Читать книгу 106. Ausgabe der allmende – Zeitschrift für Literatur - Группа авторов - Страница 7

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VEA KAISER, CLEMENS BERGER, MARC ELSBERG, URSULA POZNANSKI

Tischgespräche zur Gegenwart

Vea Kaiser: Es hat sich viel getan in diesem Jahr. Schon allein, dass wir uns heute hier treffen können ist eine Ausnahmesituation, eigentlich wäre zurzeit Frankfurter Messe.

Ursula Poznanski: Es war sicher richtig, dass die Messe abgesagt wurde. Ich war einen Abend in Frankfurt, aber habe keine Messe gesehen. Ich war am Hauptfriedhof, das war insofern gut, weil ich den brauche für mein aktuelles Buch, und hatte am Abend eine Lesung vor 50 Leuten in einem Raum, wo sonst 150 reingegangen wären. Dann bin ich wieder nach Hause geflogen. Es war insgesamt ein bisschen sinnbefreit. Es gab sogar einen Büchertisch, aber man durfte nicht signieren.

K: Clemens, Du hast gerade in Köln gelesen, wie war es dort?

Clemens Berger: Das Forum Independent hat dort ein Buchfest veranstaltet. Das Pech war, dass an diesem Morgen die Kanzlerin sagte, man solle zu Hause bleiben. Nach Monaten an Vorbereitung war dann sehr wenig los. Ich hatte zwei Lesungen, die erste war um vier. Da waren vielleicht 30 Leute, die zweite hätte um sieben sein sollen, aber da kein Mensch mehr da war, haben wir es gelassen. Dann wollten wir essen gehen, in ein Restaurant, in dem man normalerweise ohne Reservierung keinen Platz bekommt. Als wir hinkamen, war dort kein einziger Mensch. Im Hotel waren beim Frühstück fünf Leute. Man musste zuerst die Hände desinfizieren und dann über die desinfizierten Hände Einwegplastikhandschuhe ziehen. Beim Rückflug, am Sonntag, bin ich sicher zwei bis drei Kilometer durch die Gänge gegangen, ohne einen einzigen Menschen zu sehen. Aber im Flugzeug saßen alle Schulter an Schulter, das finde ich wirklich absurd.

K: In Deutschland beobachtete ich auf der einen Seite viel strengere Regeln, und auf der anderen Seite viel größere Nicht-Akzeptanz dieser. Als ich mit der Deutschen Bahn fahren musste, befand sich mein zugeteilter Sitzplatz neben einem älteren Herrn. Der wollte keine Maske tragen, also hat er sich eine Bierflasche bestellt und an der vier Stunden genuckelt.

P: Stell dir vor, das Virus wäre noch ansteckender und bei 50 % der Infizierten tödlich. Die Leute würden sich doch gegenseitig umbringen, wenn man jemanden ohne Maske sieht.

Marc Elsberg: Interessant ist: Wenn man sich die Seuchenfilme der letzten Jahrzehnte anschaut, sieht man nirgendwo eine Maske.

K: Wie oft habt ihr euch im letzten Jahr gedacht: Um Gottes Willen, das ist ja wie in meinen Romanen? Die Realität holt die Fiktion ein.

P: Ich habe sowas nie geschrieben und habe auch keine Lust, es zu schreiben. Für eine Dystopie müsste man es noch ein bisschen mehr auf die Spitze treiben.

E: Lustig sind die Cartoons, wo zwei Menschen auf der Couch sitzen und sagen: Niemand hat bei diesen Dystopien die Langeweile erwähnt. Das liegt aber natürlich auch an dem Verlauf, den wir haben.

P: Es rechnet ja auch niemand damit, dass du der Sache mal so müde wirst, also dass die Krise einmal langweilig wird. Am Anfang haben noch alle aus den Fenstern gesungen.

B: Der Anfang ist immer interessant.

P: Wir ziehen alle an einem Strang, wir schaffen das!

E: Um die Frage zu beantworten, jein, die Dynamik war bis zu einem gewissen Grad vorhersehbar, wenn man sich mit solxchen Situationen beschäftigt, so wie ich in »Blackout«. Dass sich die Leute nicht schon nach ein paar Stunden gegenseitig umbringen, sondern dass man in einer Krise am Anfang zusammenhält. Mein Agent und mein Verlag wollten jahrelang, dass ich über eine Pandemie schreibe, aber das hat mich nicht interessiert, weil es schon in den späten 90ern ein riesengroßer Hype war.

K: In diesem Herbst habe ich bereits 25 Corona-Bücher gezählt. Das erste kam Anfang Mai heraus. Ein Schweizer Journalist dürfte binnen einer Woche einen Corona-Roman geschrieben haben. Keine Ahnung, wie der das gemacht hat. Hat es euch bisher gereizt, über Corona zu schreiben?

E: Gar nicht.

P: Nein.

B: Nein.

K: Okay, ich gestehe: Ich schrieb vier Wochen lang über alle diese Paare in meinem Freundeskreis, die durchdrehten, weil die Traumhochzeit nicht stattfinden kann. Ich glaub, ich bin sogar auf 110 Seiten gekommen und dann habe ich alles gekübelt, weil es mir richtig peinlich war.

E: Hast du es gekübelt, weil du dir gedacht hast, dass es eine uninteressante Geschichte ist, oder weil es gerade so viele machen?

K: Beides, zum einen, weil ich das Gefühl hatte, dass das Genre explodieren wird und ich nicht machen will, was alle machen und zweitens bin ich keine Journalistin. Ich kann nur über Dinge schreiben, die abgeschlossen sind, die nicht noch in der Entwicklung begriffen sind. Das war auch der Grund, warum ich mit euch darüber reden wollte, weil ich einfach merke, weil ich noch nicht verstehe, was gerade passiert. Außerdem verstecke ich mich seit Jahren vor einem Projekt, das ich schreiben möchte, aber wahnsinnig Recherche-intensiv ist, weil ich dafür Esperanto lernen muss. Das Corona-Buch war wahrscheinlich ein Versuch, das Lernen aufzuschieben. Was habt ihr denn in diesem Jahr gemacht?

P: Heftig geschrieben, zwei Bücher und ein Spiel mit 50 Rätselkarten.

K: Wäre das anders gewesen, wenn 2020 nicht 2020 gewesen wäre?

P: Nein, weil ich es ihnen schon vorher zugesagt habe.

E: Ich habe auch nichts anders gemacht, nur ein paar Vorträge wurden abgesagt.

K: Konntet ihr euch im Endeffekt mehr auf die Arbeit konzentrieren?

E: Ich war gerade in einer Intensivschreibphase und dachte, ich könnte mich viel besser aufs Buch konzentrieren, weil ich nicht 15 Mal zu Vorträgen nach Deutschland musste. Aber letztendlich konnte ich das nicht so gut, wie ich gedacht hätte, weil man durch die Sache schon ein bisschen abgelenkt war. Ich bin nach Jahren wieder jeden Abend vor der »Zeit im Bild« gesessen.

P: Ich habe am Anfang jede von den Pressekonferenzen angeschaut.

B: Ich hatte im März ein sechs Monate altes Baby und habe in einer absoluten Parallelwelt gelebt, das war herrlich. Ich war jeden Tag zehn Kilometer mit meiner Tochter spazieren. Ich glaube nicht, dass mein Leben ohne Corona anders gewesen wäre, dem Baby ist die Pandemie ja egal. Mich hat interessiert, wie sich die Stadt verändert.

K: Wer von euch hat Klopapier gehamstert?

B: Nein, null, weil ich gedacht habe: Was ist das für ein Blödsinn? Wenn es hart auf hart kommt, können wir alle duschen.

E: Eine Packung hat man meistens eh zu Hause rumliegen, damit kommt man zumindest eine Zeit lang aus.

K: Mir ist tatsächlich an dem Tag das Klopapier ausgegangen und das war eine bittere Situation. Andere Frage: wie ist denn das mit der Einsamkeit? Wir haben ja alle keinen Job, der uns zwingt, mit anderen Menschen zu verkehren und jetzt sind meine sozialen Kontakte wirklich wenig geworden. Wie geht es euch damit?

E: Klar, während dem Lockdown war das sehr reduziert, aber in dem Augenblick, wo es wieder aufgegangen ist, war ich schon zwei Wochen weg und dann haben wir wieder ein normales Leben aufgenommen. Das einzige, was ich halt nicht mache, ist, Vorträge zu halten und dann mit irgendwem an der Bar herumzuhängen, aber Freunde treffen hat sich bei mir nicht wirklich geändert.

P: Mir ist aufgefallen, dass man immer mit denselben Leuten redet, man hat die Familie und dann vielleicht zwei Freunde, mit denen man »whatsappt« und regelmäßig Kontakt hat. Mir ist aber aufgefallen, dass nach zwei Wochen, die Alltagsgespräche weg waren. Dass man sich mit Leuten, die man nicht kennt, kurz unterhält. Irgendwas fehlt mir da im normalen Umgang mit Menschen.

B: Am Beginn war die große Angst, man sprach kaum mit Leuten, eine Höflichkeit aus Nichtwissen, wie gefährlich das ist. Als es hieß, Babys seien Virenschleudern, versteckten sich Menschen in Hauseingängen, wenn wir vorübergingen. Andererseits kommt man mit Menschen ganz anders ins Gespräch, wenn man zum Beispiel älteren Leuten was vom Einkaufen mitbringt. Meine Nachbarn waren so dankbar und glücklich. Aber diese Solidarität war ziemlich schnell wieder verflogen.

K: Bei mir im Haus wars genau das Gegenteil, wir haben einen Nachbarn, der hat schon seit Jahren das Hobby, aus dem Fenster zu schauen, ob jemand sich kurz auf seinen Parkplatz stellt, und dann sofort die Polizei zu rufen. Der hat sich im Lockdown ein anderes Hobby angewöhnt, er steht den ganzen Tag vor dem Billa und beschimpft die Eltern, wenn sich Kinder an die Maske greifen. Der lebt dafür! Wir haben ja den Donaukanal vor der Haustüre, viele junge Leute oder Familien, die auf beengten Verhältnissen leben, gehen dort spazieren. Die Wiener Blockwarte riefen die Polizei, aber es ist trotzdem immer mehr geworden. Bald sah man sogar Fahrräder mit den Kühltaschen, die Bier verkauften, und am Schluss gab es fliegende Händler, die Aperol Spritz, Gin Tonic, Zigaretten und Knabberzeugs verkauften. Unglaublich, wie schnell ein eigener Wirtschaftszweig entstand.

E: Diese Situation funktioniert ja als Brennglas und Verstärker, nicht?

B: Das war am Anfang auch meine These, dass man in so einer Situation noch einmal verstärkt sieht, wie jemand ist. Absolut interessant war, dass ich bis vor Corona zu 95% voraussagen konnte, wie die Leute auf politische Ereignisse reagieren. Bei Corona war das plötzlich komplett anders, komplett andere Zugangsweisen, komplett andere Positionierungen.

E: Es hat sich auch verstärkt, was man in den letzten Jahren speziell in den sozialen Medien und in den ganzen öffentlichen Diskursen mitgekriegt hat: Dass die extreme Unhöflichkeit, die hier Platz gefunden hat, stärker wurde und dass sich manche Leute, vielleicht aus Frust, getraut haben, alles rauszulassen, was sie sich bis dahin nicht getraut haben. Die Leute werden unberechenbar, sie verlieren die Nerven oder denken, dass ihre Zeit gekommen ist, weil es jetzt eh schon egal ist.

P: Es war auch spannend zu sehen, was für ein riesengroßes Publikum man für Verschwörungstheorien gewinnen kann. Ich denk mir immer: Die richtig guten Romanplots sind die von den Verschwörungstheorien.

E: Bei vielen Menschen weiß man ja, dass die nicht erst jetzt plötzlich Verschwörungstheoretiker werden, die waren das immer schon, nur jetzt trauen sie sich plötzlich. Das ist noch einmal ein Schub mehr, diesem ganzen Müll zuhören zu wollen.

K: Ich habe beobachtet, dass da viel Einsamkeit ist und eine gewisse ökonomische Verzweiflung, weil die Krise ein Brennglas ist, sie verstärkt alles. Die vorher schon Schwierigkeiten hatten, durchzukommen, kommen jetzt gar nicht mehr durch, die vorher schon einsam waren, sind jetzt sehr einsam.

E: Die, die vorher schon reich waren, sind jetzt noch reicher.

B: Aber das ist es nicht nur, das betrifft auch AfD-Wähler, Trump-Wähler, etc., und das sind ja nicht immer nur arme Leute. Im Gegenteil, das hat andere Motive. Das Problem ist ja nicht, dass Menschen irgendeinen Schwachsinn glauben, sondern dass sie ihn glauben wollen.

P: Ich glaube, das sind Menschen, die eine Erklärung suchen oder einen Schuldigen haben wollen.

K: Mir ist noch was anderes aufgefallen: Ganz oft sind Leute, die für diese Theorien zugänglich sind, diejenigen, die uns noch vor ein paar Jahren erklärt haben, sie könnten auch Bücher schreiben, wenn sie wollten. Bzw. ihre Lebensgeschichte wäre Stoff für zehn Romane. Mir scheint: Es hat etwas zu tun mit der gefühlten Bedeutung des eigenen Ichs.

E: Die Ich-Zentrierung ist da sicher ganz wichtig. Man will in der Gesellschaft eine Stimme haben, die man im Leben nicht hat. Und dann vertritt man obskure Ideen.

B: Das ist ein heikles Gebiet, das stimmt auf der einen Seite, aber auf der anderen Seite sollte man auch eine eigene Meinung haben dürfen. Es ist auch ein großes Problem, dass man dann sehr schnell als Verschwörungstheoretiker abgestempelt wird. Jede Verschwörungstheorie hat einen Kern von Wahrheit. Sonst würde sie nicht funktionieren.

P: Verschwörungstheorie wird über alles darübergestülpt, was einem nicht passt? Ich glaube, es braucht schon gewisse Parameter, damit es sich als Verschwörungstheorie qualifiziert.

B: Wenn es aber zum einzigen großen Abwertungsbegriff wird, zurecht oder zu Unrecht, ist das schon problematisch. Natürlich ist vieles davon kompletter Blödsinn.

K: Ihr habt beide dieses Jahr ein Buch herausgebracht, habt ihr dabei die Krise bemerkt?

B: Lesungen sind weniger, aber immerhin gibt es noch Veranstaltungen, nur kann in der Regel bloß ein Drittel der Leute kommen, die sonst kommen könnten.

P: Mein Buch ist tatsächlich eine Woche, bevor die Buchhandlungen zugesperrt haben, erschienen. Das Timing war ganz großartig. Mit den Zahlen ist es immer noch einigermaßen gegangen, aber man spürts auf jeden Fall. Die Leute haben halt völlig andere Sachen gekauft und nicht einen Krimi, der auf einem Friedhof spielt.

K: Mein Buch, das schon ein Jahr alt ist, wurde dafür im Frühjahr relativ häufig gekauft. Ich habe in den Buchhandlungen nachgefragt, und die haben mir erzählt, dass sie totale Probleme damit haben, Neuerscheinungen zu verkaufen. Die Leute haben eher das gekauft, was sie schon kennen, was ihnen jemand empfohlen hat. Das ist ein Sicherheitsdenken.

E: Man möchte wohl lieber etwas Vertrautes nehmen in so einer Zeit, etwas, das sich schon ein bisschen bewährt hat. Abenteuer sind eh grade genug, da braucht man nicht auch noch ein neues Buch, wo man nicht weiß …

K: Ich hatte in der Zeit des Lockdowns drei Interviewanfragen zum Thema: »Frau Kaiser, wie arbeitet man zu Hause?«

P: Das fand ich auch so lustig! Wie geht’s Ihnen jetzt, was hat sich an Ihrem Arbeitsalltag verändert?

E: Bei den Interviews, die bei mir auch zum Teil reinkamen, war das immer eine Frage. Da fragt man sich natürlich schon, ob der jetzt mitdenkt. Das liegt aber vielleicht daran, dass man nach wie vor ein komisches Bild von uns Autorinnen und Autoren hat. Nichten und Neffen von mir, die noch nicht im Berufsleben stehen, haben Jahre lang nicht verstanden, was ich eigentlich mache. Arbeiten kann man nur im Büro, weil alle Eltern und die Eltern im Umfeld das so machen. In der Sicht der Leute ist außerdem jeder, der ein Buch veröffentlicht hat, Millionär.

B: Bei mir ist das eher umgekehrt: Jeder, der ein Buch veröffentlicht hat, ist ein armer Schlucker.

K: Wird sich denn die Literatur durch dieses Jahr ändern, beziehungsweise der Literaturmarkt? Was die Leute schreiben, wer schreibt? Wird sich unsere kleine Insel der Seligen ändern oder wird es nach nächstem Jahr wieder so werden, wie es immer war?

E: Die Langzeitfolgen bleiben abzuwarten, und wenn die Wirtschaft jetzt noch einmal zusammenbröckelt, kann das schon noch einmal einiges bewegen. Was dann passiert, wissen wir nicht so recht. Dann könnte für vieles alles noch existenzieller schwierig werden. Was ich mich gefragt habe, ist: Was bedeutet Literatur zum Beispiel für eine Kriegsgeneration und für heutige Leser? Was ist da der Unterschied? Was für eine Literatur schreibt man für Leute, die nie Extremsituationen erlebt haben? Wir alle haben immer nur Überfluss und Wohlstand erlebt und erleben jetzt zum ersten Mal so etwas wie ein bisschen eine Krise. Da wird vielleicht interessant, ob sich etwas verändern wird, wobei ich nicht sagen könnte, was. Was für Bücher wollten Leute lesen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben? Ob das nicht andere Bücher waren, als das, was unsere Generation lesen wollte, weil sie solche existenziellen Erfahrungen nie gemacht hat? Wenn es da einen Unterschied gibt, vielleicht kommt der wieder ein bisschen raus. Aber ich würde, wie gesagt, nicht wissen, was das dann wird.

P: Ich hatte eine uralte Großmutter, die zwei Weltkriege erlebt hat, und die wollte immer nur lustige Sachen im Kino sehen. In Krisen- und Kriegszeiten hatte man immer diese heile Welt, speziell von Filmen.

B: Das war damals anders als heute. Es war eine scharfe Trennung zwischen E und U, zwischen Unterhaltung und dem Wertvollen. Wir wollen nicht daran erinnert werden, wir wollen lachen, wir wollen Romanzen.

E: Natürlich gab es auch »Draußen vor der Tür«.

B: Aber das waren zwei voneinander getrennte Welten.

P: Ich glaube, da spielt so viel rein, dass ich eine Prognose irrsinnig schwierig finde.

E: Ich würde aber nicht sagen, dass es sein wird wie nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern dass wir vielleicht wieder ein anderes Publikum erreichen können, mit dem Zweiten Weltkrieg kann man das natürlich nicht vergleichen. Es ist ja etwas völlig anderes, ob du ausgehungert in einer kaputten Stadt sitzt oder in einem Lockdown, in dem es in Wahrheit drei Vierteln der Bevölkerung immer noch ziemlich gut geht. Wenn man Leute sucht, denen es dreckig geht, dann schau nach Moria. Das ist eine Krise, eine der eigentlichen Krisen unserer Zeit, dass hier Leute behaupten, unser Land könnten nicht ein paar 100 Kinder aufnehmen.

P: Wenn man das ganze Emotionale rausnimmt, finde ich es extrem interessant, zu sehen, was Leute als unzumutbar empfinden, nämlich sich in der U-Bahn eine Maske aufzusetzen. Dass es ihnen aber völlig egal ist, wenn Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken oder im Gatsch versinken in Moria. Das ist so interessant, wie unterschiedlich Maßstäbe angelegt werden, sobald es dich selbst betrifft.

B: Ganz klassisch, wie am Anfang, es gibt kein Klopapier mehr, es gibt keine Pasta mehr oder nur noch bestimmte Sorten, die sonst nicht gekauft werden, und viele Menschen finden das unglaublich arg, was für den Großteil der Weltbevölkerung ganz normal ist oder sogar ein Luxusangebot wäre.

E: Das meine ich ja: Wir leben nach wie vor in keiner echten Krise, es ist schon eine Krise, aber sie ist nicht vergleichbar mit Krisen, die wir in Wahrheit ganz woanders sehen. Aber die Frage ist letztendlich, ob das etwas machen wird mit der Literatur. Ich glaube sowieso, dass Literatur ein aussterbendes Ding ist.

P: Ich glaube nicht, dass sie aussterben wird, ich glaube, es wird sich ausdünnen.

E: Aussterben ist übertrieben, aber es wird dünner werden. Die Konkurrenz ist so attraktiv und so groß. Wenn ich da draußen 1000 Streamingdienste habe, die mir jeden Tag jeweils fünf neue Serien vor die Nase setzen, warum soll ich dann noch ein Buch lesen?

K: Wobei wir da ja gerade in den nächsten zwei Jahren einen ziemlichen Startvorteil kriegen, weil die meisten nicht drehen konnten oder drehen können. Auf die Dauer wird das aber nichts ändern.

E: In der Buchbranche gibt es ja dasselbe Problem. Es wird momentan so gut wie nichts mehr angeboten. Einerseits könnten die Verlage ein sehr gutes Jahr haben, aber gleichzeitig dünnen sie ihre Programme aus. Das heißt, die Konkurrenz wird zwar vielleicht momentan geringer durch die anderen Angebote, andererseits möchte man momentan auch kein Debütant sein. Das ist schon einmal ein Ausdünnungssymptom.

P: Ich glaube aber, es liegt auch daran, dass sie die jetzt einfach zurückgestellt haben und gesagt haben: Nein, nicht jetzt! Weil ja das Frühjahrsprogramm sehr zurückgestaut hat. Ich glaube, dass es daran liegt und dass sich das dann wieder einpegeln wird.

K: Ein bisschen Sorge macht mir das Gefühl, dass in der Buchbranche gerade ein Generationenwechsel passiert, mit einer gewissen Mutlosigkeit auf der Verlagsseite. Man merkt immer mehr, wie Verlage versuchen, immer alles richtig zu machen, auch auf der politischen Seite, also das ist zum Beispiel wirklich eine Sorge, die ich habe. Wenn ich beobachte, was Autoren und Autorinnen vorgeworfen wird bei einem falschen Satz.

P: Ich glaube tatsächlich, dass wir in einer Art Umbruchszeit leben, weil sich die Gräben immer weiter aufmachen zwischen wohlhabend, nicht wohlhabend, gebildet, ungebildet, rechts und links. Ich glaube, dass das immer weiter auseinanderklafft und dass man jetzt merkt, dass Gespräche zwischen politisch unterschiedlich gepolten Menschen fast nicht mehr möglich sind. Wenn ich zum Beispiel zufällig mit FPÖ-Wählern an einem Tisch sitze, gehen bei mir, und das tut mir dann fast schon Leid, die Jalousien runter, weil ich mir dann denke, wenn man einigermaßen Hirn im Kopf hat, kann man das nicht, das geht nicht, die können mir auch keine Argumente bringen, die in mir Verständnis auslösen würden. Und umgekehrt wahrscheinlich auch. Ich glaube, das war vor 10 Jahren noch nicht so. Ich glaube, die Gräben gehen weiter auf und auch diese Verschwörungstheorien wären zwar vor zehn Jahren irgendwo auf fruchtbaren Boden gefallen, aber nicht so breit.

E: Naja, 9/11 hat schon auch ziemlich viele herausgelockt, ich kann mich erinnern, was ich für Diskussionen hatte mit Leuten, die ich bis zu diesem Zeitpunkt für ziemlich vernünftig und gescheit hielt. Da sind wir wieder beim Parameter für eine Verschwörungstheorie. Wie das haarklein aufgezogen wird, diese Leute machen sich ja auch viel Mühe. Diese Gräben, die aufgehen, nehme ich jetzt schon auch wahr, aber ich erlebe dasselbe wie vor 30 Jahren beispielsweise bei Diskussionen um Haider. Den haben damals schon irgendwelche Verwandten gewählt und dann hat man einfach beschlossen, diese Diskussionen nicht zu führen. Das hat keinen Sinn, vor allem mit Leuten, mit denen du weiterhin Kontakt haben willst oder musst, weil es deine Verwandten sind. Dann sprichst du das einfach nicht mehr an.

P: Früher gab es lauter politikmüde Menschen und jetzt lauter Leute, die extrem politisiert sind, viel mehr Leute, die eine politische Meinung haben.

K: Ich glaube tatsächlich, dass es immer diese Fronten gab. Dass wir es nur wirklich verlernt haben, in der man nachher noch miteinander Mittagessen gehen konnte. Heute hat man eine Harmoniepädagogik. Auseinandersetzungen werden krampfhaft vermieden.

P: Unter Freunden geht die Streitkultur noch, unter Fremden nicht mehr.

B: Heute muss man als Medium unabhängig sein, ob das stimmt oder nicht, ist eine ganz andere Frage. Früher gab’s die »Arbeiterzeitung« und das konservative Pendant, dann war das vorbei. Jetzt ist man nur mehr abhängig von denen, die ökonomisch dahinterstehen und das Medium besitzen und damit Rendite erzielen wollen. Und jetzt kommt durch Social Media die Parteipresse auf eine ganz andere Weise wieder zurück.

E: Das ist zwangsläufig wahrscheinlich ein neues Phänomen, da heute jeder mit jedem kommunizieren kann. Diese Anonymität gab es früher nicht. Die Frage ist jetzt: Wie weit diffundiert das eigentlich in die Realität hinein, dass man jetzt die Möglichkeit hat, relativ ungestraft medial jemanden anzugreifen. Das hat man früher nämlich auch getan, nur am Stammtisch oder am Dorfplatz. Nur halt nicht in der Breite. Ich bin nicht ganz sicher, ob es so etwas anderes ist als früher. Die Skalierung ist eine ganz andere, aber die Mechanismen sind eigentlich dieselben.


Die Wiener Autorin Vea Kaiser bittet regelmäßig Kolleginnen und Kollegen ins Ristorante Rossini, um aktuelle Probleme und Entwicklungen der Literaturwelt zu diskutieren. Das vorliegende Gespräch fand im Oktober 2020 statt und wurde für die allmende von Dorothea Sichrovsky verschriftlicht.

B: Die ersten großen politischen Diskussionen meines Lebens hatte ich so mit 16, 17 unter Freunden. Die Frage auf dem Land, als die FPÖ groß wurde, war damals: Geht man zum Bundesheer oder nicht. Du bist ein Vaterlandsverräter, und wenn jemand deine Mutter oder Tochter vergewaltigen will, würdest du dann nicht mit der Waffe in der Hand … Das waren damals Diskussionen, die waren ernst, die waren unversöhnlich.

E: Der Unterschied ist vielleicht, dass man in dieser medialen Diskussion fast alle Schranken fallen lässt. Was macht man dann mit Menschen im persönlichen Umfeld, die, wenn man sich die Bemerkungen wegdenkt, eigentlich ganz nett sind?

P: Da ist es doch durchaus möglich, einen Nachmittag zu verbringen.

E: Es gibt immer noch einen ganz massiven Unterschied zwischen diesem online-Gezanke und dem persönlichen Kontakt. In dem Augenblick, wo du einem Menschen gegenüberstehst, würde ich sogar behaupten, dass man sich heute in den Diskussionen weniger den Schädel einschlägt, sondern lieber sagt: Dann gehen wir auf keinen Kaffee mehr.

K: Wir werden aber in jedem Fall weiterhin miteinander auf einen Kaffee gehen. Danke, dass Ihr Euch Zeit genommen habt.


VEA KAISER, geboren 1988 in St. Pölten, studierte Klassische Philologie (Schwerpunkt Altgriechische Dichtung) und veröffentlichte bisher drei Romane, zuletzt: Rückwärtswalzer oder Die Manen der Familie Prischinger (2019).

www.veakaiser.de


CLEMENS BERGER, geboren 1979 in Güssing, studierte Philosophie und Publizistik. Er veröffentlichte zahlreiche Erzählungsbände, Essays, Theaterstücke und sechs Romane, kürzlich erschien sein Roman Der Präsident (2020).

www.clemensberger.at


MARS ELSBERG, geboren 1967 in Wien, zählt seit seinem 2012 erschienen Thriller Blackout. Morgen ist es zu spät zu den meist verkauften deutschsprachigen Autoren. Zuletzt erschien der Thriller Gier – Wie weit würdest du gehen? (2019).

www.marcelsberg.com


URSULA POZNANSKI, geboren 1968 in Wien, schrieb zahlreiche Kinder- und Jugendbücher, die bei den Leser*innen euphorische Begeisterung auslösen. Zuletzt erschienen der Thriller Vanitas. Grau wie Asche und die Dystopie Cryptos (2020).

www.ursula-poznanski.de

106. Ausgabe der allmende – Zeitschrift für Literatur

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