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Berührungsangst mit Schleim

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Die Wahrheit-Sprachkritik: Journalistische Schnitzereien aus der Holzgrammatik

Als Vertreter der vierten Gewalt im Staate schauen die Journalisten den Größen des Showbiz, der Politik, des Sports, der Wirtschaft und des Adels genau auf die Finger und mitunter auch sonstwohin, aber wehe, es untersteht sich jemand, die Arbeit der Journalisten am Satzbau zu kritisieren. Das lieben sie nicht. Auch der freundlichste Hinweis auf schmerzhafte Schnitzer wird entweder ignoriert oder mit dem tadelnden Vermerk abgewehrt, dass sich an solchen Lappalien nur sauertöpfische Oberlehrer stören könnten.

Der Kapitän eines Bezirksligavereins, der mit dem Ball so stümperhaft umginge wie die Mehrheit der Journalisten mit der Grammatik, würde sich binnen kurzem auf der Ersatzbank wiederfinden oder im Kassenhäuschen. Die arrivierte Journalistin Isabell Hülsen aber darf ohne Angst oder Ängste um ihren Arbeitsplatz im Spiegel den Satz verbrechen: »Große Berührungsängste mit Kirch wird es bei allen Beteiligten schon deshalb nicht geben, weil man sich gut kennt.« Es hat also in diesen Kreisen niemand »Berührungsängste« mit Kirch. Aber kann man denn »mit« Kirch Berührungsängste haben? Es mag Geschäftsleute geben, die gewisse Sorgen mit Leo Kirch teilen, doch es wäre unsinnig zu behaupten, dass diese Menschen Ängste »mit Kirch« hätten oder gar »Berührungsängste mit Kirch«. Die Autorin wollte vermutlich sagen, dass die Beteiligten keine Angst davor hätten, mit Kirch zu kooperieren oder mit ihm gesehen zu werden. Geschrieben hat sie stattdessen, dass die Beteiligten keine Berührungsängste »mit« Kirch hätten, und das ist Kappes. »Ich habe keine Ängste mir dir«, sagte Romeo zu Julia. »Was für Ängste?«, fragte Julia zurück, und ihre Rosenlippen erbebten. »Na, Berührungsängste mit dir!«, erwiderte Romeo …

Im journalistischen Jargon hat sich die Pest der falsch verbundenen »Berührungsängste« bereits unausrottbar tief eingefressen. Im Hinblick auf die Homosexualität hat Alexander Zinn, der Geschäftsführer des Lesben- und Schwulenverbandes Berlin-Brandenburg, die Öffentlichkeit wissen lassen, dass viele Lehrer »immer noch Berührungsängste mit dem Thema« hätten. Das Kuratorium Deutsche Altershilfe empfiehlt auch älteren Menschen den Zugang zum Internet: »Denn sind erst einmal die Berührungsängste mit dem neuen Medium abgebaut, kann es zu einer höheren Lebensqualität im Alltag beitragen.« Zum Tagesordnungspunkt »Heizen mit Weizen« teilt der Energiewirtschaftsjournalist Bernward Janzing uns allen mit, dass wir »keine Berührungsängste mit der Energie vom Acker« haben müssten. Die furchtlosen Musikanten der Combo Pur wiederum bekunden, dass sie »keine Berührungsängste mit Klassik« hätten, während die Fachzeitschrift Brigitte den gebärfähigen Frauen dazu rät, beim Ertasten des Zervixschleims und des Muttermunds »keine Berührungsängste mit dem eigenen Körper« zu haben. Lothar Bisky kennt »keine Berührungsängste mit der SPD«, Frieder Burda »keine Berührungsängste mit Kunst« und der Fernsehkommissar Richy Müller »keine Berührungsängste mit Stuttgart«. Google weist inzwischen mehr als 60.000 andere nichtvorhandene Berührungsängste aus; Tendenz steigend.

»Hab keine Angst / vor dem, / der dir sagt, / er hat Angst«, dichtete einst der große Lyriker Ulrich Fried-Honecker. »Aber mach dich vom Acker, / wenn jemand schreibt, / er kenne keine Berührungsängste / mit Stuttgart.«

Gerhard Henschel (2.10.2007)


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