand um, weil er nackt war, und sprang in den See. 8 Dann kamen die anderen Jünger mit dem Boot – sie waren nämlich nicht weit vom Land entfernt, nur etwa zweihundert Ellen – und zogen das Netz mit den Fischen hinter sich her. 9 Als sie an Land gingen, sahen sie am Boden ein Kohlenfeuer und darauf Fisch und Brot liegen. 10 Jesus sagte zu ihnen: Bringt von den Fischen, die ihr gerade gefangen habt! 11 Da stieg Simon Petrus ans Ufer und zog das Netz an Land. Es war mit hundertdreiundfünfzig großen Fischen gefüllt, und obwohl es so viele waren, zerriss das Netz nicht. 12 Jesus sagte zu ihnen: Kommt her und esst! Keiner von den Jüngern wagte ihn zu befragen: Wer bist du? Denn sie wussten, dass es der Herr war. 13 Jesus trat heran, nahm das Brot und gab es ihnen, ebenso den Fisch. 14 Dies war schon das dritte Mal, dass Jesus sich den Jüngern offenbarte, seit er von den Toten auferstanden war.Joh 21,1–14

Ende März 2020 schrieb die italienische Schriftstellerin Francesca Medandri eine Botschaft an die Menschen in Deutschland. Medandri, die in Italien schon seit einigen Wochen mit den Folgen der Corona-Pandemie konfrontiert war, will die Menschen aus Deutschland auf das vorbereiten, was da noch kommen wird. „Ich schreibe euch aus Italien, also aus eurer Zukunft. […] Ihr werdet ‚Die Pest‘ von Camus aus dem Regal ziehen, um dann festzustellen, dass ihr nicht wirklich Lust habt, das Buch zu lesen.“, so Medandri. Und in der Tat war dieses Werk des algerischen Existenzialisten Albert Camus auch in Deutschland in den vergangenen Wochen oft vergriffen. Viele Menschen wollten sich insbesondere dieser Lektüre widmen. Ich habe mich gefragt, warum? Warum will man sich angesichts einer derart neuen und großen Herausforderung, wie der Corona-Pandemie noch zusätzlich mit dieser schweren Kost belasten? Natürlich liegt es nahe, dass man das eigene Erleben einer Pandemie mit vergangenen Epidemien und Pandemien vergleicht. Als Narrativ bietet sich da „Die Pest“ sicherlich an. Aber die Suchbewegung hinter dem einfachen Vergleich gefährlicher Krankheiten ist meiner Ansicht nach eine andere, eine tiefere, eine zutiefst mit dem menschlichen Dasein verbundene. Und dieser hat sich der besagte Autor Camus in seinen Werken gewidmet. Es ist die Frage nach dem Sinn unseres Daseins. Wer bin ich und warum bin ich? Hat meine Existenz in dieser Welt einen Sinn? Wenn ja, wofür? Und hat das Leben an sich einen Sinn? Auf was gründet diese Welt und worauf ist sie ausgerichtet? Welche Rolle habe ich in dieser Welt? Und gibt es diesen höheren Plan überhaupt, wenn alles Leben doch letztlich mit dem Tod endet?

Camus lässt Dr. Bernard Rieux, die Hauptfigur aus „Die Pest“ auf die Frage, ob es einen Sinn im Dasein gibt, mit einem klaren Nein beantworten. Für ihn ist die Realität des Todes der entscheidende Grund, warum das Dasein absurd ist: Vom Tod her gewinnt alles Tun und Handeln eine Sinnlosigkeit. Für Camus kann der Mensch trotzdem glücklich sein, weil er sein Leben aus diesem klaren Bewusstsein heraus selbst in die Hand nehmen und gestalten kann, ohne auf das Eingreifen einer guten Macht oder das Zulaufen auf ein „Happy End“ warten zu müssen.

Viele Gedanken, die Camus in seinen Werken entwickelt, kann ich gut nachvollziehen. Er blickt in die Tiefen und Dunkelheiten, in die Momente von Trauer und Verzweiflung, die jeder Mensch kennt. Da kann man schon manchmal am Sinn des Lebens zweifeln. Da kann man auch die Hoffnung verlieren.

Gerade aktuell, in den vergangenen Wochen und Monaten bis hinein in die Gegenwart, sehen wir uns mit genau dieser Situation und diesen Fragen konfrontiert. Wir greifen zu Werken, wie „Die Pest“, weil wir selbst diese Sinnfragen stellen. Da sind die Ärztinnen und Ärzte, die Pflegekräfte, die direkt mit der Krankheit Covid 19 und den Folgen konfrontiert werden. Sie sehen schwerkranke Menschen, sterbende Menschen, die sich nicht mehr verabschieden dürfen. Und sie kämpfen gegen diese Krankheit – manchmal mit Erfolg, manchmal bis zum Ende und ohne Erfolg. Da kommen die Fragen nach der Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns auf. Da denkt man anders über die Existenz und den Wert des Lebens nach. Und da breitet sich manchmal auch Hoffnungslosigkeit aus. Gleichfalls sind da all die anderen Menschen in dieser Gesellschaft, die sich mit den Folgen von Corona konfrontiert sehen: Angehörige, die einen lieben Menschen verlieren. Oder wenn der Beruf nicht mehr ausgeübt werden kann. Da bleiben Angst und Leere zurück. Wenn Kontaktverbote ausgerufen werden, machen sich Isolation und Einsamkeit breit. Wenn die Gestaltungsfreiheit über das Leben wegfällt, weil das gesellschaftliche Leben auf ein Minimum reduziert werden muss, schleicht sich irgendwann die Frage ein, welchen Sinn die eigene Existenz dann noch hat. Ist das noch Leben?

Während Camus die Fragen dahingehend obsolet macht, indem er dem Dasein generell die Sinnhaftigkeit abspricht und die Menschen damit aufruft, ihr Leben gerade trotz der Sinnlosigkeit so positiv und selbstmächtig wie möglich zu gestalten, möchte ich eine andere Lektüre und Perspektive anbieten. Gerade weil die Corona-Pandemie weltweit gezeigt hat, dass wir Menschen nicht unser Leben in der Hand haben, den Plan fürs Leben nicht eigenmächtig schmieden können.

Am Ende des Johannesevangeliums offenbart sich der Auferstandene am See von Tiberias nochmals seinen Jüngern (Joh 21,1–14). Diese Begegnung ist gleichermaßen eingebettet in die existentielle Erfahrung von Scheitern, von Tod und Verzweiflung. Die Jünger, die einst ihre Heimat für Jesus verlassen hatten, sind zurück in Tiberias. Hatten sie sich nicht einen größeren Sinn, eine Befreiung von der Hoffnungslosigkeit, der Angst, der Unterdrückung erhofft? War nicht all das Inhalt der Predigt Jesu? Ihre Hoffnung auf diesen Jesus ist geradezu zerschellt. Jesus, der den Sieg des Guten über das Böse, die Überwindung des Todes versprochen hatte, ist selbst dem Tod erlegen. Dieser allmächtige Vater Gott konnte offenbar nicht siegen, seinen Sohn nicht vor dem Tod bewahren. Oder schlimmer noch: War nicht sogar der, der am Pfahl hängt, selbst von Gott verflucht? Welch größere Hoffnungslosigkeit kann es geben? Wie müssen sich die Jünger wohl gefühlt haben, nachdem dieser große Traum zerplatzt war? Das sinnhafte Fundament ihres Daseins wurde ihnen radikal entzogen. Aber sie scheinen sich, wiewohl stoisch und resigniert, dieser Absurdität zu fügen. Sie kehren zu ihrem Leben als Fischer zurück. Aber selbst diese Rückkehr hält weiteres Scheitern bereit. Die Jünger fallen nicht nur hin, sie fallen sogar noch tiefer als sie begonnen hatten. Nach ihrer Rückkehr vermögen sie nicht einmal mehr einen einzigen Fisch zu fangen. Und das, obwohl sie die ganze Nacht auf dem See verbracht hatten. Ihre Routine, ihr berufliches Können, alles vergeblich. Nicht einmal mehr für ihren Lebensunterhalt können sie sorgen. Frustration, Verzweiflung, Trauer, Einsamkeit, Hilflosigkeit und Sinnlosigkeit – dies müssen die Gefühle der Jünger an diesem frühen Morgen gewesen sein.

Und dann steht da einer am Ufer, noch unerkannt. Er fordert die Jünger auf, es noch einmal zu versuchen, das Netz erneut auszuwerfen. Eigentlich fordert Jesus hier ein absolut sinnloses Unterfangen. Am helllichten Tag sind im See keine Fische zu fangen, sie tauchen in die Tiefen ab. Aber aller Erfahrung zum Trotz, die Jünger folgen seinem Rat und das Unvorstellbare geschieht: Das Netz ist voller Fische.

Während man zunächst meinen könnte, hier von einer weiteren Wundergeschichte Jesu zu erfahren, sollte man einen zweiten Blick wagen. Es geht in dieser Begegnung weniger darum, dass Jesus die Gesetzmäßigkeiten auf dieser Welt aushebelt und das Unmögliche möglich macht. Es geht vielmehr darum, dass dieser Jesus mit seinem Erscheinen und Wirken die absolute Sinn- und Hoffnungslosigkeit mit Sinn und Hoffnung durchbricht.

In der Szene am See Genezareth weist er über eine banale Alltagssituation, den bleiernen Berufsalltag, zu dem seine Jünger nach dem großen Scheitern zurückgekehrt sind, hinaus. In diesem Durchbrechen der geradezu depressiven Verzweiflung durch ein „kleines Wunder“ gibt er einen Ausblick auf einen noch viel größeren Sinn, auf eine befreiende Hoffnung. Wenn Jesus es schafft, diese Hoffnungslosigkeit zu überwinden, gilt das dann nicht auch für die Sinnlosigkeit des Todes?

Auch die Jünger ahnen in dieser Szene, dass es sich um mehr handelt als um einen wunderbaren Fischfang. Denn der Jünger, den Jesus liebte, erkennt Jesus als den Auferstandenen, und begreift, dass dieses Wunder, das sie aus ihrer Verzweiflung herausholte, nur der Anfang, das Zeichen für etwas noch Größeres ist. Es ist das Zeichen für das verheißene Leben, für die zugesagte Erlösung aus allen stets wiederkehrenden Hoffnungs- und Sinnlosigkeiten. Deram Kreuz Getötete erweist sich als der, der dem Leben dient, erweist sich als lebendig! Gott erweist sich als Gott des Lebens!

Und diese Erfahrungen machen auch wir in unserem Leben, in unserem Alltag immer wieder. Da blitzt an grauen Tagen auf einmal Hoffnung durch. Da reißen uns Begegnungen und Gesten aus der Sinnlosigkeit. Auf trostlose Tage, in denen wir mutlos sind, folgen wegen kleiner Begebenheiten plötzlich Motivation, Kraft und Lebensfreude. Da sehen wir selbst in Krisen wie der jetzigen Pandemie, dass es neben Verzweiflung, Angst und Isolation sehr viel stärkere und positive Mächte gibt, weil Menschen auf einmal mehr Rücksicht nehmen, mehr Solidarität zeigen, einfühlsam reagieren oder sich liebevoll sorgen. Menschen sind auf einmal zu sehr viel Gutem fähig – über alle Eigeninteressen hinweg. Selbst in der gefühlt größten Absurdität, im Scheitern, gibt es diese Erfahrungen, die uns ahnen lassen: Es gibt einen Sinn, es gibt das Gute, es gibt Gott, der unser Leben will, weit über unsere durchlittenen Nächte hinaus. Dafür steht der frühe Morgen, der über den irdischen Horizont hinausweist.

Und so würde ich Camus einerseits Recht geben mit seiner Behauptung, dass das Leben manchmal absurd ist, dass es beizeiten sinnlos erscheinen kann. Aber weil ich auch in den Situationen und Erfahrungen der Sinnlosigkeit immer wieder die kleinen göttlichen Zeichen erkenne, kann ich darauf hoffen, darauf vertrauen und daran glauben, dass es diesen Gott gibt, diesen Gott des Lebens und der Liebe, der uns zu sich ruft. Es ist dieser Gott, der der ganzen Welt, dem Dasein – auch in Krisen – einen Sinn zu geben vermag. Denn es ist dieser Gott, bei dem es letztendlich keine Verzweiflung, keine Hoffnungslosigkeit gibt, weil er sie überwindet. Und es ist dieser Gott, der uns befähigt und befreit hat, daran mitzuwirken. Wir müssen folglich nicht daran verzagen, dass wir immer wieder hinfallen. Vielmehr können wir uns einüben, die göttlichen Zeichen, die kleinen Hoffnungsmomente intensiver wahrzunehmen. Wir können im Vertrauen darauf, dass der Sinn in Gott begründet und bewahrt ist, immer wieder aufs Neue aufstehen und uns gegenseitig darin unterstützen. So geben wir der Welt selbst, auch in Corona-Krisenzeiten, jeden Tag ein wenig mehr Sinn, Freude und Leben.

STEPHAN BURGER

ERZBISCHOF VON FREIBURG

1Wolfgang Metz: Brannte uns nicht das Herz? Gedichte, Würzburg 2017, S. 53.

2Annäherung an die Wirklichkeit, in: Andreas Knapp: Weiter als der Horizont, Gedichte über alles hinaus, Würzburg 2002, S. 59.

Dein Herz lebe auf!

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