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Vorwort

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Von Joe Bauer

Dies ist das erste Vorwort meines Lebens. Ein Provinzler wie unsereins hat naturgemäß lieber das letzte Wort, im Glauben, er könne durch pausenlosen Redefluß seine Ahnungslosigkeit vertuschen. Die Pause an sich ist im Fluß des Lebens eine existentiell wichtige Einrichtung, völlig unterschätzt, und die beste Erholung auf der Flucht vor den Wegsehenswürdigkeiten einer Stadt findet der Spaziergänger im Park. Der Park, habe ich mal gelesen, hat im kakophonischen Gebilde einer Großstadt (und was sich dafür hält) eine ähnlich bedeutende Funktion wie die Pause in einem symphonischen Orchesterwerk. Deshalb ist es mehr als vernünftig, wenn die Bürger ihre Parks gegen die Bulldozer der Investoren und die Lobbyisten verteidigen.

Ich lebe seit Mitte der siebziger Jahre in Stuttgart und müßte angesichts der Texte im vorliegenden Buch eigentlich die Klappe halten. Der Schriftsteller Helmut Heißenbüttel verglich Stuttgart einmal mit einer Wanne: „Diese Wanne ist rundherum abgeschlossen, sie hat zwei offene Seiten, einmal zum Neckartal und in einem schmalen Durchgang nach Heslach und Kaltental. Ein Spaßvogel hat einmal gesagt, wenn man diese beiden Ausgänge zustopfte und die Wanne voll Wasser laufen ließe, würde aus Stuttgart ein schöner See.“ Eine reizvolle Idee angesichts der Tatsache, daß man für das Megalomanie-Projekt Stuttgart 21 mehrere Parks umpflügt, sechzig Kilometer Tunnel bohrt und damit Europas zweitgrößtes Mineralwasseraufkommen gefährdet. Offiziell heißt es, die Deutsche Bahn baue einen neuen „Tiefbahnhof“ – ein „Verkehrsprojekt“. Dummes Geschwätz. Propaganda. Als ob je irgendein Schwachsinniger Milliarden investierte, auf daß der ohnehin mißliebige Eisenbahnkunde ein paar Minuten schneller von Stuttgart nach München kommt.

Die Wahrheit ist: Die Gleise auf Gottes Erdboden müssen in den Untergrund, damit Bauland frei wird und das milliardenschwere Immobilien- und Bodenspekulationsgeschäft freie Fahrt genießt. Die übliche Landnahme, wir kennen das von den Indianern.

Fast immer geht es ums Geschäft, wenn die Städte verschandelt werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließen die Rathauspolitiker Stuttgart mit Stadtautobahnen tranchieren; danach mußte jeder Auswärtige glauben, Stuttgart ähnele mit seinen Fabriken von Mercedes, Porsche und Bosch irgendwelchen Industrielöchern im Kohlenpott. Dabei liegt die Stadt, wie von Dichtern ersonnen, in einem Talkessel mit Weinbergen, die man zur Zeit noch bei der Einfahrt mit dem Zug über dem von Paul Bonatz erbauten, inzwischen für S 21 ziemlich zerstörten Bahnhof sehen kann.

Daß ich trotz meiner Herkunft an dieser Stelle die Klappe aufreißen darf, verdanke ich einem Zufall. In den sechziger Jahren ging ich in einer stockkonservativen Kleinstadt namens Schwäbisch Gmünd für eine kurze Weile auf dasselbe Gymnasium wie der Wegsehenswürdigkeiten-Mitherausgeber Stefan Geyer. Nach meiner Schulpanne sah ich ihn öfter in Berlin; er hatte sich Richtung Frontstadt abgesetzt. Das war zu einer Zeit, als ich die Qualität einer Stadt vorzugsweise an der Zahl ihrer Kneipen und deren Öffnungszeiten bewertete. Da stand Berlin so gut da, daß unsereins als Tourist von einer Peinlichkeit in die nächste torkelte.

Auf das mir lange unbekannte Wesen Stadt stieß ich dennoch in Stuttgart. Nach gut zwanzig Jahren Redakteursarbeit bei den Stuttgarter Nachrichten gab man mir eine Kolumne mit dem Titel „In der Stadt“. Womit ich sie füllen könnte, sagte keiner. Wasser haben wir leider nur in der Vorstadt, der von Hölderlin besungene Neckar meidet Stuttgarts Kern und wird von der Politik böswillig ignoriert und allein als industrielle Wasserstraße mißbraucht. Da liebe ich geradezu Frankfurt, wenn mich ein Einheimischer in ein Café am Mainufer führt, eine Songzeile der Stranglers auf den Lippen: „Walking on the beaches looking at the peaches.“

Als Zeitungsfritze hatte ich schon früh den Eindruck, eine Zeitung spiegele nur höchst dürftig die Menschen und das Leben in der Stadt. Das ging mir nicht nur in Stuttgart so, auch in Berlin oder Hamburg wunderte ich mich, wie Zeitungen ihre Stadt buchstäblich ausblendeten. Mit urbaner Realität hat die Feuerwehr- und Rathausberichterstattung in den Lokalteilen oft nicht viel zu tun. Also begann ich versuchsweise mit dem Herumgehen und Schnüffeln, zunächst ohne Kenntnis der literarischen Flaneure. In den achtziger Jahren hatte ich gelegentlich in der Münchner Abendzeitung Sigi Sommers Kolumne „Blasius, der Spaziergänger“ gelesen. Was der Mann trieb, wie er den Leuten seine Stadt mit kleinen Beobachtungen wie ein Buch voller Geschichten öffnete, gefiel mir. Begriffen habe ich sein Handwerk erst später.

In meiner ersten Herumgeherzeit nannte ich mich „Stadtstrolch“, ohne zu ahnen, daß diese abwertende Bezeichnung etwas mit dem wahren Image des Flaneurs zu tun hatte, bevor diese Figur in der jüngeren Vergangenheit wieder in Mode kam (und heute in bescheuerten „Flaniertouren“ kommerziell ausgeschlachtet wird). Vom schlechten Ruf des Flaneurs, des streunenden Einzelgängers, erfuhr ich erst später bei der Lektüre von Franz Hessel: „Ich bekomme immer mißtrauische Blicke ab, wenn ich versuche, zwischen den Geschäftigen zu flanieren. Ich glaube, man hält mich für einen Taschendieb.“ Unsereins fühlt sich bis heute eher als Tagedieb.

Ich bitte, diese Schilderungen nicht als jene Art von Privatmitteilungen mißzuverstehen, die Schreiberlinge oft mit Poesie oder gar Unterhaltung verwechseln. Ich will nur erklären, wie lange es brauchte, mich dem Phänomen Stadt zu nähern. Womöglich geht es nicht nur mir so. Wohl war ich als Dörfler neugierig, aber es dauerte, bis ich mich mit der Sache halbwegs bewußt beschäftigte und erkannte, daß es keine Floskel ist, wenn man sagt: Geschichten liegen auf der Straße. Das gilt nicht nur für die großartige Idee der Stolpersteine zur Erinnerung an die von den Nazis ermordeten jüdischen Bürger. Manchmal hängen Geschichten auch an Hauswänden; eine unscheinbare Gedenktafel öffnet den Blick auf Menschen, deren Vergangenheit uns mehr über die Zukunft erzählt, als das alle Marketingschreier zusammen tun.

Eines Tages kaufte ich mir ein kleines gummiertes Fernglas von Nikon. Mit seiner Hilfe gewöhnte ich mir an, die Häuser in den Straßen nicht länger nur bis zur Gürtellinie, also bis zum oberen Ende der Eingangstüren oder der Schaufenster, zu betrachten. Obenrum, das ist wie bei Menschen, wirkt alles anders als beim Blick bis zum Bauchnabel. Das ziellose Herumgehen kam mir auch gelegen, weil ich an einer angeborenen Orientierungslosigkeit leide. Da fehlen irgendwelche Hirnspeicher. Ich finde in einer fremden Stadt nie eine Straße oder eine Kneipe wieder, in der ich tags zuvor war. Am besten, ich muß nichts suchen und gehe einfach der Nase nach. Zum Glück las ich in Paul Austers Winterjournal, wie sich der große New Yorker Autor und Spaziergänger in seiner Heimatstadt trotz der numerierten Straßen schwertut, beim Aussteigen aus der U-Bahn zu begreifen, wo er ist. Wo Süden und wo Norden ist, wo rinks und lechts. „Immer auf dem Holzweg, immer in der falschen Richtung, immer im Kreis herum“, schreibt er. Damit war geklärt, daß die Krankheit des hilflosen Herumirrens in der Stadt jeden befallen kann. Heute mache ich mir Mut mit meiner Losung: Lieber zu weit gehen als gar nicht. Immer wieder reise ich jeweils für eine Woche pflichtschuldig nach New York – auf der Suche nach dem Gefühl von Stadt: in der Nacht mit der U-Bahn raus aus dem Gewühl von Manhattan, runter nach Brooklyn, wo es entspannt sein kann wie auf einem Dorf und aufregend wie nur in New York City, in einer phantastischen Stadt, in der die Meldung umgeht, gewisse Herrschaften wollten die Pferdekutschen in den Straßen nicht etwa aus Tierliebe abschaffen. Die Droschken sollen weg, weil ihre Stallungen im Trendviertel Hell’s Kitchen den Immobilienhaien im Wege stehen.

Der Hinwendung zur Stadt, auch zur eigenen, folgt meist eine gewisse Liebe oder Haßliebe, je nachdem, und die Liebe macht nicht blind, sie schärft den Blick und das Gehör. Der Herumgeher beginnt, sich über die Würdelosigkeit im Umgang mit der Stadt zu ärgern, er spürt den Zorn auf die Verschandler mit ihrer dummdreisten Vorstellung von „Modernität“. Sie reden von „Moderne“, wo der Ramsch der Vergangenheit in neuer Verpackung zum Himmel stinkt. Es sind die Wegsehenswürdigkeiten, die uns zu Hinsehern machen. Es sind die ästhetischen Verbrechen, die uns den Blick auch politisch öffnen. Kaum war 2011 in Stuttgart Baden-Württembergs grün-rote Landesregierung angetreten, rülpste der SPD-Fraktionsvorsitzende Schmiedel: „Wo der Bagger steht, geht es uns gut.“ Welch gestriger Geist die Bulldozerfraktion prägt, erklärte der amerikanische Konzeptkünstler Joseph Kosuth in einem Interview über Städtebau mit Spex: „Selbst wenn etwas nicht vollständig abgerissen wird, so läßt man in der Regel nur die Fassade stehen und baut dahinter praktische Gebäude. Das ist ein rückschrittliches Architekturverständnis. Architektur hat die Psychologie eines Ortes zu konservieren, dadurch ist es uns Menschen möglich, eine Verbindung herzustellen zu den Menschen, die vor uns dagewesen sind. Durchbricht man diese Logik, indem man nur die Fassade stehen läßt, verändert man die Städte, in denen wir leben, in eine Art Euro-Disneyland.“ Euro-Disneyland macht sich in Deutschlands Städten unaufhaltsam breit, und die Kriminalpolizei meldet: Es gibt keine deutsche Großbaustelle mehr ohne den extremen Einfluß der internationalen Mafia, keine ohne Schwarzarbeiter.

Unter der Überschrift „Teufelsspiralen“ schrieb der Architekturkritiker Dieter Bartetzko 2013 in der FAS einen denkwürdigen Beitrag über den Bauwahn und den Mietwahnsinn. „Immobilienentwickler“ versprächen „Neues Wohnen in der Stadt“, in Wahrheit „wachsen in den Innenbezirken von München, Stuttgart, Frankfurt, Hamburg, Lübeck, Leipzig, Hannover oder Berlin Wohnquartiere wie die sprichwörtlichen Pilze aus dem Boden. Doch mit dem Wohnungsbedarf und den fehlenden Sozialwohnungen haben diese so viel zu tun wie ein Flamingo mit einem Huhn – was entsteht, sind Luxusquartiere, deren Mieten und Kaufpreise das Monatseinkommen oder die Rücklagen der sogenannten Mittelschicht um ein Vielfaches übertreffen.“ Die Luxusarchitektur, so Bartetzko, neige ästhetisch „zur Armseligkeit“, die Einheitlichkeit der Bauten erinnere „erschütternd an Praktiken der späten DDR“: an austauschbare Dekorserien in völlig unterschiedlichen Städten wie Rostock, Erfurt, Dresden.

Wo das dämliche Adjektiv „modern“ auftaucht, folgen unweigerlich die städtebaulichen Totschlagargumente aus den Marketingagenturen. Jeder Schwachsinn steht heute für „Zukunft“ und „Fortschritt“. Aus der Psychologie weiß man, daß die menschlichen Hirnspeicher der großen Mehrheit vorwiegend nicht etwa mit Sammelstücken aus der Vergangenheit oder der Gegenwart gefüllt sind. Was den Kopf am meisten belastet, sind von Existenzangst geprägte Gedanken. Auch deshalb steht heute jeder verkäufliche Scheiß, sofern neu produziert, für Zukunft und Fortschritt.

In Ruben Fleischers düsterem Hollywood-Film Gangster Squad spielt Sean Penn den Mobster Mickey Cohen im Los Angeles der vierziger Jahre. Der Verbrecher will die ganze Stadt. Als er, größenwahnsinnig und süchtig nach „mehr“, ein weiteres Hindernis auf seinem Weg nach oben beseitigt hat, sagt er: „Das war kein Mord. Das war Fortschritt. Ich bin Fortschritt.“ Diese Szene fällt mir ein, wenn ich vor zerstörten oder mutwillig der Verwahrlosung überlassenen Baudenkmälern stehe, den gekappten Brücken zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Wegsehenswürdigkeiten unserer Städte zwingen den Herumstiefelknecht im Dienste seiner selbst zum Hinsehen. Er sollte so umweltfreundlich sein, nicht überall hinzukotzen, wo ihm in einer schöpferischen Pause gerade danach ist. Womöglich tritt der Falsche rein.

Frankfurter Wegsehenswürdigkeiten

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