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Zunächst war da nur die Bitte um einen Essay zu „mehrsprachiger Literatur“. Ich war angetan, sagte bedenkenlos zu und zupfte sofort Barbara Köhlers neuen Band 42 Ansichten zu Warten auf den Fluss aus dem Regal. In ihm finden sich Passagen wie die folgende:

„Wir werden uns erinnern, werden übersetzen, über den Fluss werden wir sprechen am Kanal, mit Blick auf Sonnenuntergänge und den grünen Saum des Horizonts oder das stille Gewässer da unten im Tal und das Licht auf den Bäumen, Schatten, die wachsen, die am Abend aus der Senke heraufstiegen: It was summer, zomer, der Sommer 2016 und Marja Zomer, die fürs Essen und Trinken sorgte, Wirtin war, Wartin, waitress, waardin en gastvrow (eins dieser Wörter wird auf der zweiten Silbe betont und nennt einen Ort in der Uckermark), Marja kam aus der Küche, lachte, brachte Essen.“

Dazu legte ich nach den narkosen von Paul-Henri Campbell. Ein Buch, in dem einsprachig englische Gedichte neben anderen stehen, die auf Deutsch geschrieben sind. Diese Arbeiten sind im Band kombiniert mit solchen, in denen beide Sprachen gleichzeitig verwendet und teilweise noch um außersprachliche Zeichen ergänzt werden. Natürlich durfte Uljana Wolfs meine schönste lengevitch auf dem Wiederlesestapel zum Essay nicht fehlen: ein Verbarium aus weitgereisten Worten, Aussprachen, Deutungen und Bedeutungen, das sich um die Illusion von Sprachgrenzen nicht schert, sondern, ganz im Hier und Jetzt ihrer Zeit und Geografie verwurzelt, die Wirklichkeit lebendiger Sprech-Welten abbildet. Ein Werk, das Wort- und Sprach-Räume eröffnet, auslotet, ihre Potentiale weiterspinnt, sie in Dichtung verwebt und gleichzeitig die Spuren ihrer etymologischen Transformationen aufleuchten lässt. Schließlich folgten Daniela Seels was weißt du schon von prärie und Ulf Stolterfohts Neu-Jerusalem, beides Arbeiten, in denen die Verschränkung mehrerer Sprachen und unterschiedlicher Sprachebenen zu dicht komponierten Texten Teil der zugrundeliegenden Poetik ist.

Ganz oben auf den Stapel aber kamen, wie könnte es anders sein bei diesem Thema?, gleich mehrere Bücher jenes Sohns eines Baukalkulators, der zunächst auf Englisch schrieb, später meist auf Französisch, der eigene Originale in die jeweils andere Sprache übertrug und sie dabei nach Bedarf anpasste, kürzte oder erweiterte, während seine Ausdrucksweise in beiden Sprachen angereichert blieb „mit einer starken Dosis irischen Narrentums und obskurem Trübsinn“ – so George Steiner in seinem Essay „Von Nuancen und Skrupeln“. Samuel Beckett ist nicht nur der Vertreter schlechthin der „mehrsprachigen Literatur“, sondern auch eines durch und durch von ihr geprägten Literaturverständnisses, ja einer bewusst aus mehreren Sprachen sich nährenden literarischen Musikalität, Rhythmizität.

So weit, so gut. Eine Reihe der für mich wichtigsten Autoren und Autorinnen zum Thema saß gewissermaßen neben mir auf dem Sofa, der Stift war gespitzt, das Heft aufgeschlagen, da machte sich mein Rechner mit einem Klingelton bemerkbar. In einer E-Mail wurde der Essay-Auftrag unerwartet konkretisiert:

Ich solle bitte insbesondere auf Gäste der Lesereihe Europa|Morgen|Land eingehen. Dazu gab es den Link zu einem Wikipedia-Artikel über diese bereits seit 18 Jahren regelmäßig in Mannheim stattfindende Veranstaltung, samt einer Namensliste aller an ihr beteiligten Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Ich ließ den Stift sinken: Von den auf meinem Sofa versammelten Kollegen und Kolleginnen fand sich niemand auf der Liste. Stattdessen, das fiel schnell ins Auge, wies sie eine weitgehende Übereinstimmung mit Künstlern und Künstlerinnen auf, die mit dem Adelbert-von-Chamisso- und/oder dem Hohenemser Literaturpreis ausgezeichnet worden waren. Unter diesen findet sich allerdings, von raren Ausnahmen wie Yoko Tawada abgesehen, kaum jemand, deren Werk oder dessen Texte sich in zentraler Weise durch eine Poetik der Mehrsprachigkeit oder der Verwendung von mehr als nur einer Sprache kennzeichnen.

Mit dem Label „mehrsprachige Literatur“ in meinem Auftrag war offensichtlich etwas anderes gemeint als das, was ich darunter verstand. Bei der Durchsicht der Vergaberichtlinien und Definitionen sowohl der beiden genannten Preise als auch der Lesereihe erschließt sich das Gemeinte schnell. Im Fokus stehen nicht mehrsprachige Texte, sondern mehrsprachige Menschen, die deutsche Literatur verfassen. Konkreter: solche mehrsprachige Menschen, die „nichtdeutscher Sprachherkunft“ sind (Wikipedia-Eintrag zum Adelbert-von-Chamisso-Preis), „deren Werk von einem Kulturwechsel geprägt ist“ (Robert Bosch Stiftung), die „nichtdeutscher Muttersprache sind“ (Hohenemser Literaturpreis) und die „auf qualitativ besondere Weise die deutsche Sprache bereichern, obwohl oder vielleicht auch weil Deutsch nicht ihre erste Sprache ist“ (Wikipedia-Eintrag zu Europa| Morgen|Land).

Selbst mehrfach Gast der genannten Lesereihe und ausgezeichnet mit dem Chamisso-Förderpreis, beschäftigen mich bereits seit vielen Jahren die Rückwirkungen, die solche Zuordnungen, Zuschreibungen, Annahmen auf die dergestalt Hervorgehobenen, Geförderten, Ausgezeichneten wenn auch nicht zwangsläufig haben, so doch durchaus haben können und nicht selten tatsächlich haben. Wer meine Bücher kennt, weiß, dass meine literarische Sprache das Deutsche ist. Ungeachtet dieser Tatsache wird mein schriftstellerisches Schaffen in weiten Teilen der Rezeption der „mehrsprachigen Literatur“ subsumiert.

Offen gestanden: mir schmeichelt das. Mit Mehrsprachigkeit assoziiert zu werden, ist so gut wie immer positiv besetzt. Das Prädikat deutet, wenn auch eher diffus, auf Weltgewandtheit hin, auf Lebenserfahrung, auf so etwas wie einen weiten geistigen Horizont. Wem gefiele das nicht? Und im Falle meiner Biografie ist zumindest der schlichte Umstand der Mehrsprachigkeit ja auch durchaus zutreffend, bin ich doch in drei Sprachen aufgewachsen und lebe inzwischen noch in zwei weiteren.

Inwieweit aber kann aus diesem biografischen Detail auf eine literarische Strategie, Absicht, Vorgehensweise, gar Qualität geschlossen werden, wie wir sie in den auf meinem Sofa gestapelten Arbeiten finden? Eine solche künstlerische Technik müsste, um in welcher Art Diskurs auch immer als relevant angesehen zu werden, entlang der Analyse konkreter Texte und am besten eines ganzen Œuvres aufzeigbar sein. Eine mehrsprachige Biografie allein liefert solch einen Nachweis keineswegs.

Während mir also mein Ruf als mehrsprachige Schriftstellerin durchaus nicht unangenehm ist, irritiert mich die anhaltende Einordnung meiner Werke als „mehrsprachige Literatur“ nachhaltig. Unter meinen Texten findet sich de facto keiner, den ich selbst als mehrsprachig bezeichnen würde. Warum also wird mein so im Deutschen verwurzeltes Schreiben immer wieder von Veranstaltern, Journalistinnen und Moderatoren dieser Kategorie, Subkategorie, Gattung zugeordnet? Und was geschieht, wenn das geschieht? Welche Effekte hat es auf die Art und Weise, in der ich als Autorin wahrgenommen und gelesen werde?

In einer Rezension zu meinem zweiten Buch und ersten Roman, Gespräch in Meeresnähe, kritisiert Christina Maria Berr in der Süddeutschen Zeitung: „Märchenhaft, orientalisch und bilderreich, so hofft man, könnte die Sprache der iranisch-deutschen Autorin sein – doch sie ist es nicht.“ (Besprechung vom 13.2.2006) Nicht der Roman selbst oder die Themen, um die er kreist, nämlich häusliche Gewalt und transgenerationelle Traumaweitergabe in Deutschland, sondern die iranisch-deutsche Herkunft der Autorin (was auch immer das genau meint) scheint bei Frau Berr eine spezifische Erwartungshaltung evoziert und eine klare Einordnung verursacht zu haben. Von einer „iranisch-deutschen Autorin“ wünscht sie sich eine Sprache, die von märchenhaftem Bilderreichtum geprägt ist. Diesen wiederum hält sie für orientalisch und für literarisch hochkarätig. Mir als zeitgenössische, deutscher Autorin lassen solche Sätze die Haare gründlich zu Berge stehen – und das ganz abgesehen von den Exotismen, die hier bemüht werden.

Näher an meiner Wirklichkeit war nach einer Lesung in Coburg eine Dame, die mich warnend bat, ihre Wortmeldung nicht persönlich zu nehmen. Ich müsse ihre tiefe Enttäuschung aber bitte verstehen. Ich sei als iranische Autorin angekündigt worden. Sie habe einen Roman über den Iran erwartet. Was ich da nun aber eben gerade vorgelesen hätte, sei doch „nichts weiter als deutsche Literatur von heute“. Mit dieser Einschätzung war ihr meine vehemente Zustimmung sicher.

Die Enttäuschung, für die mit mir nicht abgesprochene Ankündigung verantwortlich war – denn ich selbst bezeichne mich nicht als iranisch-deutsche und erst recht nicht als iranische Autorin –, die Enttäuschung also, die ich gut nachempfinden kann, zielte allerdings ebenfalls auf die Biografie. Auch hier zeigte sich eine klare Erwartungshaltung, der gemäß eine „iranische Autorin“ in ihrem Werk Einblicke in den Iran zu vermitteln habe. Wieder kein literarisches Kriterium. Saša Stanišić sagt dazu in einem Essay, der mir nur in einer englischen Fassung vorliegt:

„Any ‚good‘ author should, at any time, be able to write ‚good‘ fiction about a child suffering from cancer, a dog with three legs, or a dogleg telling a story about an immigrant author … Writing fiction also means inventing worlds which are not part of the writer’s own world.“

Damit soll natürlich nicht gesagt sein, dass für mich Themen, die außerhalb des Konnotationsfeldes ‚Iran‘ angesiedelt sind, fremd seien. Aber die Coburger Dame, die so gern etwas über den Iran erfahren hätte, hat es mir, wie viele andere Zuhörer und Leserinnen, von denen ich im Laufe der Jahre Vergleichbares gehört habe, übel genommen, dass ich ihr mit dem Buch, aus dem ich an jenem Abend las – es war mein zweiter Roman, brennt – nicht dienen konnte. Für das literarische Anliegen, das ich in diesem Text verfolge, und die von mir in ihm erschaffene Welt interessierte sie sich vor, während und nach der Lesung nicht. Eine unschöne Rückkopplung war die Folge – für uns beide.

Bei diesem elektrotechnischen Effekt handelt es sich um die „Rückführung eines Teils der von einer Verstärkeranlage abgegebenen Energie auf die Anlage selbst, die“, wie der Duden in Klammern hinzufügt, „in einem angeschlossenen Lautsprecher einen schrillen Ton erzeugen kann“. Wir sprechen also von einem (teilweise) geschlossenen System, das durch die Anordnung einzelner Teile im Raum unter Umständen Störgeräusche produziert.

Welche Art von Sound, um nun gleichzeitig im Bild zu bleiben und wieder zu meinen Fragen zurückzukommen, erzeugen wir, wenn wir die Arbeit von Autorinnen, wie beispielsweise ich eine bin, als „mehrsprachig“ bezeichnen? Aus welchem Anliegen speist sich unsere Bereitschaft, jene Rückkopplungen in Kauf zu nehmen, die geschaffen werden, wenn meine Texte durch die Rezeption auf der Bühne der Literatur entsprechend positioniert werden? Wo genau auf dieser Bühne werden sie (und ich mit ihnen) platziert? Was wird zu nah an sie herangeschoben, was von ihnen entfernt? Wer richtet sie aus? Handelt es sich bei den auftretenden Rückkopplungen unter Umständen sogar um gewollte Effekte, wie zum Beispiel in der Rockmusik? Sind wir uns der vielfältigen Wirkungen bewusst, welche die Subsumierung eines Werks unter das Label der Mehrsprachigkeit haben kann, wenn diese Zuordnung aufgrund biografischer oder angenommener, zugewiesener, fantasierter, erwarteter biografischer Merkmale erfolgt? Welche Auswirkungen hat dies auf das Schreiben und die Rezeption zahlreicher durch Auszeichnungen wie den Hohenemser Literaturpreis oder den mittlerweile eingestellten Adelbert-von-Chamisso-Preis und durch Einladungen in Veranstaltungsformate wie Europa|Morgen|Land geehrter Autoren und Autorinnen? Wer begrüßt sie? Wer fürchtet sie? Und warum?

Es sind sehr viele und sehr unterschiedliche Wirkungen, von denen wir sprechen müssten. Einige würden wir uns vermutlich wünschen, andere, einmal bewusst gemacht, würde ein großer Teil sicher nicht befürworten. Auch dafür ein Beispiel aus der Praxis oder, wie es im Englischen so schön heißt: from the receiving end of the line:

Im Rahmen einer Ausstellung zum Thema „Frauenpower unter dem Tschador“ erhielt ich eine Leseanfrage. Erstaunt teilte ich mit, dass ich keinen Tschador trüge. Das sei, bekam ich zur Antwort, kein Problem (!), ich solle einfach aus meinem Buch lesen. Vorsichtig erkundigte ich mich, aus welchem meiner Bücher der Vortrag denn gewünscht sei. Das sei ganz egal, kam die Antwort ohne jedes Zögern. Aber keins meiner Bücher, warf ich ein, behandle in irgendeiner Weise das Thema. Jetzt stutzte der Herr am anderen Ende der Telefonleitung, und es stellte sich heraus, dass die Veranstalter meine Bücher samt und sonders nicht kannten. Mein Name, teilte er mir mit, habe auf einer Liste mehrsprachiger Autoren gestanden, auf der ich die einzige Iranerin (!) gewesen sei – ergo die Einladung. Welche Liste er zu Rate gezogen hatte, habe ich nicht überprüft. Es könnte gut diejenige im Wikipedia-Eintrag zur Europa|Morgen|Land-Lesereihe gewesen sein oder, wahrscheinlicher, einfach die Namensliste zum Chamisso-Preis.

Nun gibt es natürlich Autoren und Autorinnen, deren Literatur unter der Bezeichnung „mehrsprachig“ gehandelt wird und deren Bücher auf der Ebene der Handlung hauptsächlich in Ländern außerhalb Deutschlands angesiedelt sind oder sich mit Minderheitenerfahrungen innerhalb Deutschlands beschäftigen. Doch daraus lässt sich kein Automatismus ableiten, dem gemäß eine Deutsche mit persischem Namen zwangsläufig über den Iran schreibt oder über Erfahrungen von Iranern und Iranerinnen (!) in Deutschland.

Die Rede von der „mehrsprachigen Literatur“ kann für die Rezeption der betreffenden Autoren und Autorinnen sowie ihres Werks dann zur Gefahr werden, wenn sie nicht deutlich macht, dass sie Texte meint, nicht Biografien, und zwar auch dann weiterhin Texte meint, wenn in einem Buch von Verhältnissen oder Erfahrungen außerhalb Deutschlands berichtet wird. Will man einem literarischen Werk und seinen Verfassern und Verfasserinnen gerecht werden, muss es unabdinglich auf der Sprachebene beurteilt werden. Mitteilungen, Ankündigungen, Besprechungen, die diesen Aspekt ausklammern und in der Hauptsache auf eine womöglich „fremdländische“ Handlung oder die Biografie des Autors oder der Autorin fokussieren, laufen Gefahr, dazu beizutragen, dass mehrsprachige Schreibende, unabhängig davon, ob ihre Literaturen einem mehrsprachigen Interesse gewidmet sind oder nicht, (im doppelten Sinne) problematisch gelesen, stigmatisiert und zumindest für Exotismen benutzt und diesen ausgesetzt werden.

Dass eine saubere Trennung zwischen Biografie und Werk bei Schriftstellern und Schriftstellerinnen, die mit mehreren Sprachen aufgewachsen sind, häufig gar nicht und noch häufiger zu Ungunsten des Werks vollzogen wird, zeigte sich zu Beginn meiner literarischen Karriere, als ich den Anruf von der Robert Bosch Stiftung erhielt. Ich wurde gefragt, ob ich den mir zuerkannten Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis annehmen wolle. Gleichzeitig wurde ich darüber informiert, dass es sich dabei um einen Preis handle, der an Deutsch schreibende Autoren und Autorinnen vergeben werde, deren Muttersprache nicht Deutsch sei. In späteren Jahren wurde diese Definition geändert, und so liest man heute auf der entsprechenden Seite, dass es um „das Werk“ gehe, welches von einem „Kulturwechsel“ geprägt sein solle. 2006 lagen diese Justierungen noch weit in der Zukunft.

„Ich schreibe, weil ich Sprachen und unter ihnen bevorzugt die deutsche unendlich gern modelliere.“

Die genannten Vorgaben treffen auf mich nicht zu. Ich habe zwei, eigentlich sogar drei erste Sprachen gehabt. Und unter ihnen war die deutsche jene, die vom Elternhaus am intensivsten gefördert wurde.

Aufrecht und, wie ich immer noch finde, wenn ich daran zurückdenke, geradezu tapfer schluckte ich meine Enttäuschung hinunter und wies darauf hin, dass Deutsch leider (!) meine Muttersprache sei. Ich war überzeugt, die Vergabe werde nun postwendend rückgängig gemacht. Stattdessen erhielt ich zu meiner bis heute anhaltenden Irritation die Antwort: „Ja, ja, das macht aber nichts. Sie sind mitgemeint.“

Warum war ich mitgemeint? Weil es doch nicht ums Schreiben jenseits der Muttersprache ging? War ich mitgemeint, weil es vielleicht doch zumindest auch um die Biografie ging? Um die Erfahrung eines Länder- oder Kulturwechsels? Der allerdings ist in meinem Fall im klassischen Sinne überhaupt nicht gegeben, denn ich bin in Teheran mit Weihnachten, Ostern, evangelischer Taufe, Thüringer Räuchermännchen und Europa-Schallplatten voller deutscher Volkslieder und Karl-May-Hörspielen aufgewachsen. War die Erfahrung jenes fünfstündigen Fluges mit regulär erworbenen Tickets gemeint, der mich eines Tages von Teheran nach Frankfurt am Main brachte? Die Erfahrung jenes Fluges, den meine 1935 in Berlin geborene Mutter, die bis zum Alter von zehn Jahren ungebrochen im Geiste des Nationalsozialismus und in fließendem Übergang mit den Vertreibungsnarrativen der Nachkriegszeit sozialisiert worden war, als ‚Flucht‘ bezeichnete, obwohl wir an seinem Ende, ohne auch nur ein einziges Formular ausfüllen zu müssen, in die Bundesrepublik Deutschland einreisen durften? Ging es um die Erfahrung, dass ich bereits am Morgen nach diesem Flug in einer deutschen Grundschule eingeschult werden konnte, nicht nur weil ich Staatsbürgerin dieses Landes bin, sondern weil Deutsch meine Muttersprache ist? War ich deshalb mitgemeint? Oder trotz dessen? Gar wegen beidem? Vor allem aber: Was hatten, was haben all diese Dinge mit Literatur zu tun?

Auch wenn diese Auszeichnung im Jahr 2006 und die mit ihr einhergehende weiterführende und wunderbar großzügige Förderung einen nicht unwesentlichen Einfluss hatten auf meinen anschließenden Weg als freie Schriftstellerin – das heißt als Schreibende, die es sich leisten kann, ganz von ihrer literarischen Arbeit zu leben –, verlässt mich das dumpfe Gefühl nicht, dass seither von meinem literarischen Schaffen ein Beitrag zur sogenannten Integration (wessen und worein?), ein Beitrag zur Öffnung des bundesrepublikanischen Selbstverständnisses (wohin exakt und welchen Selbstverständnisses genau?) und eine vorbildhafte Anreizfunktion zum ordentlichen Spracherwerb für Kinder und Jugendliche erwartet wird, deren Groß- oder Urgroßeltern einmal zum Arbeiten nach Deutschland kamen. Neuerdings selbstredend auch für Kinder und Jugendliche, die schwerst traumatisiert nicht nur aus dem syrischen Krieg und von grauenerregenden Fahrten übers Mittelmeer kommend in Deutschland Zuflucht suchen.

Ich aber schreibe, weil ich mich gern in Sprache aufhalte. Weil ich für mein Leben gern Luftschlösser aus Silben und Rhythmen und Fragen aufbaue, nur um sie schließlich begeistert und mit einem gezielten Einwortstreich niederzureißen. Ich schreibe, weil ich Sprachen und unter ihnen bevorzugt die deutsche unendlich gern modelliere. Ich schreibe, weil ich es liebe, genau das zu sagen, was ich meine, und vorher so lange darüber nachzudenken, bis ich wirklich präzise verstanden habe, was ich meine. Ich schreibe, weil mir das Schreiben selbst ein beglückender Aufenthaltsort ist und weil es meine Art ist, von dieser Welt zu sein und an ihr teilzuhaben.

Hätte ich eine Botschaft oder wäre es meine Absicht, Jugendlichen ein Vorbild oder Kindern eine Unterstützung zu sein, ich wäre Politikerin geworden, Gewerkschafterin, Aktivistin oder schlicht in meinem Erstberuf der Pädagogik geblieben. Ich habe keine Botschaft. Ich habe keine Antworten. Weder eigne ich mich dazu, die Verantwortung eines Vorbilds zu tragen, noch habe ich um sie gebeten.

Dass ich mehrsprachig lebe in einer Zeit, in der Rassismus, Antisemitismus und all die anderen altbekannten Abwertungs- und Ausgrenzungsverfahren in Deutschland wieder besorgniserregend zunehmen und wieder erschreckend hoffähig geworden sind, ist Zufall. Dass ich gegen diese Tendenzen die Stimme erhebe, ist meine persönliche Haltung. Wenn es um mein Schreiben geht, wünsche ich mir aber, wie vermutlich alle Literaturschaffenden, dass es seiner literarischen Qualität halber gelesen, gelobt oder gescholten wird, nicht aufgrund einzelner – zutreffender oder fantasierter – Aspekte meiner Biografie. „Die Wahrheit ist, daß ich schreibe, um mich auszudrücken. Ich schreibe für mich. Die Gesellschaft ist nicht mein Dienstherr. Ich bin nicht ihr Priester oder auch nur Schulmeister.“ Besser als Max Frisch kann ich es gar nicht auf den Punkt bringen. Welche als deutsch wahrgenommene Autorin müsste darauf heutzutage noch hinweisen, gar um das Recht darauf kämpfen?

Entgegen meinem eigenen Standpunkt wahrgenommen als eine, die sich literarisch zu Fragen der Migration und der sogenannten Integration äußern kann und möchte, wurden aber von dem Moment an, in dem ich als Schriftstellerin in Erscheinung trat, Auftragsarbeiten zu genau diesen Themenkomplexen an mich herangetragen. Auftragsarbeiten, für die ich gut bezahlt wurde. So ist ein ganzes Korpus aus Texten entstanden, die ich meinem eigenen literarischen Interesse folgend vermutlich niemals verfasst hätte. Im Laufe der Jahre sind es so viele geworden, dass sie seit Kurzem als eigenständiger Erzählband vorliegen. Es sind gute Texte. Texte, zu denen ich mühelos stehen kann und die ich mag. Texte, deren Niederschrift mich abgehalten hat von jenen literarischen Projekten, die mich mit größerer Dringlichkeit umtreiben, für die ich aber keine Aufträge erhalten habe.

Da ist er wieder, der schrille Ton der Rückkopplung. Die allermeisten meiner Versuche, auf der Bühne der Literatur im deutschsprachigen Raum ein Eckchen zu finden, in dem die Techniker und Produzentinnen den Verstärker nicht ganz so nah an mich heranschieben können, waren bis jetzt vergeblich. Es scheint, als sei ich in einer Möbiusschleife gefangen, in einem System ohne Ausgang, einem Hamsterrad, in dem ich mich nur so bewegen kann, dass von all dem Vielen, das ich bin, nur Weniges und immer Gleiches sichtbar wird.

Irina Bondas spricht von der „großen emanzipatorischen Freiheit … [die] es ist, sich nicht zwanghaft identifizieren zu müssen.“ „Auch das“, sagt sie, „ist es, wofür Menschen in mehr oder weniger freiheitlichen Gesellschaften kämpfen: … für das Recht, nicht Geisel einer Position oder Positionierung zu werden.“ Ihre Sätze im Ohr, sage ich:

Ja, ich singe gern ein Hohes Lied auf mehrsprachige Literatur von Schreibenden egal welcher biografischer Provenienz, sofern dieses Label auf unsere Texte zielt, nicht auf unsere Biografien, und solange es uns nicht in unsere Fremde verweist und in unseren Heimaten verwaist.

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