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Engelsburg
ОглавлениеDer Papst war unrasiert. Ein Drei- … nein, eher ein Fünftagebart umgab sein scharfes Kinn mit einem dunklen Schatten und verlieh seinem Gesicht etwas unerwartet Aufrührerisches.
Clemens VII. hatte im Zorn vor Gott und seinen Anhängern geschworen, seinen Bart wachsen zu lassen, bis die jüngst erlittene Schmach, diese unfassbare Demütigung der Heiligen Stadt, getilgt wäre.
Sebastiano schaute fasziniert auf die mit Grau durchsetzten Stoppeln am Kinn des Kirchenoberhauptes, das in einem beinah alltäglichen Gewand auf einem Holzstuhl saß und ihn anstarrte.
Lange.
Dann erst begriff der Besucher.
Er warf sich auf den Boden und murmelte: „Heiliger Vater!“
Clemens VII. deutete mit der linken Hand an, dass der Gast sich wieder erheben könne. Seine Stimme klang hoch und schrill – und sie hallte in den zugigen Mauern der Engelsburg wider.
„Was habt Ihr da an?“
Sebastiano schaute an sich herunter, obwohl er sehr wohl wusste, was er trug. Leise, mit dem Anflug eines Lächelns, antwortete er: „Das ist die raue Uniform der Condottieri, Eure Heiligkeit. Ich bitte um Entschuldigung, dass ich es wage, in diesem despektierlichen Aufzug vor Euch zu treten, aber es schien mir die sicherste Möglichkeit, überhaupt zu Euch zu gelangen. Euer Rückzugsort ist von allen Seiten belagert, wie Ihr wisst, und nur im Gewand Eurer Feinde kam ich unerkannt durch die Stadt. Und Dank Eures tapferen Camerlengo, der mich an einer verborgenen Pforte in der Nähe des Tibers erwartete … “
Der Papst unterbrach ihn rüde. „Sagt mir Euren Namen.“
Der Besucher deutete eine Verbeugung an. „Ich bin immer der, den meine Auftraggeber brauchen. Der eine kennt mich als Magister Bolemius, der andere als Pater Dionigi, ein Dritter als Kaufmann Fabrizio und mancher sogar als Schwester Madelina, wenn es … nun, wenn es die Umstände erfordern. Aber nennt mich doch bitte Sebastiano, Heiliger Vater.“
Wieder flog ein Lächeln über seine scharf konturierten Lippen.
„Hört auf, so dämlich zu grinsen“, reagierte Clemens sofort. „Die Situation ist wahrlich ernst genug.“ Er richtete sich auf. „Habt Ihr auf Eurem Weg zu uns das Werk dieser Irren gesehen? Habt Ihr gesehen, was sie da draußen angerichtet haben?“ Er machte eine große Bewegung mit seinem Arm in Richtung Stadt.
Sebastiano nickte. Getroffen. „Verzeiht, Heiliger Vater, meine unziemlichen Grimassen. Tatsächlich gleicht Rom zurzeit einem einzigen Schlachtfeld, es ist ein Schreckensszenario, eine widerwärtige Brutstätte der Grausamkeiten, ein monströses Abbild des Purgatoriums.
Ja, ich habe das tausendfache Leid und das Elend vor Euren Toren gesehen. Es ist, als stöhne die ganze Stadt unter einem tiefen, beißenden Schmerz wegen des erlittenen Unheils. Und nicht nur das. Das abstoßende Treiben geht weiter. Denn noch immer rennen marodierende Massen durch die Straßen. Haltlos. Gierig. Und mörderisch.“ Er schluckte. Es sah aus, als zögen die verstörenden Bilder noch einmal vor seinem inneren Auge vorbei.
Leise sagte der Besucher: „Ich sah, wie eine Horde Männer auf offener Straße einer jungen Magd Gewalt antat. Wie Tiere.
Ich sah, wie Soldaten aus den Kirchen kostbaren Altarschmuck heraustrugen und zerschlugen, um ihn unter sich aufzuteilen.
Ich sah, wie ein Krankenhaus in Brand gesteckt wurde und die Siechen brennend durch die Gassen taumelten.
Und ich sah, wie Landsknechte einen Priester entkleideten und ihn zwangen, die Exkremente eines Hundes zu essen und dabei zu rufen ‚Christi Leib‘.
Das alles geschah … und es geschieht zwischen den geschundenen und ausgeraubten Toten der Schlacht, die niemand bestattet und die schon jetzt bestialisch stinken.“
Clemens war aufgesprungen. Mit einem wütenden Seufzer. „Sacco di Roma – die Plünderung Roms. So nennen sie das unmenschliche Gemetzel schon jetzt. Dabei klingt diese Bezeichnung noch wie eine Verharmlosung. Niemand, nicht einmal die üblen Vandalen, haben jemals so gehaust, wie es die unzivilisierten Barbaren Karls gerade auf den Plätzen wenige hundert Meter entfernt von hier tun. Verflucht seien sie alle.“
Sebastiano hob den Kopf. „Ich glaube nicht, dass der Kaiser dieses animalische Verhalten seiner Truppen billigt.“
Der Papst lachte höhnisch auf. „Ach! Sagt mir: Was ist das für ein schwächlicher, verachtenswerter Herrscher, der seine Untertanen so wenig im Griff hat? Der offensichtlich überhaupt nichts im Griff hat. Schaut: Erst verwehrt Karl seinen Soldaten monatelang den Sold. Dieser Trottel. Aber nicht nur das: Er lässt 24.000 Mann, ja, ganze 24.000 Mann, untätig in Oberitalien warten, dahinvegetieren – und wundert sich dann, dass diese Burschen aus lauter Frustration anfangen zu plündern. Hat ihn denn niemand gelehrt, wie man ein Heer führt?“
Der Gast machte einen vorsichtigen Schritt auf Clemens zu. „Es heißt: Georg von Frundsberg, der Befehlshaber der Truppen, wollte die Aufrührer im Heer zur Ordnung rufen, doch er erlitt dabei einen Schlaganfall. Und sein Nachfolger, Charles III., der Herzog von Bourbon, wurde beim Sturm auf Rom durch den Schuss aus einer Hakenbüchse getroffen.
Das aber bedeutet: Jetzt gibt es innerhalb der Truppen keinen Mann von Rang mehr, der in der eroberten Stadt für Recht und Ordnung sorgen könnte. Die Soldaten sind ohne Führung. Quasi haltlos. Mir scheint: Durch diese Freiheit kommen die dunkelsten Seiten in den Männern hervor.“
Leise fügte er hinzu: „Gott sei gedankt, dass es Euch, Heiliger Vater, noch gelungen ist, über den Corridoio di Borgo in die Engelsburg zu fliehen. Ich wage nicht, mir vorzustellen, was sie Euch in ihrem Wahn hätten antun können … “
„Das wage ich auch nicht. Und genau deshalb habe ich Euch hierher rufen lassen.“ Clemens presste die Worte mehr hervor, als dass er sprach.
„Genau deshalb. Ihr bringt es nämlich auf den Punkt. Diese ungezügelten Rotten würden nicht einmal davor zurückschrecken, ihre dreckigen Finger gegen den Papst zu erheben. Sie haben jegliche Scham und jegliche Achtung verloren. Und warum?“
Er schaute Sebastiano fragend an. „Weil dieser infernalische Raubzug da draußen anders ist als alles, was die ehrwürdige Stadt Rom je erlebt hat. Ein Massaker. Weil die deutschen Landsknechte keine Ehrfurcht mehr kennen. Wie Ihr richtig beobachtet habt. Sie sind völlig enthemmt. Ja, sie ergötzen sich daran, die heiligsten Dinge zu entweihen. Sie haben den Respekt vor der Kirche und vor Gott verloren. Diese elenden Hunde … und wisst Ihr, wer daran schuld ist? Wer? Muss ich es Euch sagen?“
Der Papst zog die Nase hoch, als wolle er gleich ausspucken. Dann warf er den Namen voller Verachtung in den Raum: „Luther. Martin Luther. Hört Ihr? Dieser vermaledeite Mönch ist allein dafür verantwortlich, dass die Menschen das Heilige neuerdings verspotten und mit Füßen treten. Dass sie Gott und seine Vertreter auf Erden nicht mehr mit dem nötigen Respekt behandeln. Dass sie schamlos die Reliquien der Heiligen zerstören.“
Clemens trat an eine der Fensteröffnungen. Alle Muskeln angespannt. Angefüllt mit Hass. „90 Prozent der Kunstschätze Roms wurden in den letzten vier Tagen zerstört. Könnt Ihr Euch das vorstellen? 10 Millionen Dukaten zerstört, schätzt der für Finanzen zuständige Kardinal. 10 Millionen Dukaten. Aus Bosheit vernichtet. In völliger geistiger Umnebelung.
Und wisst Ihr, was die Plünderer in die Fresken Raffaels geritzt haben, in diese edelsten aller Kunstwerke? In das Fresko der Disputa in der Stanza della Segnatura haben sie zum Beispiel geschrieben: ‚Es lebe König Karl. Luther.‘
Und in der Villa von Agostino Chilli, dem Haus meines Bankiers, haben sie auf die Wand geschmiert: ‚Was soll ich schreiben und nit lachen, die Landsknechte haben den Papst laufen machen.‘“
Clemens drehte sich mit einem Ruck wieder zu seinem Gast. „Glaubt mir, kein wahrer Katholik würde sich jemals so vermaledeit verhalten, wie es die irregeleiteten Lutherischen gerade tun. Nein, kein Katholik, und sei er auch noch so empört darüber, dass ich mich mit der Liga von Congnac gegen Kaiser Karl gestellt habe. Dabei ging es nur um Politik, in diesem Kampf aber geht es um die wahre Demut Gott gegenüber.
Ich sage Euch: Was da draußen geschieht – diese Plünderungen, Vergewaltigungen und die mutwilligen Zerstörungen – das ist eine Schande für das menschliche Geschlecht und für den Glauben an Christus. Ich weiß es nur zu gut: Es sind die Lutherischen im Heer Karls, die meine kirchlichen Würdenträger öffentlich demütigen und die die geweihten und edlen Monstranzen wie einen alten Kochlöffel behandeln. Sie machen aus diesem grauenhaften Krieg eine … ja, eine Schande. Und darum … “
Er setzte sich wieder hin. Schwer atmend. „Darum habe ich entschieden, das Übel bei der Wurzel zu packen. Wir müssen diesen Luther, den ich – das gebe ich offen zu – lange unterschätzt habe, viel zu lange, in den Griff bekommen. Ihn lahmlegen. Und zwar ein für alle Mal. Er muss vernichtet werden. Versteht Ihr, was ich meine?“
Sebastiano neigte den Kopf zur Seite und räusperte sich kurz. Dann antwortete er: „Verzeiht, Heiliger Vater. Aber habt Ihr nicht schon durch die Exkommunikation dieses Mannes und durch die bei Karl erlangte Reichsacht, die ihn vogelfrei macht, alles getan, was in Eurer Macht stand?“
Der Papst ließ verächtlich seine Lippen ploppen. „Ihr unterschätzt offensichtlich die Mächte des Himmels, Sebastiano. Und die Macht des Papstes. Passt auf: Diesem Luther ist es gelungen, eine fixe, von wirren Vorstellungen durchdrungene Idee in die Köpfe der Menschen zu pflanzen. Und mit der Bannbulle und der Ächtung haben wir ihn nur zum Märtyrer gemacht. Leider.
Nein, wir müssen ihn, seine Person und damit indirekt seine Lehre, lächerlich machen. Wir müssen der ganzen Welt zeigen, dass er diese ach so theologischen Hirngespinste nur ersonnen hat, um seine allzu menschlichen Begierden zu befriedigen. Seine banalen Sehnsüchte. Seine … was weiß ich. Das sollt Ihr ja herausfinden. Findet etwas in seinem Leben, die Achillesferse des Dr. Luther … “
Seine Augen waren glasig geworden. Seine Brust hob sich vor Erregung. „Wie der vermeintliche Held Siegfried wird auch dieser deutsche Ketzer eine Stelle haben, an der man ihn verwunden kann. Eine Blöße. Und Ihr sollt sie mir offenbaren. Ich will alles über ihn wissen, einfach alles. Wann er Blähungen bekommt, wie man ihn in seiner Heimat wahrnimmt und warum er mit diesen Humanisten herumhängt. Ich will ihn endlich verstehen. Weil man seinen Gegner nur besiegen kann, wenn man ihn gut kennt. Also: Beschafft mir möglichst viele Informationen.“
Ganz sachlich fügte er hinzu: „Stimmt es, dass Ihr fließend Deutsch sprecht?“
Sebastiano nickte. „Mein Vater war Italiener, meine Mutter Deutsche. Sie lehrte mich schon in Kindertagen, ihre Sprache zu beherrschen.“
„Nun, wenn dem so ist und wenn es stimmt, was man über Eure Talente als … als Löser spezieller Probleme … berichtet, dann wird es Euch ein Leichtes sein, das Vertrauen von Luthers Gefährten zu gewinnen und sie auszuhorchen. Hakt nach, verbeißt Euch in sein Leben, zerrt die dunkelsten Gelüste dieses Mannes ans Licht! Befragt sein Gesinde, seine Freunde, seine Feinde und seine Verwandten. Wenn nötig, verstellt Euch, verkleidet Euch, bezirzt den Zeugen, oder droht ihm mit der Hölle … ganz egal … wenn es nur Ergebnisse bringt … und vor allem: Tut es schnell. In wenigen Wochen erwarte ich Euren Bericht … “
Er kniff die Augen zusammen.
„Wir müssen die Gunst der Stunde nutzen. Jetzt gerade stöhnen auch viele der Herrscher, die uns nicht wohlgesonnen sind, über die unfassbaren Gräuel, die in Rom geschehen. Und das kann uns in die Hände spielen.“ Er machte eine theatralische Pause. „Lasst uns schauen, ob wir nicht den Sacco di Roma noch in einen Triumph verwandeln können. Ob nicht aus dem Horror da draußen ein Sieg für die Kirche werden kann.“
Sebastiano senkte seine Stimme. Sanft bemerkte er: „Das wird einiges kosten, Heiliger Vater. Denn ich kann eine solche Aufgabe nicht alleine vollbringen. Ich werde weitere Agenten anwerben müssen, die mir zuarbeiten und ebenfalls Befragungen anstellen. Vermutlich bedarf es darüber hinaus immer wieder kleiner und größerer Bestechungsgelder. Schnelle Pferde werde ich brauchen … und noch vieles mehr … “
Der Papst hob die Hand. „Um all das wird sich mein Camerlengo kümmern. Und glaubt mir: Dieser Auftrag wird Euer Schade nicht sein. Ich fordere von Euch schließlich nicht weniger, als die Geschichte der Welt umzuschreiben. Möglicherweise wird dieses Jahr 1527 in die Historienbücher eingehen. Nun: Das hat seinen Preis. Dessen bin ich mir wohl bewusst.
Von euch will ich jetzt und hier nur eines wissen: Seid Ihr, wenn ich Euch als Gesandten nach Wittenberg schicke, einer solchen diffizilen Aufgabe gewachsen?“
Sebastiano musste nicht nachdenken. Gelassen antwortete er: „Ja, Heiliger Vater.“
Schon zwei Wochen später hatte der neue päpstliche Gesandte nach einem Eilritt die Dübener Heide vor den Toren Wittenbergs erreicht und dort innerhalb weniger Tage eine Gruppe von Männern zusammengestellt, die er auf bestimmte Zielpersonen ansetzte. Sie alle erhielten den Auftrag, ihre Gespräche schriftlich festzuhalten und sie in einem Monat in Gelnhausen im Kinzigtal im Gasthaus „Zum Löwen“ abzuliefern.