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Charmeur

Lucky

Gisela Gersch-Gernoth

Der Winter will und will nicht weichen. Seit meine Hündin Paula vor drei Jahren verstorben ist, gehe ich eher selten spazieren. Jeder Weg lässt Erinnerungen wach werden und füllt mein Herz mit Trauer. In der warmen Jahreszeit benutze ich nun lieber das Fahrrad, um mich zu bewegen – aber bei Kälte? Der Winterspeck wächst und wächst. Die Bequemlichkeit flüstert mir verführerische Worte ins Ohr und ich lasse mich zu gern überzeugen. Doch jetzt reicht’s. Ein Ruck geht durch meinen Körper, der Vorsatz ist gefasst. Und als die Temperaturen wieder aus dem Minusbereich geklettert sind, ziehe ich meine Joggingschuhe an und greife zu den Nordic-Walking-Stöcken. Es ist ja nicht so, als gäbe es sie nicht. Ordentlich hängen sie in der Garage an einem Haken, stets griffbereit.

Nachdem ich den Wald verlassen habe, der immer durchquert werden muss, will man sich von unserem Hof aus nach Norden entfernen, wähle ich einen Weg, der über kleine Straßen führt und mir auf diese Weise ein wenig Abwechselung bietet, mich aber dennoch später an diesen Ausgangspunkt zurückbringen wird. Ich komme an einzelnen Häusern und Höfen vorbei und entdecke immer etwas Neues: hier ein frisch gestrichener Zaun, dort eine Forsythienhecke, deren Blüten das nahe Öffnen andeuten. Die Unterstände auf einer Pferdeweide werden ausgebessert.

Nach dem Überqueren einer stillgelegten kleinen Eisenbahnlinie empfängt mich ein lärmendes Hundegebell, das das „Klack, Klack“ meiner Stöcke auf dem Asphalt übertönt. Ich höre die Stimmen zweier Hunde, die lauter werden, als ich am ersten Hof linker Hand vorbei gehe. Doch sie selbst bleiben unsichtbar. Auf dem angrenzenden Grundstück sitzt ein Border Collie am Zaun, völlig unbeeindruckt von den Nachbarhunden und von mir. Er bleibt ganz ruhig. „Hallo, guten Morgen, du Schöner, “ begrüße ich ihn. Sein Blick folgt mir. Kurze Zeit später höre ich ein müdes „Wuff“. Der alte Schäferhund vom Hof auf der rechten Seite liegt auf der Bank neben der Haustür, hebt seinen grauen Kopf und blinzelt mich an. „Ja, bleib nur ruhig liegen, ich will dich gar nicht stören, “ rufe ich ihm zu. „Bis zum nächsten Mal.“

Ich folge der Straße noch einige Meter und biege links in einen Anliegerweg, an dessen Ende dann mein Rückweg beginnen wird. Die Häuser hier haben wunderschöne Gärten, in denen die Frühlingsboten Scilla, Krokus und Traubenhyazinthe mit ihren unterschiedlichen Blautönen meinen Blick einfangen. Auch eine schmale Weide zieht sich am Weg entlang, auf der ein kleiner Holzstall Zwergschafen Schutz bietet. Ich unterhalte mich mit ihnen, während sie mich hinter dem Zaun ein Stück begleiten. Sie rufen „Määh“ und ich antworte in ihrer Sprache, wieder und wieder. Und sie schicken mir noch den ein oder anderen Ruf hinterher, als ich schon fast die letzte Etappe meines Weges erreicht habe. Hier hat unser örtlicher Dachdecker seinen Betrieb. An der Hofzufahrt zeigt das Firmenschild den Oberkörper eines Mannes, der durch eine Lupe auf ein Dach schaut. Die Ähnlichkeit mit Sherlock Holmes ist nicht zu verkennen – eine gute Werbung, denn bei den großen Dachflächen auf Scheunen und Ställen ist Detektivarbeit von Nöten, um ein Leck zu finden.

Weiter geht’s „Klack, Klack“ zum Hof mit der Hausnummer 22, die in einen großen Findling eingemeißelt ist. An diesem Stein haben Ben, der dort lebende Schäferhund, und Paula einander Botschaften hinterlassen, wenn die beiden sich nicht begegneten. Bei dieser Erinnerung muss ich seufzen. Wie alt mag Ben jetzt sein? In Gedanken versunken ziehe ich weiter, an kleineren Häusern vorbei, bis die Kreuzung auftaucht, hinter der der Wald beginnt. Plötzlich überholt mich ein junger Schäferhund, etwa fünf Monate alt. Freudig springt er an mir hoch. Ich bin überrascht und bleibe stehen. „Na sag mal, wer bist du denn?“, erwidere ich seine Begrüßung, die gar nicht aufhört, und löse einen Stock aus der Schlaufe, damit ich ihn streicheln kann. Das gefällt ihm und er drückt sich gegen meine Beine. „Wo kommst du denn her?“ Natürlich bekomme ich keine Antwort, aber ein lang anhaltendes Juchzen. Nun löse ich den zweiten Stock, beuge mich zu dem Hund hinunter und kraule ihn ausgiebig. Er vollzieht Drehungen, lässt die Vorderläufe auf den Boden nieder, streckt mir seinen Hals entgegen und scheint gar nicht genug zu kriegen von meinen Liebkosungen. Weiter, weiter, bloß nicht aufhören, signalisiert er. „Jetzt ist aber gut und du gehst nach Haus!“ Wo mag er wohl hingehören?

Als ich weitermarschiere – „Klack, Klack“ –, begleitet mich der junge Hund. Er denkt gar nicht daran, die Richtung zu nehmen, aus der er kam. Fröhlich läuft er neben mir her, verlässt nur kurz die Straße, um im Graben zu schnüffeln, dann ist er wieder da. Ich ändere meine Route, laufe zurück, vielleicht zeigt er mir ja sein Zuhause. Doch der Hund bleibt an der Stelle sitzen, an der ich umgekehrt bin. Ich gehe noch weiter in die andere Richtung, doch er bleibt sitzen. Wenn ich mich umdrehe, schaut er mich ganz ruhig an. „Na, komm schon“, scheint er sagen zu wollen und ich folge seinem Wunsch. Wieder werde ich stürmisch begrüßt und er begleitet mich weiter auf dem Weg durch den Wald. Immer wieder macht er einen kleinen Ausflug ins Unterholz, doch schnell ist er zurück, strahlt mich an und zeigt mir deutlich, dass er wieder gekrault werden möchte. Ich ziehe erneut die Stöcke aus der Schlaufe und beginne von vorn. „Du bist mir ja einer, du Strahlemann – Lucky nenne ich dich, du bist mein Lucky.“

Nach einem Kilometer öffnet sich der Wald zu Feldern und Wiesen hin. Noch gut dreihundert Meter und wir haben unseren Hof erreicht. Lucky ist weiterhin an meiner Seite. Voller Selbstverständlichkeit geht er mit mir ins Haus. „Wolfgang, wir haben einen neuen Hund“, rufe ich meinem Mann zu. Auch dieser wird begrüßt, als würde er Lucky längst bekannt sein. „Ob er wohl ausgesetzt wurde?“, frage ich, nachdem ich meine Geschichte erzählt habe. „Dann bleibt er bei uns – ich habe ihn schon in mein Herz geschlossen.“ „Schau, er hat eine Steuermarke um.“

Tatsächlich! Ich hatte noch gar nicht darauf geachtet. „Aus unserer Gemeinde, also wird er wohl eher weggelaufen sein.“ Dennoch: Ein Name oder eine Adresse sind nirgendwo zu finden. Bei einer Tasse Kaffee beratschlagen wir, wie es weitergehen soll. Lucky bekommt erst einmal einen Hundekuchen aus unserem Besuchervorrat, über den er sich ganz begeistert hermacht. Nachdem er etwas Wasser geschlürft hat, kommt er zu meinem Stuhl, legt seine Vorderbeine auf meinem Schoß ab und beleckt ausgiebig meine Knie. Ohne jegliches Anzeichen von Unruhe. Zwischendurch legt er sich unter den Tisch, um sich nach einer kleinen Weile zu erheben und strahlend zu mir zurückzukommen. Unwiderstehlich ist er! Aber leider müssen wir uns nach seinem Besitzer umschauen.

Wir beschließen, mit unserem Dachdecker zu telefonieren. Er weiß möglicherweise Bescheid, vielleicht gehört Lucky sogar zu ihm. Da Sonnabend ist, werde ich den Mann wohl hoffentlich erreichen. Und so ist es. „Ja, das muss der kleine Hund von unseren Nachbarn sein“, höre ich auf meine Beschreibung hin. „Sie haben sich nach Bens Tod ziemlich bald einen Welpen ins Haus geholt.“ Ben lebt also auch nicht mehr, erfahre ich auf diese Weise. Jeder Anflug von Trauer wird durch Lucky sofort unterbrochen. Auf Schritt und Tritt begleitet er mich. Er fühlt sich offenbar ausgesprochen wohl bei uns und würde bestimmt bleiben, doch nach gut einer Stunde kommt der alte Landwirt, um Lucky zu holen. Als Paula noch lebte, hatte er des Öfteren mit seinem Trecker die kleine Straße abgesperrt, damit Ben und Paula ausgiebig und ungefährdet miteinander toben konnten, wenn sie sich trafen, denn Ben war immer bei der Feldarbeit dabei.

Die Begrüßung zwischen Rex – so heißt Lucky, wie ich nun erfahre – und dem alten Herrn ist eher verhalten. „Er gehört ja zu meiner Tochter“, sagt er. „Die ist heute Morgen in die Stadt gefahren. Und als wir dann im Garten waren, muss Rex ausgebüchst sein. Ich habe es gar nicht bemerkt.“ Nur widerwillig steigt Rex ins Auto. „Alles Gute, Lucky!“ Wir winken ihm hinterher.

Jedes Mal, wenn ich jetzt an dem Hof vorbei gehe, auf dem Lucky wohnt, und er wieder einmal alleine draußen ist, kommt er schon von Weitem auf mich zugestürmt. Nach herzlicher und ausgiebiger Begrüßung bringe ich ihn zum Haus zurück. Dabei habe ich die Stöcke in der einen Hand und die andere an seinem Halsband, an dem jetzt auch Name und Adresse vermerkt sind. Freiwillig ist er nicht zur Heimkehr zu bewegen. Dann klingele ich, übergebe Lucky und sage zu ihm, dass er ja schon so ein großer Hund sei, der nun immer seinen Hof bewachen müsse. Lucky schaut mich zum Abschied mit großen Augen an.

Wenige Monate später treffe ich Rex mit seiner Besitzerin beim Spaziergang. Wieder begrüßt er mich stürmisch. Ich wechsele einige Worte mit der jungen Frau und erfahre, dass sie mit Rex nun auch ohne Leine spazieren gehen könne. Die Bindung zwischen beiden hat sich also gefestigt. Nachdem ich den Hund ausgiebig gekrault habe, trennen sich unsere Wege. Er läuft ein Stück voraus, dann dreht er sich zu mir um. Ich winke ihm zu. Er zögert einen Moment. „Rex, nun komm“, ruft die junge Frau. Noch ein Zögern – dann eine Drehung mit Hüpfer und er trollt sich. Wehmütig flüstere ich: „Adieu Lucky.“

HUNDE JA-HR-BUCH VIER

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