Читать книгу Die den Weg fanden - Группа авторов - Страница 8
ОглавлениеCarmen Rohrbach
El Camino – Auf dem Jakobsweg durch den Norden Spaniens
Wind. Sonne. Einsamkeit. Weit dehnt sich die kastilianische Hochebene, die Meseta, bis zum Horizont. Selten ein Baum. Karge Wiesen und brachliegende Felder, auf denen Mohn und Ackersenf gedeihen. Vor allem aber Steine und nochmals Steine, als läge hier das Skelett der Erde bloß. Vom Rhythmus meiner Schritte getragen, verschmelze ich mit der Landschaft. Meine Sinne öffnen sich, nach innen wie nach außen. Ich denke kaum noch an das ferne Ziel – der Weg selbst ist zum Ziel geworden.
Aus der flimmernden Mittagsglut taucht die Gestalt eines Mannes auf. Schwer stützt er sich auf einen Stock, trägt einen Hut mit breiter Krempe und einen dunklen Umhang. Wie das Monument eines mittelalterlichen Pilgers steht er reglos da. Als ich mich nähere, erkenne ich, dass er eine Schafherde bewacht.
»Suerte por el camino, peregrina!«, wünscht er mir Glück und bittet: »Bete für mich in Santiago.«
Millionen Pilger im Mittelalter
»Santiago!« – das war jahrhundertelang der Ruf der Pilger im Mittelalter, ihre Sehnsucht, ihr Ziel. Im westlichsten Gebiet Spaniens sollen im Jahr 812 die Gebeine des heiligen Jakob gefunden worden sein und dort, in der Kathedrale von Santiago de Compostela, werden sie noch heute verehrt. Niemand weiß, wie viele Menschen genau in den vergangenen Jahrhunderten auf dem Jakobsweg pilgerten. Aber dass es einige Millionen waren, ist sicher. Sie kamen aus ganz Europa von Irland bis Russland, von Schweden bis Portugal, sie kamen aus allen Richtungen. Am Ende ihres langen Weges lag der Ort der Erlösung. Kranke erhofften sich Heilung, Sünder rechneten mit Ablass, Gläubige versprachen sich Reinigung und Seelenheil. Fast war der alte Weg vergessen, da beginnt seit einigen Jahren plötzlich eine Wiederbelebung. Was kann uns heute dieser jahrhundertealte Pilgerpfad noch bedeuten? Darauf mag es viele Antworten geben. Eine davon, meine persönliche, will ich versuchen hier zu vermitteln.
Der Beginn in den Pyrenäen
Dichte Laubbäume bilden ein grünes Gewölbe. Der Pfad ist steil und ermüdend. Die erste Tagesetappe gleicht einem Kraftakt: Vom kleinen französischen Grenzort St. Jean-Pied-de-Port muss man die Pyrenäen überqueren bis auf die spanische Seite. Dreißig Kilometer und 1057 Höhenmeter gilt es zu bewältigen. Unterwegs keine Raststätte, erst im Kloster Roncesvalles gibt es ein Refugio, eine Pilgerherberge.
Der Rucksack ist schwer, die Wanderschuhe drücken – ich bin noch nicht aufs Laufen eingestellt und kann mir kaum vorstellen, wie ich den 800 Kilometer weiten Weg bis Santiago schaffen soll, wo mir die ersten Schritte bereits solche Qualen bereiten.
Vom Glauben kann ich keine Stärkung erwarten, da ich in meiner Kindheit nicht religiös geprägt wurde. Warum aber pilgere ich dann? Als ich vom Jakobsweg hörte, war ich sofort fasziniert. Ich wollte die geheimnisvolle, magische Anziehung dieses Weges erfahren, erspüren, erfühlen. Warum hat er tausend Jahre überlebt? Warum sind Millionen und Abermillionen Menschen nach Santiago gepilgert? Menschen mit ihren Wünschen und Hoffnungen, ihren Sehnsüchten und Verzweiflungen. Es war mir, als würde ich die vergangenen Schatten noch sehen, ihre verstummten Stimmen hören – als sei da eine Kette von Menschen, die aus dem 9. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart reicht.
Um das Pilgern intensiv erleben zu können, bin ich allein unterwegs. Ich habe den Monat Mai gewählt und mich für den Camino Real entschieden, der durch den Norden Spaniens führt.
Ein Weg, der die Sinne öffnet
Aus den Buchenwäldern tauche ich in einer Almlandschaft auf: dem Pass von Ibaneta. Dunkelviolette Gewitterwolken drohen am Himmel. Bläuliche Bergkonturen laufen in der Ferne ineinander. Vor mir auf der Almwiese eine Schafherde. Zwei Böcke schlagen kämpferisch ihre Hörner zusammen. Ein Pilgerkreuz hebt sich schwarz gegen den Himmel ab. Hier starb der Ritter Roland im Jahr 778 bei einem Kampf. Er war mit dem fränkischen Herrscher Karl dem Großen nach Spanien gezogen, um die Stadt Zaragoza von den Arabern (Mauren) zu befreien. Der Tod des Ritters Roland wurde 300 Jahre später im Heldenlied der Rolandsage verklärt.
Als der Abend hereinbricht, erreiche ich endlich das Augustinerkloster Roncesvalles aus dem 12. Jahrhundert. Erschöpft vom Bergsteigen erkundige ich mich beim Abt nach einer Übernachtung in der Nähe. »Wenn Sie eine Pilgerin sind, können Sie in unserem Refugio schlafen«, bietet er mir an. Von ihm erhalte ich einen Pilgerausweis, mit dem ich unterwegs in Klöstern um Unterkunft bitten kann, so wie es seit alters her Tradition ist.
Am nächsten Tag führt der Pfad durch blühende Wiesen, an Hecken entlang, die von Insekten umschwirrt sind, und durch romantische Bauerndörfer. Die Menschen, denen ich begegne, begrüßen mich als Pilgerin. Alte Frauen umarmen mich, denn es soll Glück bringen, einen Pilger zu berühren. Immer wieder werde ich aufgefordert, für sie in Santiago zu beten. Sie überreichen mir sogar Münzen, damit ich sie dort in den Opferstock werfe. Es rührt mich, dass für die einfachen Leute auf dem Land der Pilgerweg noch heute eine lebendige Wurzel hat. Die herzliche Anteilnahme der Menschen gibt mir die nötige Kraft, um nicht aufzugeben. Denn ich gehe jetzt nicht mehr für mich allein nach Santiago, sondern stellvertretend für alle Menschen, die ihre Hoffnungen in mich setzen.
Stille Dörfer und belebte Städte
Vor mir liegt Pamplona, die Hauptstadt der Provinz Navarra. Pamplona ist die älteste von den Städten, die ich noch sehen werde. Die Herrscher von Navarra unterstützten das Pilgerwesen, bauten Raststätten und Hospitäler und sorgten für die Sicherhit des Weges.
Die Städte sind in Spanien vom Lärm und den Abgasen der Fahrzeuge erfüllt – ein fast schmerzvoller Kontrast zu den stillen Dörfern und der weiten Landschaft, in der man dem Gesang der Vögel lauschen kann.
Entlang des Flusstals des Río Arga gelange ich nach Puente la Reina. Ein wichtiger Ort, denn hier vereinigt sich der Weg, der über den Ibaneta-Pass führt, mit einem zweiten, der vom Somport-Pass kommt. Puente la Reina heißt »Brücke der Königin«. Die Königin Dona Mayor ließ die Brücke im 11. Jahrhundert über den Fluss Arga bauen. In vollkommener Harmonie sind die vier Bögen der Brücke so bemessen, dass sie mit der Spiegelung im Wasser einen Kreis bilden. Die Baumeister der Romanik wussten eben viel über die ideale Verbindung von Schönheit und Funktion.
Tag für Tag lege ich eine Strecke von mindestens fünfundzwanzig Kilometer zurück. Nach einer Woche habe ich Navarra durchquert und gelange nach La Rioja, wo die besten Weinsorten Spaniens an den sonnigen Südhängen des kantabrischen Gebirges gedeihen.
Der Weg ist das Ziel
Das nächste große Etappenziel heißt Burgos, die Hauptstadt Altkastiliens und die Heimat von El Cid, dem spanischen Nationalhelden aus dem Mittelalter. Mit seiner gotischen Kathedrale ist Burgos von weitem sichtbar. Seit fünfzehn Tagen (inklusive drei Ruhetagen) bin ich unterwegs und habe die Hälfte der Strecke zurückgelegt, aber das Ziel erscheint mir so fern, dass ich kaum daran denke. Was ich auf dem Weg sehe und erlebe, erfordert meine ungeteilte Aufmerksamkeit.
Burgos liegt hinter mir, und der Pfad führt nun durch die tischebene Landschaft der Meseta mit Feldern bis zum Horizont. In der heißen Luft entfaltet sich köstlicher Duft von Gewürzkräutern, die am Wegrand gedeihen. Der Himmel scheint in der Meseta der Erde näher zu sein. Tiefblau hängt er über dem leuchtenden Gold der Kornfelder. Lerchen steigen jubilierend zu den weißen Wolken hinauf. Bei Frómista, immer noch in der Provinz Kastilien, erwartet mich eine Überraschung: ein Kleinod der spanischen Romanik, die Basilika San Martin. Dreihundert rätselhafte Figuren schmücken die Dachsparren: Dämonen, Tiermenschen, mystische Symbole, deren Bedeutung wir heute nur noch zum Teil verstehen.
Wenige Kilometer später die eigenartige Kulisse von Villalcazar de Sirga. Bauernhäuser ducken sich im Schatten einer imposanten Kathedrale. Früher muss Villalcazar eine bedeutende Ortschaft gewesen sein, reich geworden durch den Menschenstrom auf dem Jakobsweg.
Im dunklen Gewölbe einer Gaststätte treffe ich andere Pilger. Sie kommen aus Spanien, Frankreich, Holland, Italien, einer sogar aus Polen. Ihre Motive sind verschieden, aber die meisten haben eine bestimmte Lebensetappe abgeschlossen und wollen sich während der Pilgerzeit besinnen und neue Kräfte sammeln. Ich freue mich über solche Begegnungen in Herbergen und Raststätten und tausche gern Erfahrungen aus. Tagsüber jedoch bin ich lieber allein unterwegs, um in die Natur, ihre Weite und Stille einzutauchen.
Regenreiches Galicien
Zum Rabanal-Pass windet sich der Pfad steil hinauf. In 1500 Meter Höhe bläst eisiger Wind, sogar einige Hagelkörner prasseln herab. Noch einen dritten, den vom Cebreiro-Pass, gilt es zu überwinden, dann gelange ich nach Galicien und bin dem Ziel schon nah. Aber diese letzte Provinz wird zu einer harten Probe.
Die gelben Farben der Kornfelder sind verschwunden. Alles ist nun üppig grün und tropft. Galicien ist wie ein Schwamm, der die Feuchtigkeit aus den Wolken aufnimmt. Es regnet tagelang ohne Unterlass. Der Weg verwandelt sich in einen Bachlauf. Nebelfetzen und Wolkenschleier verhängen das Land. Eines Nachmittags, fast drei Wochen bin ich bis hierher unterwegs gewesen, stehe ich auf einem Hügel, dem Monte de Gozo »Berg der Freude«. Unter mir im Tal liegt eine große Stadt: Santiago de Compostela! Das Ziel!
Der Freudenrausch nach langer Pilgerschaft ist seltsam gedämpft, am liebsten würde ich immer weiter wandern. Lange stehe ich vor der Kathedrale und betrachte dieses Orgelwerk aus Stein. Sie war es, die das Denken und Hoffen der Pilger im Mittelalter bestimmte. Hier nahm das Phänomen der Pilgerfahrten im 9. Jahrhundert seinen Anfang und endete in einer gewaltigen Massenbewegung, die ganz Europa erfasste. Der Einfluss auf alle Lebensbereiche des Abendlandes: Baukunst, Literatur, Musik, Wirtschaft und Politik wirkt bis heute weiter.
Für mich ist der Weg noch nicht zu Ende. Ich wandere weiter bis ich nach 80 Kilometern an der Atlantikküste stehe. Hier soll der Leichnam des heiligen Jakob an Land gebracht worden sein. Am Kap von Finisterre schaue ich übers Meer. Wie mag es den Menschen des Mittelalters zumute gewesen sein, für die die Welt hier wirklich zu Ende war, die nicht wussten, dass hinter dem Horizont Amerika liegt?
Es gibt viele Wege nach Santiago, so viele, wie Menschen unterwegs sind. Jeder wird seinen Weg finden und eigene Erfahrungen machen. Es kommt nur darauf an, den ersten Schritt zu wagen.
*