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Reiseanleitung Unterwegs zur kollektiven Handlungsfähigkeit Sabine Gruber
ОглавлениеDie Reihenfolge der Artikel bildet die Ideengeschichte unserer Arbeits- und Lebenswelten ab, wie sie sich im wissenschaftlichen Diskurs widerspiegelt. Zu Beginn möchte ich »Grundannahmen zu Arbeit und Wohlstandsverteilung« der weiteren Lektüre voranstellen und einen Überblick über die zentralen Wirtschaftstheorien geben, weil sie durch ihren unmittelbaren Einfluss auf die Politik und die Realwirtschaft unsere Gesellschaft prägen. Zu ihnen zählen die Nationalökonomik, wie sie im 18. Jahrhundert begründet wurde, der klassische Liberalismus und die Schulen der neoklassischen Theorie sowie die marxistische Kritik an der Politischen Ökonomie. Die heute dominierende Wirtschaftsphilosophie ist der Neoliberalismus; im öffentlichen Diskurs und bei den politischen Maßnahmen vermischen sich unterschiedliche theoretische Begründungen, weshalb die Kenntnis der Argumentationslinien eine Voraussetzung darstellt, um ihre Wirkungen beurteilen zu können – beinhalten sie mehr vom Gleichen, die Festschreibung von Ungleichheiten (wie sie der kapitalistischen Produktionsweise geschuldet ist), oder haben sie emanzipatorischen, systemüberwindenden Charakter. Ich diskutiere die Theorien hinsichtlich ihrer Antworten, die sie auf historische und aktuelle Krisenerscheinungen geben. Dabei wird deutlich, dass die klassischen Theorien aus ihrer Logik heraus keine befriedigenden Lösungen entwickeln können, im Gegenteil, oft verstärken sie die Ursachen und damit auch die Symptome (wie z. B. Arbeitslosigkeit). Der Artikel bleibt nicht nur abstrakt, sondern ich stelle auch den Zusammenhang zu den von uns erlebten Umbrüchen am Arbeitsplatz, steigender Arbeitslosigkeit und Abbau von Sozialleistungen her. Der Frage, wie wir die kapitalistischen Produktionsverhältnisse überwinden können, sind die folgenden Buchbeiträge gewidmet. Sie führen von den historischen Anstrengungen der Arbeiterbewegung über die Kritik der Feministinnen hin zur Vier-in-einem-Perspektive und zu unserem gesamtheitlichen Zugang; denn Produktionsverhältnisse sind immer auch Gesellschaftsverhältnisse und lassen sich nicht einseitig ökonomisch kurieren, sondern müssen gemeinsam analysiert und gelöst werden.
Bernd Röttger beschreibt die Geschichte der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung von ihrer Entstehung bis heute. Jede Form der kapitalistischen Arbeitsorganisation ist über unfreie Lohnarbeit organisiert, auch wenn das Bild des homo oeconomicus Wahlmöglichkeit suggeriert. Daher ist der Kampf um die Befreiung der Arbeit genauso alt wie die Lohnarbeit selbst. Nach einzelnen Errungenschaften (wie z. B. Kollektivlöhne und Arbeitszeitregelung) muss er aber ein Scheitern in den großen Fragen (z. B. Eigentumsrechte) diagnostizieren. Die Frage nach der Befreiung der Lohnabhängigen durch die Aneignung der Produktionsmittel stellt sich bis heute. Nur weil die Forderungen alt und unerfüllt sind, ist ihre Sinnhaftigkeit nicht überholt; sie stellen sich lediglich unter neuen Prämissen einer deindustrialisierten und prekarisierten Arbeitnehmerschaft, die mit den Krisen des Kapitalismus einhergehen. Röttger betitelt seinen Artikel daher »Wege in die Befreiung der Arbeit«. Dafür leitet er die immer noch gültigen Fragen nach Demokratisierung, Eigentum, Reform und/oder offensivem Arbeiterkampf von Klassikern der Gesellschaftskritik (Karl Marx, Rosa Luxemburg, Antonio Gramsci) her und projiziert sie in die Zukunft. Die Zitate der alten Klassiker muten uns heute befremdlich an, für ein tieferes Verständnis der Machtverhältnisse und Krisenindikatoren sind sie aber lesenswert und aktuell wie eh und je.
Keine/r der Autorinnen und Autoren kennt den Kampf der Gewerkschaften so gut wie Stephan Krull. Als ehemaliger Betriebsrat und aktiver Gewerkschafter wirft er einen kritischen Blick auf die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. Als die neoliberal geprägte Politik auch über die deutschsprachigen Länder schwappte, wurden die Gewerkschaften empfindlich geschwächt und ihre Aktivitäten auf Tariflohnverhandlungen beschränkt. Die Trends sind aber nicht eindeutig und müssen differenziert gelesen werden. Krull beschreibt aus seiner Innenerfahrung die paradoxen Entwicklungen innerhalb des VW-Konzerns, wo Innovationen (die 4 Tage-Woche, die Zeit für andere Lebensbereiche eröffnet und mit der es praktische Erfahrungen gibt, und Mitbestimmung) und Verschlechterungen (Stellenabbau, Leistungsverdichtung und Lohnsenkung) fast zeitgleich passieren. Bemerkenswert ist, dass die Automobilbranche zwar weiß, dass sie »Dinosaurier« produziert, die weder ökologisch noch wirklich praktisch sind (Staus etc.), dass sie aber nicht davon ablässt/ablassen kann, sich mit mehr vom Gleichen aus der Krise retten zu wollen: mit neuen Automodellen. In seinem Artikel »Aus der arbeitspolitischen Defensive zur Befreiung der Arbeit?« skizziert Stephan Krull nicht nur die verschlungenen Wege der Gewerkschaften vom Klassenkampf zur Sozialpartnerschaft und zurück, er gibt auch Anknüpfungspunkte für einen Ausstieg aus der unökologischen Dinosaurier-Produktion hin zu einer Produktion umweltfreundlicher öffentlicher Transportmittel – eine Maßnahme gegen die drohende Arbeitslosigkeit beim Zusammenbruch einer zentralen Wirtschaftsbranche, aber keine Antwort gegen den systeminhärenten Wachstumszwang.
»Die Arbeit der ›Anderen‹« kam weder in den klassischen Theorie vor, noch war es im Interesse der herrschenden Klassen, sie sichtbar zu machen, da man ihr sonst Bedeutung und damit Geld zuerkennen hätte müssen. Alexandra Weiss enttarnt hinter dem ökonomischen Kalkül die strategischen Verflechtungen mit sexistischen und rassistischen Ideologien, die strukturelle Ausschlusskriterien wie Naturgesetze erscheinen lassen. Erst die feministische Frauen- und Geschlechterforschung richtet die Aufmerksamkeit auf die Gräben zwischen männlichen Familienernährern und weiblichen Zuverdienerinnen, die bis heute nicht geschlossen sind. Darüber hinaus erweitert sie die Perspektive um die Zuwanderer – Arbeiter »zweiter Klasse« – und um die Nord-Süd-Ungleichheit. Die Lösung liegt für Alexandra Weiss nicht in bewusstseinsbildenden Maßnahmen, sondern in der ökonomischen Gleichstellung (d. h. Chance auf einen Arbeitsplatz und gleiche Bezahlung). Vor dem Anspruch der Emanzipation diskutiert sie auch ein Grundeinkommen als Anerkennung gesellschaftlich notwendiger Arbeit. Wenn mit einem Grundeinkommen aber nicht an den Herrschaftsverhältnissen gerührt wird, bleiben Frauen weiterhin vor die Frage gestellt, ob sie lieber mehr vom Staat oder von einem Ehemann abhängig sein wollen. Da weder das eine noch das andere eine akzeptable Lösung ist, plädiert Weiss für den Ausbau eines staatlichen, nicht auf Gewinn ausgerichteten Dienstleistungsbereiches. Solange die kapitalistische Produktionsweise nicht überwunden ist, wird die Schaffung bezahlter Arbeit für Frauen nämlich eine Rolle spielen, wenngleich sie keine Überwindung der Produktionsverhältnisse darstellt – ein Paradox, dessen Auflösung uns noch weiter beschäftigen wird.
Johanna Riegler stellt die Fixierung unserer Arbeitsgesellschaft – mehr Arbeit würde mehr Wohlstand bringen – auf den Kopf. Sie bezieht sich auf Hannah Arendts genaue Differenzierung menschlicher Tätigkeitsformen um zu zeigen, dass nicht alles, was nicht Arbeit heißt, Nichts-Tun sei. Sie räumt mit der Unterscheidung »Die Faulen und die Fleißigen …« auf und zeigt, wie nicht zuletzt durch die Kirchen Moralvorstellungen forciert wurden, die Arbeit letztlich zum Selbstzweck des modernen Menschen und sinnentleert werden ließen. Diese Moralvorstellungen sitzen sehr tief und hindern uns daran, verfestigte Muster und eingefahrene Konfliktlinien aufzubrechen. Zwischen lebendiger und entfremdeter Arbeit ist ein Urwiderspruch auszumachen, den Riegler vor der Prämisse diskutiert, dass eine Teilaufhebung der Entfremdung, also die Identifikation mit dem Arbeitsplatz, Selbstverwirklichung und Flexibilisierung, der Profitspirale des Kapitalismus durchaus dienlich sein kann. Sie macht auch darauf aufmerksam, dass die Trennung in bezahlte und unbezahlte Arbeit (wie sie sich mit der Politischen Ökonomie der industrialisierten kapitalistischen Gesellschaftsform herausgebildet hat) zwar eine Ungleichbewertung zwischen Produktion und Reproduktion, Männern und Frauen herstellt, darüber darf aber nicht vergessen werden, dass auch die Gewinnverteilung zwischen denen, die in den Produktionsprozess integriert sind, immer ungleicher verläuft. Das Faktum, dass trotz permanenter Produktivitätssteigerung nie so viele Menschen im Elend leben mussten wie heute, unterstreicht die Schwächen des kapitalistischen Systems. Johanna Riegler endet mit der ruinösen Eigendynamik zwischen Überfluss und Mangel, die eine reiche Gesellschaft das Sparen entdecken lässt – zynischerweise bei den vermeintlichen »Sozialschmarotzern«.
Eine, die bereits sehr weit gegangen ist und an vielen der Konfliktlinien weitergedacht hat, ist Frigga Haug. Sie fasst für uns noch einmal ihren Weg zur Vier-in-einem-Perspektive (4in1) zusammen, der sie von ihrer Forschungstätigkeit zum Thema Erwerbsarbeit sogleich zur Auseinandersetzung mit der benachteiligten Reproduktionsarbeit führte und dann – um die Verhältnisse verändern und gestalten zu können – zur logischen Notwendigkeit des Lernens (Kulturelle Entwicklung) hin zur Politik von unten. Durch ihre intensive Auseinandersetzung mit vielen Frauen (u. a. mittels Erinnerungsarbeit) beschreibt sie die Widersprüche, in denen wir uns selbst erkennen; sie lässt uns aber auch nicht einfach aus dem »Gefühlsknäuel um Arbeit« durch die Hintertür entwischen, indem wir das Recht auf Faulheit ausrufen oder uns durch ein Grundeinkommen Freiheit erhoffen. Vielmehr will sie die Produktionsverhältnisse aufbrechen, die mit den Geschlechterverhältnissen zusammenfallen und zeigt uns, dass Veränderung nur durch Selbstveränderung der betroffenen Subjekte stattfinden kann. »Die Geschichte der Vier-in-einem-Perspektive« ist daher eine »Schule des Lernens. Eine Vision von Frauen, die eine Vision für alle ist«. Die Kunst liegt für Frigga Haug in der Verknüpfung der vier Bereiche (Erwerbsarbeit – Reproduktionsarbeit – Kulturelle Entwicklung – Politik von unten) – eine Auffassung, die wir teilen und an die wir mit diesem Buch anknüpfen.
Während für die einen das Nebeneinander von 4in1 die Auflösung des Entweder-Oder ist, löst sie bei anderen die Sorge aus, das ganze Leben solle von Arbeit unterjocht werden; auch die Frage nach Lohn und/oder Existenzsicherung sehen sie zu wenig beantwortet. Da es uns darum geht, die Perspektive weiterzubringen und für praktische politische Forderungen fruchtbar zu machen, haben wir uns nicht über diese Kritikpunkte hinweg geschummelt – im Gegenteil: Wir haben sie intensiv in dem Pro und Contra-Dialog zwischen Frigga Haug und Johanna Riegler diskutiert.
Schließlich standen wir vor all diesen Diagnosen: Wir wissen sehr viel über Ursachen, Scheinlösungen und Veränderungsbedarf, notwendige Arbeit in den Kontext des Lebens zu stellen. Doch wie können wir dies befördern? Indem wir die abstrakt-theoretischen Überlegungen in breite gesellschaftliche Debatten einbringen, aus denen letztlich neue normative und gesetzlich verankerte Rahmenbedingungen erwachsen. Uns war klar, dass uns dafür die konkreten Bilder fehlen, die uns leiten können. Eine Utopielosigkeit hat sich breitgemacht in Zeiten, in denen jede Argumentation ökonomischen Sachzwängen unterliegt und sich Politikverdrossenheit allerorts zeigt. Doch wir brauchen alternative Vorstellungen von einer anderen Arbeitswelt. Wie schwer es uns fällt, diese zu entwerfen, wurde uns bei der im September 2009 abgehaltenen Utopiewerkstatt klar. Aber wir ließen nicht locker, und nach einiger harter Denkarbeit konnten wir mit Hilfe der Methode der Erinnerungsarbeit einige ideologische Konstrukte aufspüren und unsere Fantasien für Neues öffnen bzw. für die neuartige Kombination bekannter Bausteine unter der Prämisse der Zusammenarbeit statt Arbeitsteilung.
Im Gegensatz zu den vorherrschenden Bildern entwarfen wir Gegenerzählungen; diese zu beschreiben, war meine Kernaufgabe. Sie klingen in den bunten Schilderungen von Kooperativen oder vom Dumpstern an. Am Ende fasse ich Prinzipien und Rahmenbedingungen einer für uns wünschenswerten integrierten Lebens- und Arbeitswelt zusammen, wenngleich sie keine fertigen Entwürfe sind, sondern im Aushandlungs- und Entscheidungsprozess entstehen müssen. Meinen Artikel stelle ich daher unter das Motto »Wie wir leben und arbeiten wollen. Schritte von der Utopie zur Realität« und spiele damit auf die Tatsache an, dass wir es immer mit einem Weg und nicht mit fertigen Rezepten zu tun haben. Mit unseren Zukunftsvisionen werfen wir einen weiten Blick voraus; um sie zu realisieren müssen wir noch einige Voraussetzungen schaffen. Als vereinzelte Erwerbsarbeiterinnen und Erwerbsarbeiter müssen wir uns mit der Welt, ihren Menschen und der Natur (wieder-)verbinden. Wir müssen uns die Fähigkeit zur wirklichen Interaktion (zurück-)erobern und eine »Kultur des Wir« (wie Frigga Haug es nennt) stärken. Dann wird es uns auch gelingen, die naheliegenden Missverständnisse auszuräumen und Blockaden zu überwinden. Auf zwei aktuelle gehe ich näher ein: auf die Sorge, dass durch die 4in1-Perspektive alle Lebensbereiche von Arbeit im Lohnarbeitssinn vereinnahmt würden, und auf die Entweder-oder-Diskussion Lohn oder Grundeinkommen. Diese Frage ist eine Sackgasse, denn sowohl Lohn als auch Grundeinkommen führen nicht über die kapitalistische Systemlogik hinaus, die uns so viel Unbehagen in der Arbeitswelt verursacht. Wollen wir die kapitalistischen Systemzwänge tatsächlich überwinden, brauchen wir ein grundlegendes Umdenken und Übergangsmodelle, für die ich Vorschläge formuliere.