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Sonderpreis
Manuela Liechti-Genge
Wasser des Lebens
Predigt zu Johannes 4,4–19
Er [Jesus] musste aber durch Samaria hindurchziehen. Nun kommt er in die Nähe einer Stadt in Samarien namens Sychar, nahe bei dem Grundstück, das Jakob seinem Sohn Josef gegeben hatte. Dort war der Brunnen Jakobs. Jesus war müde von der Reise, und so setzte er sich an den Brunnen; es war um die sechste Stunde. Eine Frau aus Samaria kommt, um Wasser zu schöpfen. Jesus sagt zu ihr: Gib mir zu trinken! Seine Jünger waren nämlich in die Stadt gegangen, um Essen zu kaufen. Die Samaritanerin nun sagt zu ihm: Wie kannst du, ein Jude, von mir, einer Samaritanerin, zu trinken verlangen? Juden verkehren nämlich nicht mit Samaritanern. Jesus antwortete ihr: Kenntest du die Gabe Gottes und wüsstest, wer es ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken, so würdest du ihn bitten, und er gäbe dir lebendiges Wasser. Die Frau sagt zu ihm: Herr, du hast kein Schöpfgefäss, und der Brunnen ist tief. Woher also hast du das lebendige Wasser? Bist du etwa grösser als unser Vater Jakob, der uns den Brunnen gegeben hat? Er selbst hat aus ihm getrunken, er und seine Söhne und sein Vieh. Jesus entgegnete ihr: Jeder, der von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst haben. Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, der wird in Ewigkeit nicht mehr Durst haben, nein, das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zu einer Quelle werden, deren Wasser ins ewige |30| Leben sprudelt. Die Frau sagt zu ihm: Herr, gib mir dieses Wasser, damit ich nicht mehr Durst habe und hierher kommen muss, um zu schöpfen. Er sagt zu ihr: Geh, rufe deinen Mann und komm hierher! Die Frau entgegnete ihm: Ich habe keinen Mann. Jesus spricht zu ihr: Zu Recht hast du gesagt: Einen Mann habe ich nicht. Denn fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann. Damit hast du die Wahrheit gesagt. Die Frau sagt zu ihm: Herr, ich sehe, du bist ein Prophet.
Ihre Hände greifen nach dem Krug. Ein Leben lang hat er sie begleitet. Es ist ein einfacher Krug aus Ton. Sie dreht ihn in den Händen, streicht zärtlich über die raue Oberfläche und betrachtet ihn still.
Schon oft hat sie daraus getrunken, durstig unter der heissen Sonne. Es ist ihr Krug. Und immer wieder ist er leer, der Krug. Voll – und wieder leer; halbvoll – und wieder leer; ein paar Tropfen noch – und wieder leer.
Ein Leben lang hat sie diesen Krug mit sich getragen. Von Tag zu Tag hat der Durst sie getrieben und von Nacht zu Nacht. Immer wieder hat sie den Krug hingehalten mit der Bitte: «Gib mir zu trinken.» Und sie hat zu trinken bekommen: gutes Wasser, schlechtes Wasser; süsses Wasser, bitteres Wasser, klares Wasser, trübes Wasser. Sie hat das alles getrunken. Sie hat das alles geschluckt. Geschluckt, um zu leben; geschluckt, um zu überleben. Geschluckt und getrunken, um diesen grossen Durst in ihr zu löschen.
Sie hat den Krug hingehalten – schon als Kind – und zu trinken bekommen, Wasser von ihren Eltern. Meist war es gut und rein. Oft hat es den Durst gelöscht – für eine Weile. Dankbar denkt sie an ihre Eltern zurück. Doch Vater und Mutter sind schon lange tot.
Dann ist sie aufgebrochen als junge Frau mit ihrem Krug. Sie hat ihn hingehalten und gebeten: «Gib mir zu trinken.» Und da war er, ihr erster Mann. Überschäumend hat er ihren Krug gefüllt, und sie hat getrunken, geschlürft die Süsse der ersten Liebe. Trunken war sie vom Trinken. Doch dann wurde das |31| Wasser bitter. Langsam und schleichend, bis es ungeniessbar war. Dann kam er wieder, der Durst.
So zog sie weiter zu einem zweiten Mann. Sie hielt ihm ihren Krug hin und bat: «Gib mir zu trinken.» Doch das Wasser, das er ihr einschenkte, war trüb. Ein übler Geruch stieg aus dem Krug, jedes Mal, wenn sie ihn an die Lippen hielt. Dieses Wasser machte sie krank. Doch es dauerte lange, bis sie sich eingestand: Dieses Wasser macht den Durst grösser – nicht kleiner.
Geschwächt noch von der Krankheit und durstig wie eh und je, traf sie auf ihren dritten Mann. Angst schwang mit in ihrer Stimme, als sie bat: «Gib mir zu trinken.» Er gab ihr zu trinken, reichlich und ohne zu zögern. Das Wasser war frisch und klar. Dankbar sog sie es in sich auf, Liter um Liter. Langsam wurde sie gesund. Nun war alles gut. Der Durst meldete sich nicht mehr – oder nur noch ganz leise.
Doch von einem Tag zum andern versiegte das Wasser. Nicht der kleinste Tropfen mehr. Der Tod leistet immer ganze Arbeit. So blieb der Krug leer, lange Zeit. Nur salzige Tränen füllten ihn.
Und wieder wuchs der Durst. Mächtiger und quälender denn je. So ging sie hin zum vierten Mann. «Gib mir zu trinken», bat sie. Der Mann befeuchtete ihre Lippen, das war alles. «Gib mir mehr», flehte sie ihn an. Zwei kärgliche, knapp bemessene Schlückchen gönnte er ihr. «Das muss reichen», sagte er. Immer trockener wurde ihre Kehle und ausgedörrter ihre Seele. Da beschloss sie, aus der Not eine Tugend zu machen und keinen Durst mehr zu haben. «Ich brauche kein Wasser», sagte sie. Eine Weile hielt sie durch. Doch dann musste sie erkennen, der Kopf kann nicht beschliessen, was die Seele nicht will.
So zog sie weiter zum fünften Mann, hielt ihm den Krug hin und bat: «Gib mir zu trinken, denn ich verdurste.» «Oh ja», sagte der Mann, «du sollst Wasser haben bis genug.» Und er goss ihren Krug voll. Und der Krug lief über, und der Mann |32| goss weiter und weiter. Sie wurde nass, und das Wasser stieg, erst bis zu den Knien, dann bis zu den Hüften, dann bis zu der Brust. «Hör auf!», rief die Frau, «ich ertrinke!» Doch er hörte nicht auf sie. Das Wasser stand ihr bis zum Hals. Sie bekam keine Luft mehr. Mit der Kraft der Verzweiflung gelang es ihr im letzten Moment, sich zu retten.
Ein sechster Mann kreuzte ihren Weg. Doch dieses Mal hielt sie ihm den Krug nicht mehr hin. Sie traute keinem mehr. Auch hatte sie nicht das Recht dazu, denn dieser Mann war nicht ihr Mann. In ihrer Not hatte sie jedoch inzwischen gelernt, selber Wasser zu schöpfen. So ging sie hin zum Brunnen, wann immer sie durstig war. Allein ging sie hin – begleitet nur von ihrem Durst.
So ist es auch heute. Heiss scheint die Sonne, und der Durst ist gross. Sie nimmt den Krug und macht sich auf den Weg; auf den Weg zum Brunnen Jakobs, um Wasser zu schöpfen.
Und sie weiss nicht, wie ihr geschieht. Sie weiss nicht, woher auf einmal dieser Mut kommt. Dieser Mut, wieder zu vertrauen. Dieser Mut, noch einmal – ein letztes Mal – zu bitten: «Herr, gib mir dieses Wasser, damit ich nicht mehr Durst habe.» Sie trinkt und trinkt – und der Krug wird nicht leer. Mit jedem Schluck, den sie nimmt, sprudelt neues Wasser in den Krug. «Danke», sagt sie zum Fremden am Brunnen. Dann nimmt sie ihren Krug und geht. Leichten Schrittes geht sie dahin, und ihre Seele singt.
Da sieht sie einen Mann am Wegrand sitzen. Die Sonne brennt auf ihn nieder. Erschöpft wischt er sich den Schweiss von der Stirn. «Möchtest du trinken?», fragt sie ihn. Verwundert blickt der Mann hoch. Er schaut sie an und sieht den Krug. «Ja, bitte», sagt er. Und wieder hält sie einem Mann den Krug hin. Den vollen dieses Mal, nicht den leeren. Der Mann nimmt den Krug und trinkt. «Gott segne dich», sagt er. «Das tut er», sagt sie.
Zu Hause angekommen setzt sie sich hin, den Krug auf ihrem Schoss. |33|
Ein Leben lang hat er sie begleitet. Es ist ein einfacher Krug aus Ton. Sie dreht ihn in den Händen, streicht zärtlich über die raue Oberfläche und betrachtet ihn still. Klares Wasser funkelt darin, frisch und geheimnisvoll – Wasser des Lebens.
Amen.
Radio DRS 2: Evangelische Radiopredigt 3. Juli 2011 «Lebendiges Wasser».
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