Читать книгу Nordlichter erzählen - Band II - Группа авторов - Страница 9

Rabenmutter – Marita Arndt

Оглавление

Mit raschen Schritten geht Hanne zu ihrem Auto. Gerade hat sie ihre Tochter Lisa zum Zug gebracht. Abschiede fallen ihr schwer, sie wird wieder für längere Zeit allein sein.

Hanne spürt die Tränen in ihren Augen. Sie steigt rasch ins Auto und ist froh, nun wenigstens vor den Blicken der Menschen geschützt zu sein.

„Rabenmutter“ – hämmert es in ihrem Kopf. Nicht das Wort ‚Mutter‘ mit seinem Klang wie eine Umarmung, mit seiner Aussage von Geborgenheit, Fürsorge und Wärme, sondern genau das Gegenteil. Eben Rabenmutter. Eine Mutter, die kaltherzig, lieblos und vorwiegend mit sich selbst beschäftigt ist. Die ihre Kinder vernachlässigt und ihnen nicht die Liebe und Zuwendung gibt, die sie brauchen, um zu selbstbewussten Menschen heranzuwachsen.

Hanne hatte geglaubt, Lisa hätte die Vergangenheit als Kind einer berufstätigen Mutter überwunden, denn lange Zeit ist es nicht mehr gefallen, dieses „Rabenmutter“. Wie glücklich war Hanne im vergangenen Jahr bei einem gemeinsamen Kurzurlaub, als Lisa sagte: „Mama, was du geleistet hast, das macht dir so schnell keiner nach.“

Es tat so gut, diese Anerkennung, gerade von Lisa. Hanne liegt nicht daran, gelobt zu werden. Nein, dazu weiß sie selbst nur zu genau, wie häufig sie damals überfordert, gestresst und in Zeitnot gewesen war. Aber sie hat immer ihr Bestes gegeben, um alles unter einen Hut zu bekommen. Und nun wieder: „Rabenmutter!“

Bald wird Lisa selbst Mutter sein. In etwa sechs Wochen soll die Kleine auf die Welt kommen. Das Kind war nicht geplant, denn Lisa hat das Studium noch nicht beendet und ihr Freund ist arbeitslos und scheint in vielerlei Hinsicht unzuverlässig zu sein.

Was erwartet den neuen Erdenbürger? Immer wieder muss Hanne daran denken. Und wie Christian und sie damals trotz knapper finanzieller Mittel und Einschränkungen, mit Zutrauen in die eigene Kraft und voller Freude die Kinder in ihr Leben aufnahmen.

Besorgt, aber vorsichtig hat Hanne sich auf der Fahrt zum Bahnhof bei Lisa erkundigt, ob sie sich schon über Betreuungsmöglichkeiten und die Fortführung ihres Studiums informiert hätte. Damit wurde ein Stein losgetreten, so jedenfalls empfindet Hanne Lisas Reaktion.

„Mein Kind ist noch nicht einmal auf der Welt, da soll ich es schon fremden Menschen zur Betreuung überlassen. Niemals. Du warst eine Rabenmutter, das will ich nicht sein!“

Es hat Hanne unerwartet getroffen und wohl auch, verbunden mit dem nahen Abschied, besonders stark. Dabei freut sie sich so sehr auf ihr erstes Enkelkind. Hanne hatte schon einen blauen Strampler und himmelblaue Puschen im Schrank, als ein aufgeregter Anruf von Lisa kam.

„Mama, es wird ein Mädchen. Ich freue mich so!“

Vorher hatte der Arzt einen Jungen in Aussicht gestellt.

Lisa würde die Kleine mit all dem ausstaffieren, was sie selbst nicht bekommen hatte. Kleidchen aus edlen Stoffen mit farblich abgestimmten Jacken und Schuhen und passendem Haarschmuck. Ja, auch das gehört zu Lisas Vorwurf, die Kinderkleidung immer nach Zweckmäßigkeit und dem günstigsten Preis ausgesucht zu haben. Lisa ist überzeugt, bereits in frühester Kindheit würde der Sinn für schöne Dinge geschärft.

Um ihr Kind schon vor der Geburt an Wohlklänge zu gewöhnen, hört Lisa vorwiegend Musik von Mozart und Vivaldi. Schließlich hatte ihre Rabenmutter auch darin versagt. Damals fehlte die Zeit. Es gab schon Klassikschallplatten und -kassetten, aber gehört wurden sie nur, wenn Christian, Lisas Vater, sie auflegte. Und aus dem Klavier- oder Geigenunterricht wurde letztlich nichts, weil Hanne, die Rabenmutter, zum Zwecke der Berufstätigkeit außer Haus war und keinen Fahrdienst übernehmen konnte.

So viel geht Hanne durch den Kopf, während sie immer noch in ihrem Auto auf dem Bahnhofsvorplatz sitzt. Hatte sie wirklich total versagt? Bei allem? Ihr Leben ein Trümmerhaufen? Muss sie sich eingestehen, jetzt, wo ihre Kinder erwachsen sind, dass es nicht funktioniert hat? Sind sie zu kurz gekommen und werden ihr Leben lang darunter leiden, schon früh von einer Tagesmutter betreut worden zu sein? Immer am längsten im Kindergarten warten zu müssen und bereits als Schulkinder Aufgaben im Haushalt bekommen zu haben?

Hanne lässt den Motor an. Das Radio spielt ‚Nur Steine leben lang‘ von Hans Hartz. Sie wird einen Brief schreiben an Lisa, wird ihr mitteilen, wie sehr es sie verletzt, dieses „Rabenmutter“. Warum sie sich damals für Arbeit und Kinder entschied. Dass es erst notwendig war und dann ein Stück Unabhängigkeit bedeutete. Wie glücklich sie mit ihren Kindern war und wie stolz auf sie. Aber auch, wie sie ihren Beruf liebte und wie viel Kraft und Stärke ihr dieser gab und damit doch der ganzen Familie zugute kam. Sie wird Lisa daran erinnern, dass sie in der Natur auf dem Land leben konnten und jedes Kind Tiere haben durfte. Dass sie trotz der knappen Zeit an den Wochenenden Ausflüge unternahmen und gemeinsam backten und kochten.

Sie hatte immer versucht, alles so gut wie möglich zu machen. Dass manches sich im Nachhinein als nicht optimal herausstellte, lag wohl im Risiko der Entscheidung.

Sollte Lisa tatsächlich vergessen haben, wie sie aufwachsen durfte, welche Besonderheiten und auch Vorteile ihr Leben hatte? Jetzt kann Lisa alles besser machen. Nach vorne schauen, die Schatten der Kindheit hinter sich lassen, damit sie keine Rabenmutter sein würde.

Übrigens sind Raben sehr gute, vorbildliche Mütter und Eltern, die ihre Kinder wärmen und fortwährend mit Futter versorgen. Wäre es nicht so, wären sie längst ausgestorben. Der üble Ruf der Raben hängt wohl mit der Bibel im Buch Hiob zusammen. Darin heißt es: „Wer bereitet den Raben die Speise, wenn deren Junge in hektischem Flug Gott anrufen, weil sie nicht zu essen haben?“

Vermutlich geht diese Geschichte auf junge Raben zurück, die aus dem Nest gefallen sind. Die betroffenen Tiere machen einen hilflosen, verlassenen Eindruck. Aufmerksame Beobachter werden jedoch feststellen, dass die Rabeneltern immer in der Nähe sind und die Jungtiere weiter versorgen. Sollte Hanne für sich den Grundsatz beanspruchen: Gehe mit anderen stets so um, wie du möchtest, dass mit dir umgegangen wird? Gerade Lisa hatte immer betont, wie wichtig und hilfreich dieser Satz für sie war, den sie schon recht früh von ihrer Mutter vermittelt bekam.

Hanne wird Lisa nicht mit gleicher Münze heimzahlen wollen. Manchmal ist es besser zu schweigen. Ausgesprochene Worte lassen sich nicht zurückholen. Sie können wie Pfeilwunden sein, die ein Leben lang schmerzen.

Kurz nach Christians Tod war Lisa ausgezogen, zum Studium nach Süddeutschland gegangen. Danach musste Hanne lernen, allein zu leben. Sie hatte gehofft, Lisa würde sich um einen Studienplatz in der Nähe bemühen, aber sie erkannte, wie befreiend dieser Ortswechsel für ihre Tochter gewesen war. Weg von den ständigen Erinnerungen an Krankheit und Tod in eine neue Zeit, eine andere Welt. Niemals hätte Hanne Kritik geübt. Sie freute sich für Lisa.

Bis zu Lisas Ankunft in Berlin wird noch einige Zeit vergehen.

Hanne macht sich im Garten nützlich, da ist immer etwas zu tun.

Dann der Anruf von Lisa. Sie sei gut in ihrer Wohnung angekommen. Sie erzählt von der Zugfahrt und wie sie um ein Haar wegen der Verspätung den Anschlusszug verpasst hätte.

Lisas Stimme zittert. Oder empfindet Hanne es nur so? Und dann hörte sie ein Schluchzen.

Erschrocken fragt sie Lisa: „Was ist passiert? Beruhige dich und sprich!“

Es dauert für Hanne unendlich lang, bis Lisa ein paar Worte herausbringt. „Er ist weg. Dennis ist weg. Er kommt nicht wieder.“

Eine kurze Stille, dann Hanne: „Lisa, du schaffst das.“

Nordlichter erzählen - Band II

Подняться наверх