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Federleicht

Tiamat, meine geliebte Gefährtin,

Du sanfter Wind von den Hängen des Zagros,

sprudelnde Quelle meiner Lebenslust

und Erfüllung meiner stärksten Sehnsucht,

ich schreibe Dir, weil Du Dich weiterhin weigerst, mit mir zu sprechen. Darum: Tu mir bitte den Gefallen und lies diesen Brief bis zum Ende, damit Du verstehst, wie es zu alldem gekommen ist.

Zuallererst: Es tut mir so leid. Vergib mir! Und lass mich möglichst bald in unser Haus zurückkehren. Auf den Straßen tuscheln sie nämlich schon: „Melchior musste sein Heim verlassen, weil Tiamat getobt hat.“ Was sollen die Leute denn bloß denken? Wir beide waren doch immer so glücklich zusammen.

Nun: Ich kann verstehen, dass Du wütend bist. Ja, ich war lange weg. Zu lange. Viel zu lange. Wochen. Nein, Monate. Einige Monate sogar. Aber deswegen musstest Du mich bei meiner Rückkehr wahrlich nicht so anfauchen. So voller Wut und Abscheu.

Und ja, wie Männer so sind, hatte ich gehofft, dass Du mich am ersten Abend nach meiner Reise zärtlich auf unser Lager ziehst, damit ich das, was sich in der langen Zeit an Wollust in mir angestaut hat, in unserer Umarmung verströmen kann. Da hatte ich mich wohl geirrt.

Und ja, ich habe das Gold, das wir für Notfälle aufgespart hatten, mitgenommen und es in der Fremde einem Säugling geschenkt. Vielleicht hätte ich das nicht gleich zu Beginn meines Berichts erwähnen sollen. Aber Du hast mich ja leider nicht ausreden lassen, sonst hätte ich Dir erklären können, was es mit diesem Kind auf sich hat und warum ich das tun musste.

Oder bist Du wirklich nur deshalb so aufgebracht, weil ich Dir keine teuren Geschenke mitgebracht habe? Könnte das sein? Nun, ich weiß, wie sehr Du Geschenke liebst. Edelsteine, feine Stoffe und kostbare Salben. Und als ich Dir mein … wie soll ich es nennen … Mitbringsel in die Hand gedrückt habe, da hast Du es nur verächtlich auf den Boden geworfen und laut herumgebrüllt. Zutiefst erschüttert.

„Eine Feder? Du warst eine Ewigkeit weg, und die einzige Gabe, die Du für mich hast, ist eine lausige Feder? Und noch dazu so eine winzige! Wenn es wenigstens Federn von einem Strauß oder einem Pfau wären …. Aber dieses kleine Ding da … Wo hast Du das denn aufgelesen? Mehr bin ich Dir nicht wert? Verschwinde, ich will Dich in unserem Haus nicht mehr sehen. Raus!“

Tiamat. Ich muss Dir erzählen, was es mit dieser Feder auf sich hat. Und hoffe, dass Du mir dann vergeben kannst und mich wieder in Frieden annimmst. In unserem Haus, in Deinem Leben und in Deinen Armen.

Gerade fällt mir ein, dass Du schon bei unserem Aufbruch sehr erbost warst und mich mehrfach zur Rede stellen wolltest: „Was hast Du gesehen? Ein Zeichen? Im Westen? Melchior, bitte! Du bist Wissenschaftler. Ein Forscher. Du glaubst an Zahlen und Messungen. Erzähl mir nichts von irgendwelchen überirdischen Zeichen. Und selbst wenn es wahr wäre, dass dieser … dieser leuchtende Stern, den du entdeckt haben willst, die Geburt eines Königs der Juden ankündigt: Was geht es dich an? Du bist kein Jude, und du glaubst nicht an den Gott der Juden. Warum, verdammt noch mal, musst du quer durch die Wüste reisen, um dieses Kind anzubeten?“

Was hätte ich Dir antworten können? Dass ich noch niemals ein derart eindeutiges Signal am Firmament habe erstrahlen sehen? In all den Jahren meiner Studien. Wie einen Wegweiser. Dass es hier möglicherweise nicht um einen gewöhnlichen König ging, sondern um … ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll … um einen Gesandten des Himmels.

Ich sehe Dich jetzt direkt vor mir, wie Du noch immer Deinen Kopf schüttelst.

Aber meinen Kollegen war es ähnlich ergangen wie mir. Kaspar und Balthasar. Sie hatten einen Drang verspürt, nein, vielmehr einen Sog. Es war so gewesen, als hätte dieses Himmelszeichen einen kraftvollen Sog ausgeübt, dem wir drei nicht widerstehen konnten. Wir sollten, nein, wir mussten dorthin reisen. Warum? Ich weiß es nicht. Aber wir alle hatten den Eindruck: Wenn wir diesem Zeichen nicht folgen, dann versäumen wir etwas unvergleichlich Kostbares. Das, was einem Menschenleben seinen Sinn verleiht.

Ja, ich habe nicht auf Dich gehört und Dich einfach so zurückgelassen. Bin trotzig mit den beiden anderen aufgebrochen. War es das? Hast Du Dich all die Tage meiner Abwesenheit so über meinen Eigensinn gegrämt, dass am Tag der Heimkehr einfach all der Zorn herausbrach, der sich in Dir gesammelt hatte? Als zöge man vor einem Bewässerungskanal das Brett weg? War die kleine weiße Feder nur der Auslöser für eine viel größere Enttäuschung, die in Dir tobte? Aber lass mich erst berichten, wie es uns erging.

Nach vielen mühseligen Wochen auf den Kamelen erreichten wir Jerusalem, die alte Hauptstadt des jüdischen Reichs, die heute zur römischen Provinz Judäa gehört. Und natürlich wandten wir uns dort, nachdem wir unsere Tiere in der Karawanserei untergestellt hatten, direkt an den Hof des jüdischen Herrschers.

Wo sonst sollte ein zukünftiger König zur Welt kommen, wenn nicht bei Hofe? Begeistert fragte Balthasar die anwesenden Würdenträger: „Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern gesehen.“

Schweigen!

Herodes, so heißt der amtierende Regent, starrte uns nur erschrocken an. Er wusste nichts von einem Kind. Oder von einem Stern. Und schon gar nichts von einem neuen König der Juden. Selten habe ich im Antlitz eines Menschen so viel Angst und Verwirrung gesehen. Was für eine verstörende Situation. Wir standen da, noch immer staubig, und fragten den König nach der Geburt seines Nachfolgers. Was ihm erkennbar nicht gefiel.

Kurz darauf hatte Herodes all seine Weisen und Schriftgelehrten um sich versammelt. Die Priester und Berater. Den ganzen Hofstaat. Würdige Männer in kostbaren Gewändern. Und die vermeldeten nach stundenlangem Studium ihrer heiligen Schriften: Ja, ein solcher König sei tatsächlich angekündigt. Doch wenn, dann käme er gewisslich in dem kleinen Ort Bethlehem zur Welt. Der Stadt des verehrten Vorfahrens David.

Da blitzte es in den Augen des Herodes, und er sagte mit weicher Stimme: „Ihr Sterndeuter aus dem Morgenland. Zieht ihr zuerst zu diesem Kind. Und wenn ihr es gefunden habt, dann sendet mir einen treuen Boten, damit ich ebenfalls dorthin reisen kann, um ihm zu huldigen.“

Kaum hatten wir den Palast verlassen, da wurde mir klar, dass es unsere eigensinnigen Vorstellungen gewesen waren, die uns an diesen falschen Platz geführt hatten. Der Stern wies unmissverständlich den Weg aus Jerusalem hinaus. Aber wir hatten unsere Erwartungen über die Botschaft des Himmels gestellt. Wie so oft. Wenn wir nur nicht zu spät kamen.

Ein Stall, Tiamat. Am Ende standen wir vor einem Stall. In Bethlehem. Kannst Du Dir das vorstellen? Ein König, der in einem Stall zur Welt kommt. Doch ich wusste sofort, dass wir diesmal richtig waren. Der Stern leuchtete direkt über dem hölzernen Verschlag – und der Säugling, der in einer Futterkrippe lag, war nicht von dieser Welt. Ohne jeden Zweifel. Obwohl er genau so aussah wie alle Babys. Dieses Kind war ein Geschenk des Himmels.

Wir fielen alle drei auf die Knie. Kaspar mit einem leichten Stöhnen, weil er ja schon länger Schmerzen in der Hüfte hat. Dann beteten wir das Kind an. Den wahren König der Juden. Und mit jedem Wort, das wir sprachen, löste sich etwas in uns – eine Sorge, ein Zweifel, ein Schrecken – bis wir einander am Ende gänzlich befreit in die Arme fielen. Alle mit Tränen in den Augen. Noch nie habe ich mich so reich gefühlt wie in diesem ärmlichen Stall. Darum erkannte ich auch, dass ich unser Gold, meine geliebte Tiamat, leichten Herzens weggeben konnte. Ich hatte etwas viel Besseres bekommen: Vertrauen.

So überreichten wir den Eltern, einfachen Handwerkern aus einem Dorf namens Nazareth, unsere Geschenke und baten sie, damit dem Kind zu helfen, sein Reich in dieser Welt zu errichten. Leider sprachen die beiden nicht unsere Sprache – und anders als im Jerusalemer Palast war in dem Ort Bethlehem kein Übersetzer aufzutreiben.

Darum wusste ich anfangs auch nicht, was der Vater von mir wollte, als er mich zur Seite zog. Mit Händen und Füßen redete er auf mich ein. Und nach und nach begriff ich: Sein Name war Joseph, und er wollte sich bei uns für das Gold, den Weihrauch und die Myrrhe bedanken, die wir mitgebracht hatten.

Ja, mehr noch, er war untröstlich, dass er uns als seine Gäste nicht, wie es im Orient Sitte ist, freundlich bewirten konnte. Nicht einmal einen Schluck Wasser hatte er zu bieten. Geschweige denn etwas zu essen. Und das schien ihn ernsthaft zu beschämen.

Ich versuchte deshalb vergeblich, ihn davon zu überzeugen, dass wir keineswegs geringschätzig von ihm dachten. Aber erkläre das mal einem Mann, der dich überhaupt nicht versteht. Tatsache ist: Er blieb untröstlich.

Plötzlich aber glitt ein Lächeln über sein Gesicht. Er beugte sich nach unten, hob etwas vom Boden auf und drückte es mir in die Hand. Ein Geschenk. Eine symbolische Geste der Gastfreundschaft. Als Ausgleich für die fehlenden Speisen.

Es war … die Feder, die ich Dir mitgebracht habe. Eine Feder aus dem Stall, in dem der Friedensbote Gottes zur Welt gekommen ist.

Mit breitem Grinsen und eifrigem Nicken raunte dieser Joseph immer nur ein Wort: „Malach … malach … malach.“

Ich zuckte mit den Achseln. Was wollte er bloß von mir? Was war das für ein Ausdruck?

Da seufzte er auf und murmelte verlegen einen lateinischen Begriff, denn ich tatsächlich kannte: „Angelus … angelus.“

Und da verstand ich: Diese Feder … meine Geliebte … diese Feder ist aus dem Flügel eines Engels.

Wenn ich die Gesten dieses Mannes richtig verstanden habe, dann waren bei der Geburt des Kindes mehrere Engel im Stall zugegen. Singende Engel. Frohlockende Engel. Und einer von ihnen hat diese Feder verloren.

Achte sie also bitte nicht gering. Sie gehört vermutlich zum Edelsten, das ein Mann seiner Ehefrau von einer Reise mitbringen kann. Eine echte Feder aus dem Gefieder eines Engels!

Übrigens ist mir in dieser heiligen Nacht der Gott Israels noch persönlich erschienen. Darum habe ich auch überhaupt keinen Zweifel daran, dass das alles wahrhaft so geschehen ist. Ja, im Traum hat mir seine Stimme gesagt, dass Kaspar, Balthasar und ich auf keinen Fall erneut zu Herodes reiten dürfen, um ihm von dem Kind zu erzählen.

Daran haben wir uns gehalten.

Und sind, so schnell es uns möglich war, zurück in unsere Heimat gezogen.

In mir ist jetzt alles ganz leicht. Federleicht. So leicht wie diese Engelsfeder. Wenn auch Du mir vergeben kannst, dann wird alles gut. Heute Abend, kurz vor Sonnenuntergang, werde ich an unsere Tür klopfen. Sachte. Und hoffen, dass Du sie für mich öffnest. Dein Melchior

FABIAN VOGT

Weihnachtswundernacht 5

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