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Saskia Wendel | Köln

geb. 1964, Professorin für Systematische Theologie, Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN

saskia.wendel@uni-koeln.de

Mystik der offenen Augen

Für viele Menschen scheinen Spiritualität, zumal eine von der Mystik geprägte, und Nachfolgepraxis nicht zusammenzupassen. Mystik und Spiritualität, so eine nicht selten vertretene Meinung, haben eine individualistische, ja privatistische Note, die Praxis der Nachfolge Jesu dagegen, die den christlichen Glauben wesentlich bestimmt, bedeutet v.a. Einsatz und Engagement für die Anderen. Geschieht die Nachfolge in der Welt, so richtet sich der mystische Weg doch augenscheinlich ins eigene Innere, in den „Grund der Seele“, in die „innere Burg“, und auch das Spirituelle hat für viele jedenfalls zunächst eher mit dem eigenen Erleben zu tun denn mit einer auf die Anderen bezogenen Nachfolgepraxis.

Doch Spiritualität und Nachfolge stehen nicht im Gegensatz zueinander, sondern gehören zusammen. Schon Meister Eckhart wusste darum, dass in einer mystisch geprägten Spiritualität „Maria“ und „Martha“, Kontemplation und Aktion, nicht voneinander getrennt werden können, sondern einander bedürfen und wechselseitig ergänzen. Und Teresa von Ávila formulierte deutlich: „Werke will der Herr! (…) Dies ist die wahre Vereinigung mit seinem Willen.“1 Oder um es in Anklang an Immanuel Kants Verhältnisbestimmung von Denken und Anschauung zu sagen: Nachfolgepraxis ohne Mystik ist blind, Mystik ohne Nachfolgepraxis leer. Letzteres akzentuierte etwa Dorothee Sölle so: „Die ‚Hinreise‘, die in Meditation und Versenkung angetreten wird, ist die Hilfe der Religion auf dem Weg der Menschen zu ihrer Identität. Christlicher Glaube akzentuiert die ‚Rückreise‘ in die Welt und ihre Verantwortung. Aber er braucht eine tiefere Vergewisserung als die, die wir im Handeln erlangen: eben die ‚Hinreise‘.“2

Gerade moderne Mystiker(innen) wie Dag Hammarskjöld oder Madeleine Delbrêl bezeugten jene Einheit von mystischer Spiritualität und Nachfolgepraxis in einer Mystik der Welt, gelebt im Alltag, bis hin zu einer Mystik des Politischen. Das mystische Erleben diente Hammarskjöld als Grund und Motivation für sein konkretes politisches Handeln, welches er als Nachfolgepraxis verstand, und Delbrêls soziales Engagement erwuchs aus der von ihr bezeugten religiösen Erfahrung der Nähe Gottes, die in die Praxis der Solidarität mit den Schwachen drängt: „Wir Leute von der Straße, glauben aus aller Kraft, dass diese Straße, dass diese Welt, auf die uns Gott gesetzt hat, für uns der Ort unserer Heiligkeit ist.“3

Dorothee Sölle hat darauf aufmerksam gemacht, dass hier die Unterscheidung von mystischem Innen und politischem Außen schwindet, und mit Johann Baptist Metz kann man von einer „Mystik der offenen Augen“ sprechen. Im Unterschied zu derjenigen der „geschlossenen Augen“ kreist sie nicht nur um das eigene Innere und die eigenen religiösen Erfahrungen, sondern sie sucht das Antlitz des Anderen, insbesondere der Opfer, der Leidenden und der im Unglück Verharrenden, mitten in Geschichte und Gesellschaft, mitten unter den ‚Leuten von der Straße‘. Metz versteht diese „Mystik der Compassion“ explizit als eine „Mystik der Nachfolge“ und diese wiederum als politisch:

„Glaube ist (…) Nachfolge, Nachfolge des armen, des leidenden und gehorsamen Jesus. In dieser Nachfolge leben heißt: mit den Menschen immer umgehen ‚etsi Deus daretur‘; das heißt: für sie und mit ihnen so handeln, daß in dieser Praxis die Anerkennung Gottes mitgesetzt ist. Wer aber in seiner Praxis die Anerkennung Gottes mitsetzt, der handelt mit einem unbedingten Willen zur Gerechtigkeit für die ungerecht Leidenden (…). Dieses Leiden ist in seinem Kern durchaus politisch. Die Mystik der Nachfolge ist eine politische Mystik des Widerstands gegen eine Welt, in der Menschen behandelt und mißhandelt werden ‚etsi Deus non daretur‘.“4

Gerade in der gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Situation braucht es solch eine „Mystik der Nachfolge“ und der „offenen Augen“ und v.a. diejenigen, die aus ihr leben und handeln: Menschen, die allen Widerständen zum Trotz und mit einer gewissen Unbeugsamkeit in der konkreten Anerkennung Anderer die unbedingte, grenzenlose und ungeschuldete Anerkennung Gottes bezeugen.

1Teresa von Avila, Die innere Burg. Zürich 1989, 101.
2D. Sölle, Die Hinreise. Zur religiösen Erfahrung. Texte und Überlegungen. Stuttgart 91988, 1.
3M. Delbrêl, Die Liebe ist unteilbar. Freiburg i.Br. 22002, 71.
4J.B. Metz, Zum Begriff der neuen Politischen Theologie. 1967-1997. Mainz 1997, 97f.
Geist und Leben 2/2016

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