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Seines Vorteils wegen will der Bürger das Recht, das ihm zugleich als Beschränkung entgegentritt; mit seinem Nutzen muss er also auch seinen Verzicht wollen: Moral. Er rechtfertigt seine Unterwerfung unter die Gewalt, die ihm schadet, mit dem Ideal dieser Gewalt und ergänzt den ihm auferlegten Zwang durch seine Tugend. So gehorcht er nicht nur dem Gesetz, er hat auch eine rechtliche Gesinnung, die ihn seinen Gehorsam ertragen lässt. Alle seine Handlungen misst er am Ideal der Rechtschaffenheit, und weil er in der Verfolgung seiner Vorteile seine Pflichten beständig verletzt, tut er dies mit schlechtem Gewissen. Die Gewohnheit des dabei erreichten Vorteils mag ihn die Beurteilung seines Tuns als Gut oder Böse vergessen lassen, das Urteil anderer bringt sie ihm beständig in Erinnerung, ebenso wie er selbst den anderen gegenüber als schlechtes Gewissen fungiert: öffentliche Heuchelei. Hier gelingt der moralischen Betätigung der eindrucksvolle Nachweis, dass das Gute nur Schein ist, und als Ideal die besten Dienste leistet, weswegen ein Idealist derjenige verächtlich genannt wird, der die Ideale zu praktizieren sich anschickt. Während die Bürger ihrer Jugend gestatten, gewissen Idealen anzuhängen – sie sind sich sicher, dass die harte Welt des Erwerbs auch die Begeisterung für die Ideale in die schlichte moralische Funktionalisierung derselben für den Eigennutz verwandelt –, wird ihnen der Moralismus Erwachsener zum lästigen Charakterzug. Einem Erwachsenen Idealismus bescheinigen heißt daher stets auch, ihn der Realitätsblindheit, -untüchtigkeit bezichtigen, was auch gegenüber Kommunisten üblich ist, solange sie keine Gefahr darstellen.

Die Moral ist also alles andere als ein überflüssiges Beiwerk im bourgeoisen Zirkus, sondern die Versubjektivierung des Zwangs, auf den man um des eigenen Erfolgs willen eingeht, die Einstellung, die man benötigt, um mit dem Verzicht, den der Erfolg fordert, zurechtzukommen. Sie überdauert sogar längere Perioden, in denen sich partout kein Fortkommen abzeichnet, und erweist sich als ihrem Zweck gemäß auf der Sonnen-wie auf der Schattenseite der Gesellschaft. Den einen dient sie als willkommene Ergänzung ihres Vorteils – légèrement verkünden sie, dass ihnen um Höheres zu tun sei, mit Sprüchen über das Gute, Wahre sowie Schöne; den anderen bietet sie in ihren vulgären Formen Trost angesichts ihres Elends; und beiden Seiten ist sie praktizierte Enthaltsamkeit in Sachen Veränderung.

So nimmt es nicht wunder, dass in der modernsten aller Gesellschaften radikale Kritik im Moralismus ihrer Adressaten eine harte Nuß zu knacken hat, und dies nicht nur im Moralismus als theoretischem, als Form des falschen Bewußtseins. Die Ideale des Altruismus, der Bescheidenheit, der Ehrlichkeit, des Mitleids, der Nächstenliebe etc. zu praktizieren, drängt es das Volk, von der Näherin bis zur Präsidentengattin; und alle tragen ihr Scherflein zur Krebshilfe bei; in der Aktion Sorgenkind kann man dasselbe mit dem Anreiz eines möglichen Gewinns tun. Sie versammeln sich in Vereinen zur organisierten Verdummung und Verwahrlosung der Jugend, in dem festen Glauben, hier hätten sie Gelegenheit zu dem, was ihnen das normale Leben versagt: Gemeinsamkeit der Zwecke mit anderen, Solidarität, Freundschaft – sie kompensieren den Zwang zur Konkurrenz gegen andere mit der widerlichen Vereinigung auf Basis ihrer Ideale, selbst dann, wenn sie ihr Idealismus weitere Opfer kostet.

Die Religion nimmt bei alledem den ersten Rang ein. Das Christentum ist von Marx als dem Kapitalismus entsprechende Religion bezeichnet worden. Der Kult des abstrakten Christenmenschen praktiziert die Vorstellung von Gott als dem obersten allmächtigen Richter, dem man so gut wie alles verdankt, von dem man andererseits auch nichts geschenkt bekommt – außer der Gnade, auf sich als Erbsünder höllisch aufpassen zu dürfen. Jeder sündigt, bekennt sich reumütig dazu und spielt sich ganz bescheiden als Richter über die Taten anderer auf. Kleine Unterschiede sind auch bei dieser Form der „geistigen Unterwerfung“ in der Gemeinde Christi nicht zu übersehen: die einen predigen und erziehen anderen die gebotene Moral an, was ein echter Beruf geworden ist – die anderen machen sie sich zueigen, und ihre Heuchelei auf dem Felde christlicher Maßstäbe nimmt eher amateurhafte Züge an. Der neben dem Materialismus der kapitalistischen Gesellschaft praktizierte Idealismus der Religion kann die schwindende Botmäßigkeit der Menschen – die aus der Kirche austreten, weil diese sich nicht auf die theoretische Propaganda der Moral beschränkt, sondern aus dem Glauben ihrer Gemeinde die Vorschrift zu weltlichem Engagement gemacht hat; der mangelnden Attraktivität säkularisierten Glaubens entspricht die Einmischung der Institution quasi als Interessenverband – umsomehr verkraften, als der Staat im christlichen Krankenpfleger und Jugendpfarrer längst die nützliche Seite des Glaubens entdeckt hat und Kirchensteuer verlangt. Der Eifer christlicher Caritas gestattet ganz nebenbei den Haß gegen Leute zu erwecken, die weder tierlieb sind noch praktisch den Fortbestand des bürgerlichen Elends unterstützen, indem sie die anderen abverlangten Opfer um ihr eigenes bereichern.

Der bürgerliche Staat

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