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Das Christkind im Porsche

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„Ich hoffe, der Betrag auf dem Scheck entspricht Ihren Vorstellungen, Roger. Sie haben in diesem Krisenjahr wirklich Erstaunliches geleistet. Meine Hochachtung!“ Dr. Müller-Schäring drückt ihm fest die Hand. „Sie sind auf dem Weg zum Kronprinzen unseres Unternehmens. Denken Sie noch mal darüber nach, ob Sie nächstes Jahr nicht doch mein Angebot in Anspruch nehmen und für unsere Zentrale in New York arbeiten wollen. Die Staaten machen sich immer gut im Lebenslauf.“

„Ich werde die Zeit zwischen den Jahren nutzen, um über Ihr Angebot in Ruhe nachzudenken. Herzlichen Dank für den Scheck und vor allem für das Vertrauen, das Sie in meine Arbeit gesetzt haben, Herr Direktor.“

„Feiern Sie Weihnachten bei Ihrer Familie, Roger?“

„Vielleicht den zweiten Weihnachtstag. Ich mache mir nichts aus dem Fest. Es hat für mich keine Bedeutung. Meine Freundin kommt heute aus Los Angeles, und wir machen es uns gemütlich.“

„Ich wünsche Ihnen frohe Weihnachten und ein erfolgreiches neues Jahr.“

„Danke gleichfalls!“

Roger greift nach seiner Aktentasche und seinem Mantel. Vom Weihnachtsmarkt tönt das Lied „Alle Jahre wieder“ zu ihm herüber.

Alle Jahre wieder? Für mich ist immer nur ein Jahr entscheidend: nämlich das Geschäftsjahr. Alles andere interessiert mich nicht. Hauptsache, mein Bonus stimmt. Christkind, Krippe, Gott und Jesus. Wenn ein Kind in einem Stall zur Welt kommt, dann kann das doch nur ein Loser werden, geht es Roger durch den Kopf.

Am Eingang der Tiefgarage sitzt ein Obdachloser. „Haste ’nen Euro für mich? Ist doch Weihnachten!“

„Bin ich das Sozialamt? Verschwinde, das ist ein privates Parkhaus, oder ich lasse den Ordnungsdienst anrücken!“

Roger sucht in seiner Manteltasche nach seiner Keycard, um das schwere Metallrollo zu öffnen. In Reihe sechs steht sein schwarzer Porsche, brandneu und absolut heiß. Ledersitze, Alarmsicherheitssystem, Doppelkupplung. Er öffnet die Beifahrertür, um seine Aktentasche auf den Sitz zu legen, als er die Bescherung sieht. Auf dem hellen Ledersitz liegt ein Säugling. In eine große Stoffwindel gewickelt, schaut das Kind den fremden Mann erstaunt an. „O Gott! Was ist das denn?“ Roger ist wie vom Blitz getroffen. Wie kommt ein Kind in sein verschlossenes Auto?

Er sieht sich um. Hastig läuft er die Garage ab, ob irgendjemand zu entdecken ist. „Hallo! Ist da wer? Ich hab’s! Der Penner hat mir das Balg ins Auto gelegt.“ Roger läuft zum Ausgang der Tiefgarage, aber der Obdachlose ist verschwunden.

„Brauchen Sie Hilfe, Herr Kreienbaum?“ Charly, der Mann vom Sicherheitsdienst, hat ihn auf seinem Kontrollbildschirm entdeckt.

„Charly, hören Sie. War heute Morgen zwischen 8.00 und 13.00 Uhr außer unserem Personal irgendjemand in der Tiefgarage?“

„Nein. Mir ist nichts Außergewöhnliches aufgefallen. Ist etwas mit ihrem Auto? Ist etwas daraus gestohlen worden?“

„Nein, schauen Sie, ich habe etwas dazubekommen.“

Als Roger die Wagentür öffnen will, hört er, dass der Säugling weint.

„Das da habe ich gefunden.“

Charly, selbst Vater von drei Kindern, sieht erstaunt auf das kleine, weinende Bündel. „Ich wusste gar nicht, dass Sie ein Kind haben, Herr Kreienbaum“, lächelt er.

„Das ist nicht mein Kind. Irgendwer hat es in meinen Wagen gelegt.“

„Nehmen Sie es doch mal heraus, und dann gucken wir, ob es eine Nachricht mit sich trägt und ob es ein Mädchen oder ein Junge ist“, schlägt Charly vor.

„Wie fasst man so ein Teil denn an?“

„Ich zeig es Ihnen!“ Charly nimmt den Säugling auf den Arm. Vorsichtig öffnet er die Windel. „Nun, es ist ein kleiner Junge. Ich denke, etwa drei Monate alt, und wenn ich mir die Windel und Ihren Ledersitz angucke, stelle ich fest, dass er dringend eine trockene Hülle braucht.“

„Um Himmels willen. Es hat auf meinen hellen Ledersitz gemacht. Das kriege ich nie wieder raus. Charly, können Sie das Kind nicht mit nach Hause nehmen? Ich gebe Ihnen Geld, so viel Sie wollen, und Sie und Ihre Familie machen sich damit ein schönes Weihnachtsfest.“

„O nein, Herr Kreienbaum. Unsere Jüngste ist gerade sechs Monate und schläft endlich durch. Meine Frau schmeißt mich raus, wenn ich heute, am Heiligen Abend, mit einem fremden Schreihals vor der Tür stehe. Da, nehmen Sie den Jungen, und bringen Sie ihn von mir aus zur Polizei. Vielleicht wird schon nach dem Kind gesucht.“

Charly legt Roger das Kind in den Arm. Der warme Urin der vollen Windel durchdringt den sandfarbenen Kaschmirmantel. „So eine Schweinerei. Warum schaffen sich Leute nur Kinder an?“ Unbeholfen löst er das Kind aus der Windel und wickelt es in eine Rettungsdecke ein. „Ich bring dich jetzt zur Polizei, und dann sollen die für dich sorgen.“

„Was sollen wir denn mit dem Kind?“, fragt der junge Polizist ungehalten. „Hier liegt keine Vermisstenanzeige vor. Wir können noch die Krankenhäuser überprüfen, wer da vor etwa drei Monaten ein Kind bekommen hat, aber Frauen, die ihre Kinder aussetzen, wovon wir in Ihrem Fall erst mal ausgehen, die entbinden meistens heimlich. Außerdem, schauen Sie sich mal seine Hautfarbe und die schwarzen Locken an: Mit Sicherheit ist das ein ausländisches Kind.“

„Können Sie es nicht in ein Kinderheim bringen? Ich habe keine Ahnung von Babys.“

„Das lernt man schnell“, sagt eine junge Polizistin, die mit dem Säugling aus dem Nebenzimmer kommt. „Ich habe den Kleinen frisch gewickelt, mit dem, was ich noch so gefunden habe. Ich habe Ihnen aufgeschrieben, was der kleine Spatz isst und was Sie an Windeln und Pflegemitteln brauchen. Der Drogeriemarkt am Bahnhof hat jetzt noch geöffnet. Nach Weihnachten melden Sie sich bei uns, dann geht der Fall weiter ans Jugendamt.“ Behutsam legt sie den Kleinen in Rogers Arme. „Frohe Weihnachten. Sie kriegen das schon hin mit Ihrem Christkind!“

Voll bepackt mit Tüten und Windelkartons erreicht Roger seine Penthouse-Wohnung. Schweißgebadet legt er das Kind auf das Schafsfell vor den offenen Kamin und fällt erschöpft auf die Couch. Auf seinem Anrufbeantworter sind mehrere Nachrichten von seiner Freundin Melanie: „Hallo, mein Schatz, bin schon in New York und in wenigen Stunden bei dir. Holst du mich am Flughafen ab?“ Wenn du wüsstest, denkt er und sieht nach dem Säugling, der unzufrieden zu weinen beginnt. „Pst. Es müssen nicht alle im Haus erfahren, dass du da bist. Hast du Hunger? Gut. Ich probier das mal mit der Flasche.“ Als die erste Flasche nach einer halben Stunde fertig ist, ist die schwarze Lackküche von der Babynahrung weiß bepudert, Roger hat das zweite Glas Whisky getrunken, und das Kind ist in Tränen aufgelöst. Er nimmt es auf den Arm, probiert einen Schluck aus der Flasche. „Ist nicht zu heiß, glaub ich. Na, schmeckt’s?“

Zufrieden saugt das Kind an der Flasche und Roger an seinem dritten Whisky. Mit der Fernbedienung zappt er durch das Weihnachtsprogramm. Bei einem Gottesdienst bleibt er hängen. In einer festlich geschmückten Kirche erzählt der Pastor etwas vom Kind in der Krippe, von Maria, einer jungen Frau, die unter schlimmen Umständen hilflos ihr Kind zur Welt gebracht hat.

„Vielleicht ist es deiner Mutter auch so gegangen?“ Roger schaut auf das friedlich trinkende Kind. Die Flasche ist fast leer, als er es hochhebt. „Und, hat’s dir geschmeckt?“ Er lächelt den Kleinen an. Da durchzieht ein dumpfes Grollen den Körper des Kindes und entlädt sich mit einem heftigen Aufstoßen auf Rogers Designercouch.

„Du gemeines kleines Biest. Das hast du mit Absicht gemacht. Ich gebe dir zu essen, und du ruinierst mein Leben.“ Wütend legt er das Kind wieder auf das Schafsfell und beginnt mit der Beseitigung des Desasters, bis das ungehaltene Weinen des Kindes erneut um seine Zuwendung ringt. Aus der Windel strömt ein unerträglicher Geruch. Mit ausgestreckten Armen trägt er das Kind ins Badezimmer und öffnet die Windel.

In diesem Moment schwebt Roger zwischen Übelkeit und Ohnmacht. Mit allem Greifbaren macht er das Kind sauber. Im Waschbecken badet er es in seinem Armani-Duschbad. Fröhlich planscht der Kleine in einem Meer aus duftendem Schaum. „Wenn du nicht so einen Stress machen würdest, wärst du ein nettes Kerlchen.“

Nach der zehnten Windel und großen Mengen Paketband scheint der Kleine endlich müde zu sein. Roger trägt ihn in sein Bett. Er ist am Ende seiner Kraft und seines 25 Jahre alten Malt. Mit dem Kind im Arm schläft er der Heiligen Nacht entgegen.

Gegen ein Uhr wird er durch ein lautes Poltern geweckt. Verschlafen steht er auf. Geblendet vom Licht, steht Melanie vor ihm. Schön, blond und unglaublich zornig.

„Was ist hier los? Warum hast du mich am Flughafen nicht abgeholt? Ich habe dir endlos viele Nachrichten auf dein Handy geschickt. Und wie sieht das hier aus?“

„Schatz, lass dir erklären …“

„Pfui Teufel, du hast getrunken. Roger, schau mich an! Was ist passiert?“

Vom hysterischen Geschrei wach geworden, beginnt der Säugling zu weinen. „Was winselt denn da? Hast du eine Katze im Schlafzimmer?“

„Nein, es ist viel schlimmer. Komm, setz dich, ich erklär dir alles“, schlägt Roger vor. „Erst will ich wissen, was das ist.“ Melanie schiebt ihn zur Seite und geht ins Schlafzimmer. „Was ist das denn?“

Roger ist hinter ihr hergegangen. „Das Kind hat heute in meinem Auto gelegen. Ich weiß nicht, wie es dort hineingekommen ist, glaub mir. Die Polizei sucht bereits nach der Mutter. Melanie, ich bin so froh, dass du da bist. Ich schaffe das nicht alleine mit dem Kind.“

„Das hast du dir ja fein ausgedacht. Die Polizei sucht nach der Mutter, ja? Du weißt genau, von wem dein Kind ist, und jetzt hat sich die Mutter entschlossen, dass du es aufziehst, und mir willst du es unterjubeln.“

„Melanie, glaub mir doch. Das Kind ist nicht von mir. Ich bin nicht der Vater.“

„Ich bin deine fadenscheinigen Erklärungen satt. Da sitze ich zehn Stunden im Flieger, freue mich wahnsinnig auf dich, und du hast ein Kind von einer anderen.“ Roger weiß, was immer er ihr jetzt sagen wird, es wird das Falsche sein.

„Warum glaubst du mir denn nicht? Gemeinsam kriegen wir das doch hin.“

„Vielleicht – aber nicht heute. Ich rufe mir ein Taxi und fahre zu mir nach Hause. Wenn das Kind weg ist, kannst du mich anrufen.“

Als Melanie die Tür zuwirft, ist nicht nur das ganze Haus, sondern auch das Kind hellwach. Flasche, Windel, Armani, Strampelanzug. Diesmal schon ohne Whisky, ohne Brechreiz und ohne Paketband.

Diese Heilige Nacht ist kurz und schlaflos, der Morgen beim Anblick von Cremeschlacht und halb verdauten Milchresten eher ernüchternd. Rogers Nerven liegen blank, in seinem Kopf hämmert der 25 Jahre alte Malt. Beim Frühstück vor dem Fernseher weckt ein Beitrag über ein Kinderheim in Bethlehem sein Interesse. Freiwillige Helfer sorgen sich dort um Kriegswaisen. Gestern noch hätte er sofort den Sender gewechselt, nun lauscht er gebannt den Worten des Mannes, der eines der Waisenkinder auf dem Arm hält.

„Kinder sind ein Wunder. Sie verändern unser Leben. Das Kind in der Krippe hat unser aller Leben verändert. Gott ist nun unser Vater, und wir alle sind seine Kinder. Helfen Sie uns, und werden Sie Pate eines seiner Kinder!“

Ergriffen von dem Bericht, hört er erst nach mehrmaligem Klingeln das Telefon. „Guten Morgen, Roger. Ich wünsche dir frohe Weihnachten und wollte hören, ob du heute zum Essen zu uns kommst?“

„Mama.“ Roger beginnt zu weinen.

„Was ist mit dir, Junge?“

„Du glaubst nicht, was in den letzten 24 Stunden passierst ist“, schluchzt er in den Hörer.

„Komm einfach nach Hause, und erzähle uns alles in Ruhe!“ Roger duscht, packt alles zusammen für sich und das Kind. Liebevoll wickelt er es in eine Wolldecke und legt es in die Babytragetasche, die er gestern am Bahnhof einer Frau abgekauft hatte.

Während der Fahrt fällt Rogers Blick des Öfteren auf das Kind neben ihm, das friedlich schläft. Was hast du nur mit mir angestellt? Vor seinen Augen wird das Bild der Autobahn zur Straßenszene Bethlehems, greifen Kinderhände nach ihm. Eine Frau hält ihm ihren Säugling entgegen, dessen kleines Gesicht ihm merkwürdig bekannt vorkommt.

Zu Hause ist alles liebevoll weihnachtlich geschmückt. Seine Eltern nehmen ihn in die Arme. Nach langer Zeit ist er selbst wieder Kind, kein erfolgreicher Manager, kein trickreicher Jongleur von Zahlen und Statistiken.

Im großen Wohnzimmer steht der Tannenbaum, darunter die Krippe mit den alten Holzfiguren aus Kindertagen. Irgendwie scheinen sie ihm heute näher denn je. Roger und seine Eltern setzen sich an den Kamin, und er beginnt seine Geschichte zu erzählen. Als er fertig ist, nimmt seine Mutter den Säugling auf den Arm und wiegt ihn liebevoll hin und her. „Egal, woher es kommt. Jedes Kind verdient Liebe und ein Zuhause.“

„Möchtest du ein Glas Whisky? Ich habe hier einen schönen alten Malt …“, fragt Rogers Vater ihn.

„Nein, danke, Vater.“

„Und, mein Sohn? Was macht die Karriere? Geht es nächstes Jahr nach New York?“

„Nein. Ich glaube, nächstes Jahr geht es nach Bethlehem.“

HANNELORE SCHNAPP

Weihnachtswundernacht 5

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