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Philipp Müller | Mainz

geb. 1960, Priester, Professor für Pastoraltheologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

ph.mueller@uni-mainz.de

Eine Heilige der Dunkelheit

Mutter Teresa von Kalkutta und ihre Erfahrung der Gottesferne

Bereits zu ihren Lebzeiten galt Mutter Teresa als Ikone der Nächstenliebe, die sich für die Ärmsten der Armen und Ausgestoßenen in den Slums von Kalkutta aufgerieben hat. Zahlreiche Ehrungen sind ihr dafür zuteil geworden, u.a. 1979 der Friedensnobelpreis. Durch ihr soziales Engagement und nicht zuletzt durch ihr Lächeln vermochte sie Menschen verschiedener Religionen und Weltanschauungen für sich zu gewinnen. Wurde sie in Interviews nach Details aus ihrem Leben oder ihrem Empfinden gefragt, bemerkte sie nur, dass es nicht um ihre Person gehe, sei doch das Wachsen ihrer Gemeinschaft einzig dem Wirken Gottes zuzuschreiben. So gewann die Außenwelt den Eindruck einer Ordensfrau, die mit Gott und der Welt im Reinen ist.

Umso überraschter waren viele, als ihr permanentes Gefühl einer abgrundtiefen Gottesferne öffentlich wurde, das sie ihren geistlichen Begleitern, nicht jedoch ihren Mitschwestern, anvertraut hatte. Bereits 2001 hatte P. Josef Neuner SJ, zeitweise ihr geistlicher Mentor, in dieser Zeitschrift über die innere Dunkelheit in ihrem spirituellen Leben berichtet, ohne dass eine breitere Öffentlichkeit davon Notiz genommen hätte.1 Für weltweites Aufsehen sorgte indes im Jahr 2007 ein Buch, das vertrauliche Korrespondenz mit ihren geistlichen Begleitern enthielt; auch Auszüge aus ihrem Tagebuch, das sie anfangs führte, Briefe an ihre Schwestern oder Ansprachen sind mit eingeflossen. Herausgegeben und kommentiert wird das Buch von P. Brian Kolodiejchuk, einem gebürtigen Kanadier, der seit 1977 mit Mutter Teresa in Kontakt stand und zu den Mitbegründern des männlichen Zweigs der Missionaries of Charity gehört.2 P. Brian wurde bald nach ihrem Tod im Jahr 1997 zum Postulator ihres Selig- und Heiligsprechungsprozesses ernannt. In dieser Funktion oblag es ihm, schriftliche und mündliche Äußerungen von Mutter Teresa sowie Eindrücke von Zeitzeugen möglichst umfassend zu sammeln und zu dokumentieren. Im Rahmen seiner Recherchen stieß er in Archiven wie dem der Missionaries of Charity, des Erzbischofs von Kalkutta oder der indischen Jesuiten im St. Xavier’s College auf Dokumente, die einen Einblick in ihr Innenleben gewähren. Mutter Teresa hatte zwar verfügt, die Korrespondenz zu vernichten, dieser Bitte war jedoch nicht entsprochen worden, weil die Briefe für den Kanonisierungsprozess als unverzichtbar galten. Wenn P. Brian als der Postulator ihres Heiligsprechungsprozesses die Briefe publiziert und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, dann deutet dies auf eine bewusste Entscheidung der von ihr gegründeten Gemeinschaften hin, auch andere an Mutter Teresas Ringen mit Gott teilhaben zu lassen und ihnen einen Blick in ihre alles andere als glatte und softe Spiritualität zu geben. Manche Formulierungen offenbaren eine spirituelle Abgründigkeit, die dem Leser und der Leserin bisweilen die Sprache verschlägt. In diesem Aufsatz wird Mutter Teresa in ihren brieflichen Äußerungen selbst zu Wort kommen, zuvor jedoch erfolgen einige kursorische Anmerkungen zu ihrer Biographie und ihrem Lebenswerk.

Die verborgene Innenseite tritt nach außen

Mutter Teresa wird am 27. August 1910 im heutigen Skopje, das damals Üsküp hieß und zum Osmanischen Reich gehörte, als Agnes Gonxha Bojaxhiu geboren.3 Sie ist das jüngste von drei Kindern der Eheleute Nikola und Drana Bojaxhiu. Nachdem ihr Vater, ein erfolgreicher Kaufmann, schon im Jahr 1919 stirbt, bleibt die Mutter mit der Erziehung der Kinder auf sich allein gestellt. Gleichwohl gelingt es ihr, dass diese eine höhere Schule besuchen und später studieren können.

Bereits in Agnes‘ Kindheit und Jugend wurden wichtige Aspekte ihres künftigen Werks und dessen Spiritualität grundgelegt. Aus ihrer Heimat Skopje, wo damals überwiegend Muslime und orthodoxe Christen ansässig waren, ist ihr als Katholikin vertraut, zu einer religiösen Minderheit zu gehören und sich darin zu behaupten. Die Jugendliche wird v.a. durch die ignatianische Spiritualität geprägt; hieran hat der aus Kroatien stammende Jesuit Franjo Jambreković besonderen Anteil, der seit 1925 in Skpoje als Pfarrseelsorger tätig und dort ihr Beichtvater ist.4 Mit 18 Jahren tritt sie in den jesuitennahen Orden der Loreto-Schwestern ein; zeit ihres Lebens wird sie für sich und ihre Gemeinschaft vornehmlich Jesuiten als geistliche Begleiter wählen. Auch ihr Faible für die Herz-Jesu-Verehrung und die Verehrung des „Unbefleckten Herzens Mariens“ sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen; beides hatte durch jesuitisches Apostolat Verbreitung gefunden und wird in ihrer Heimatgemeinde intensiv gepflegt; das „Herz Mariens“ wird das Titularfest ihrer Gemeinschaft sein.

Nach ihrer Ankunft in Indien absolviert die junge Ordensfrau ihr Noviziat und arbeitet seit 1929 als Lehrerin an einer ordenseigenen High School, in der sie später auch das Amt der Schulrektorin innehat. Im Jahr 1937 legt sie die Ewige Profess ab. Als Namenspatronin wählt sie Therese von Lisieux (1873–1897), deren Schriften sie bereits in ihrer Jugend begeistert haben und die für sie zur Identifikationsfigur wird; mit ihr verbindet sie schon früh der Wunsch, Jesus so lieben zu wollen, wie er noch nie geliebt worden ist und die Leiden Christi mit dem eigenen Leiden zu lindern.5 Der wohl einschneidendste Tag in ihrem Leben ist der 10. September 1946; er gilt als der Gründungstag ihrer Gemeinschaft und wird dort als Inspiration Day bezeichnet: Auf dem Weg zu ihren Jahresexerzitien nach Darjeeling spürt sie während einer Zugfahrt deutlich den Ruf Jesu, ihm künftig in den Ärmsten der Armen zu dienen. Nach einer zweijährigen Prüfungszeit erteilt ihr die kirchliche Hierarchie die Erlaubnis, ihren bisherigen Orden verlassen und eine neue Gemeinschaft gründen zu dürfen. 1949 schließen sich ihr die ersten Schwestern an; sie tragen indische Kleidung und unterscheiden sich in ihrem denkbar einfachen Lebenststil nicht von ihrer Umgebung. Am 7. Oktober 1950, dem Rosenkranzfest, werden die Missionaries of Charity zur Diözesankongregation erhoben.6 Um weltweit agieren zu können, wird die Gemeinschaft 1965 in eine Gesellschaft päpstlichen Rechts umgewandelt, so dass im selben Jahr in Venezuela die erste ausländische Niederlassung gegründet werden kann. In Deutschland lassen sich die Schwestern erstmals 1979 in Essen nieder; zwei Jahre später erfolgt eine Gründung in der damaligen DDR in Ost-Berlin. Einer Angabe im Internet zufolge ist die Gemeinschaft derzeit in 137 Ländern vertreten; ihr gehören mehr als 5000 Schwestern in rund 765 Kommunitäten an, die sich z.B. Sterbenden, Lepra- und Aidskranken, Obdachlosen oder Kindern widmen.7

Bereits zu Lebzeiten Mutter Teresas hat sich ihre Gemeinschaft in diverse Zweige ausdifferenziert: Seit 1976 gibt es die kontemplativ ausgerichteten Schwestern des Wortes, die mit den Missionarinnen der Nächstenliebe eine Kongregation bilden. Hinzu kommen die Kongregationen der Missionsbrüder der Nächstenliebe und der Missionspriester, eine Vereinigung von Diözesanpriestern (Corpus-Christi-Bewegung) sowie Laienmissionarinnen und -missionare. Die Ordensgründerin verstirbt am 5. September 1997 in Kalkutta im Alter von 87 Jahren an Lungenversagen. Bereits sechs Jahre später wird sie am 19. Oktober 2003 in Rom durch Papst Johannes Paul II. seliggesprochen.

Berufung in der Berufung

Das Apostolat der Missionaries of Charity, die sich in einem vierten Gelübde zu einem Einsatz für die Ärmsten verpflichten, ist in einen streng geregelten geistlichen Tagesablauf eingebunden.8 In den spartanisch eingerichteten Unterkünften einer jeden Gemeinschaft, zu der im Durchschnitt 4–5 Schwestern zählen, ist jeweils ein Raum für das Gebet reserviert. In ihm befinden sich ein Andachtsbild des „Unbefleckten Herzens Mariens“ sowie ein Kruzifix, neben dem die Worte des gekreuzigten Jesus geschrieben stehen: „Mich dürstet“ – „I thirst“ (Joh 19,28). Bereits die handschriftlich verfasste Ordensregel vom Mai 1947 sieht das allgemeine Ziel der Missionaries of Charity darin, „das Dürsten Jesu am Kreuz nach Liebe und Seelen (…) zu stillen“9 – ein Motiv, das sich bereits bei Therese von Lisieux findet.10 In einem Brief zum Weihnachtsfest des Jahres 1996 an Mitarbeiterinnen ihrer Gemeinschaft erinnert sich Mutter Teresa, dass ihr dieses Ideal am Inspiration Day auf der Zugfahrt nach Darjeeling als „Berufung in der Berufung“ aufgegangen ist.11 Diese Formulierung signalisiert, dass für sie die 18 Jahre als Lehrerin bei den Loreto-Schwestern keine verlorene Zeit waren, dass sie jedoch an jenem Septembertag des Jahres 1946 zum eigentlichen Kern ihrer Berufung gefunden hat. Unabhängig von der Frage, ob ihre Erkenntnis punktuell erfolgt ist oder ob sie nicht auch das Ergebnis eines längeren Prozesses war, hat der Inspiration Day seinen Ausgangspunkt in der Erkenntnis, dass der leidende Christus besonders in den Armen anwesend ist; pflegt man deren Wunden und schenkt ihnen Trost und Mitgefühl, dann pflegt man die Wunden des leidenden Christus und schenkt ihm Zuwendung – genau hiernach sehnt sich Jesus und dürstet er.

In der Spiritualität des Ordens bilden das kontemplative Leben und der Einsatz für die Ärmsten eine tiefe Einheit, denn in beiden Vollzügen zeigen die Schwestern Jesus ihre Liebe. Mutter Teresa legt großen Wert darauf, dass das geistliche Leben der Schwestern die Antriebskraft und die Mitte ihres sozialen Engagements ist und sie sich hierin etwa von Sozialarbeiterinnen unterscheiden.12 In diesem Zusammenhang sind ihr zwei Begriffe wichtig, die dem heutigen Lebensgefühl fremd, der Spiritualität jener Zeit jedoch sehr geläufig waren: Selbstaufgabe und Sühne. Selbstaufgabe meint für sie die Bereitschaft, von sich selbst abzusehen und sich immer wieder neu dem Ruf Jesu zu stellen – sei es im Dienst an den Armen oder in der Kontemplation. Mit der inneren Haltung der Selbstaufgabe hängt zusammen, dass gemäß der Ordensregel von 1947 jede Schwester in ihrem Einsatz für Gott und die Ärmsten der Armen ein „Sühnopfer Christi“ sein soll: „Wir müssen Gott alles oder nichts geben und diese totale Hingabe aufrechterhalten – koste es, was es wolle.“13 Für Mutter Teresa ist die Hingabe- und Opferbereitschaft der Schwestern eine Antwort auf jene Liebe, mit der Christus jede zuerst geliebt hat. Sie ist zutiefst überzeugt, dass das Apostolat der Schwestern besonders mittels dieser spirituellen Grundeinstellung fruchtbar und zum Segen für andere wird.

Dem Geliebten nichts verweigern

Mutter Teresas Beziehung zu Jesus hat etwas zutiefst Bräutliches. Ausdruck ihrer leidenschaftlichen Liebe ist ein Privatgelübde, das sie im April 1942, viereinhalb Jahre vor dem Inspiration Day, mit Zustimmung ihres Beichtvaters abgelegt hat.

In einem Brief an Erzbischof Ferdinand Périer von Kalkutta vom 1. September 1959 erinnert sie sich: „Ich legte ein Gelübde ab, das mich bei Strafe einer Todsünde verpflichtete, Gott alles zu geben, was Er verlangen sollte: ‚Ihm gar nichts zu verweigern.‘“14 Als Grund hierfür erwähnt sie in einem anderen Brief an P. Neuner, dass sie Gott etwas sehr Schönes geben wollte.15 Bis zu ihrem Tod bemühte sie sich darum, dem Privatgelübde treu zu bleiben. Sie steht auch hiermit in der Tradition Therese von Lisieuxs, die nach eigenen Angaben bereits mit drei Jahren angefangen hatte, nichts von dem zu verweigern, was Gott von ihr wollte.16

Weil sich Mutter Teresa seit dem Inspiration Day ihrer Sendung sicher ist und sie Jesus nichts verweigern möchte, muss sie alles daran setzen, die „Berufung in der Berufung“ Wirklichkeit werden zu lassen. Als erstes sucht sie Erzbischof Périer von Kalkutta zu überzeugen; denn an ihm liegt es, in Rom die nötigen Schritte einzuleiten. Nach Rücksprache mit ihrem geistlichen Begleiter berichtet sie ihm in einem Brief vom 13. Januar 1947 in großer Offenheit über ihre Erfahrungen im September zuvor. Sie ist sich sicher, die Stimme Jesu vernommen zu haben, der zu ihr spricht: „Ich möchte indische Missionaries of Charity – die mein Feuer der Liebe sein werden unter den ganz Armen – den Kranken – den Sterbenden – den kleinen Straßenkindern.“17 Als sie ungeduldig auf eine Entscheidung wartet, mahnt sie der Erzbischof zu Geduld, da er die Echtheit ihres Ansinnens gewissenhaft prüfen möchte. Trotz aller Ungewissheit wird ihr in dieser Phase ihres Lebens eine Gemeinschaft mit Jesus „in vollkommenem Frieden und in vollkommener Freude“18 geschenkt. Die geistlichen „Flitterwochen“ enden in etwa dann, als sie für ihr Werk „grünes Licht“ bekommt.19 Von da an wird sie jahrzehntelang – mit einer einmonatigen Unterbrechung – unter dem schmerzlichen Gefühl der Abwesenheit Gottes leiden, obwohl das von ihr initiierte Werk seinen positiven Lauf nimmt und sie äußerlich gesehen allen Grund zur Freude hätte.

Gleichwohl kam für Mutter Teresa die Erfahrung der „dunklen Nacht“ nicht wie aus heiterem Himmel. Zeiten geistlicher Trockenheit waren ihr auch bei den Loreto-Schwestern nicht fremd. Dies bezeugt ein Brief vom 8. Februar 1937, den sie drei Monate vor ihren Ewigen Gelübden an ihren ehemaligen Heimatpfarrer und Beichtvater, P. Franjo Jambreković SJ, geschrieben hat: „Glauben Sie nicht, dass mein spirituelles Leben auf Rosen gebettet ist – diese Blume entdecke ich so gut wie gar nicht auf meinem Weg. Ganz im Gegenteil, ich habe öfters die ‚Dunkelheit‘ als meine Gefährtin. Und wenn diese Nacht besonders tief ist – und es mir scheint, als ende ich in der Hölle – dann bringe ich mich einfach Jesus dar. Wenn Er will, dass ich dorthin gehe, dann bin ich bereit, doch nur unter der Bedingung, dass es Ihn wirklich glücklich macht.“20 Gleichzeitig betont sie, wie glücklich sie ist und dass sie ihre Leiden um keinen Preis der Welt aufgeben möchte.21

Spätestens seit dem Inspiration Day ist ihr klar, dass Erfahrungen von Dunkelheit sie künftig begleiten werden. Gemäß dem Brief an Périer vom Januar 1947 hat Jesus ihr signalisiert: „Deine Berufung ist es, zu lieben und zu leiden und Seelen zu retten, und indem du diesen Schritt tust, wirst du meinen Herzenswunsch an dich erfüllen (…) Du wirst leiden und du leidest jetzt – doch wenn du meine eigene kleine Braut bist – die Braut des gekreuzigten Jesus – wirst du die Qualen in meinem Herzen ertragen müssen. Lass mich handeln.“22 Auf dem Hintergrund ihres Privatgelübde sind auch folgende Worte Jesu verständlich, die sie so wiedergibt: „Du sagst immer zu mir ‚tu mit mir, was du willst‘ – Nun möchte ich handeln – Lass es mich machen (…) Willst du mich zurückweisen?“23

Gedanken wie scharfe Messer

Ab dem Jahr 1949 oder 1950 – den exakten Beginn datiert sie nicht – muss Mutter Teresa ein knappes halbes Jahrhundert lang bis zu ihrem Tod am 5. September 1997 die „dunkle Nacht“ durchleben. Nur einen Monat wird diese scheinbare Gottesferne unterbrochen: Im Oktober 1958 bittet sie Gott um ein Zeichen, dass er mit ihrer Kongregation zufrieden sei. Tatsächlich verschwinden die Dunkelheit und die Leiden der letzten Jahre.24 Dieser Trost ist jedoch nicht von langer Dauer; bereits am 16. November 1958 schreibt sie: „Unser Herr meinte, es sei besser für mich, im Tunnel zu sein, so ist er also wieder gegangen, und hat mich allein gelassen. Für den Monat der Liebe, den er mir schenkte, danke ich ihm.“25

Hinsichtlich der Frage, welche Empfindungen und Gedanken sich ihrer in der „dunklen Nacht“ bemächtigt haben, ist ein schriftlich formuliertes Gebet aufschlussreich, das sie Ende der 50er Jahre formuliert hat und in dem es eindrücklich heißt: „Das Kind Deiner Liebe, das nun meistgehasste, dasjenige, das Du weggeworfen hast als unerwünscht, ungeliebt (…) Die Einsamkeit des Herzens, das nach Liebe verlangt, ist unerträglich. – Wo ist mein Glaube? – Selbst tief in meinem Innersten ist nichts als Leere und Dunkelheit. Mein Gott, wie schmerzhaft ist dieser unbekannte Schmerz. Es schmerzt ohne Unterlass (…) Wenn ich versuche, meine Gedanken zum Himmel zu erheben, erlebe ich eine solch überzeugende Leere, dass diese Gedanken wie scharfe Messer zurückkehren und meine innerste Seele verletzen. – Liebe, das Wort, es bringt nichts. Man erzählt mir, dass Gott mich liebt, jedoch ist die Realität von Dunkelheit und Kälte und Leere so überwältigend, dass nichts meine Seele berührt.“26 Trotzdem kündigt sie die Gottesbeziehung nicht auf, indem sie die Spannung zwischen der Sehnsucht nach dem, wie Gott ihr früher einmal seine Nähe geschenkt hatte, und dem gegenwärtigen Gefühl der Gottverlassenheit aushält. Irgendwie vertraut sie darauf, „dass alles im Himmel mit Jesus enden wird“; und spricht ihre Bereitschaft aus, „mit Freuden all das anzunehmen bis zum Ende meines Lebens“27.

Es wäre eine gravierende Fehldeutung, Mutter Teresas Seelenzustand als Symptom einer depressiven Persönlichkeitsstruktur zu verstehen. Denn eine Depression erfasst den ganzen Menschen und manifestiert sich in lähmender Antriebslosigkeit. Hiervon kann jedoch angesichts ihres Tatendrangs keine Rede sein. Selbst ihre engsten Mitarbeiterinnen wussten von ihrem Seelenzustand nichts. Fremde Menschen, denen sie oft ein Lächeln schenkte, gingen innerlich gestärkt aus einer Begegnung mit ihr heraus. Sie selbst hat ihr Lächeln einmal charakterisiert als „großer Deckmantel, der eine Vielzahl von Schmerzen verbirgt“28. Sogar in ihrer Beziehung zu Jesus wendet sie diese Strategie an: „Ich möchte auch Jesus anlächeln und damit, wenn es denn möglich ist, meinen Schmerz und die Dunkelheit in meiner Seele sogar vor Ihm verbergen.“29 Sie vergleicht ihr abgrundtiefes Gefühl der inneren Trostlosigkeit mit der Hölle: „Wenn es eine Hölle gibt, dann müsste dies eine sein. Wie furchtbar es ist, ohne Gott zu sein, kein Gebet, kein Glaube, keine Liebe. Das Einzige, was noch bleibt, ist die Überzeugung, dass das Werk Sein ist, dass die Schwestern und Brüder Sein sind.“30 Zwar war sie innerlich darauf vorbereitet gewesen, dass ihr in ihrem geistlichen Leben viel Leid zugemutet werden würde. Bereits ihre Wahl der Therese von Lisieux zur Namenspatronin, der gegen Ende ihres kurzen Lebens Ähnliches widerfahren ist, impliziert die innere Bereitschaft, denselben Weg wie sie zu gehen.31 Am Inspiration Day war Mutter Teresa das Leiden an Gott und damit die „dunkle Nacht“ als wesentliches Element ihres geistlichen Lebens angekündigt worden. Als es zwei, drei Jahre später soweit ist, machen ihr deren eisige Kälte und der heftige Schmerz sehr zu schaffen, die – ein scheinbares Paradox – mit einer großen Sehnsucht und einem tiefen Verlangen nach Gott einhergehen.

Dieses Erleben verlangt nach einer geistlichen Deutung, zu der sie schließlich Anfang der 60er Jahre mit Hilfe von P. Neuner gelangt. Hierdurch ändert sich zwar nichts an ihrem Gefühlszustand, aber sie kann künftig besser damit umgehen. In einem Brief an Neuner schreibt sie: „Zum ersten Mal in diesen elf Jahren fing ich an, die Dunkelheit zu lieben. Denn ich glaube, dass dies ein Teil ist, ein sehr, sehr kleiner Teil der Dunkelheit und des Schmerzes Jesu auf Erden.“32 Den Durchbruch brachte ihr der Gedanke, dass sie mit ihrem Leiden am erlösenden Leiden Christi partizipiert und dass die Dunkelheit Ausdruck des Verlangens Jesu nach Liebe und Erlösung jedes Menschen ist. Damit wurde die Dunkelheit ein integraler Bestandteil ihrer persönlichen Berufung, die sie Gott als Geschenk gibt und dadurch „aufopfert“. Der Frage, ob Gott sie noch liebt, hat sie von da an weniger Bedeutung beigemessen und zunehmend gelernt, ihm unabhängig von ihrem subjektiven Erleben blind zu vertrauen. Ähnliches rät sie im Februar 1974 einem Priester: „Es spielt keine Rolle, was Sie fühlen, so lange Er sich gut in Ihnen fühlt. Wenden Sie Ihren Blick von sich selbst weg und freuen Sie sich daran, dass Sie nichts haben, dass Sie nichts sind, dass Sie nichts tun können.“33

Lieben, bis es wehtut

Die Redewendung „jemanden leiden können“ zeigt auf, dass Liebe mit Schmerzen verbunden sein kann. Ähnliches deutet der Begriff der Leidenschaft an, der bisweilen der amour fou, der verrückten Liebe, zugeordnet wird und für den das Englische (ähnlich wie die romanischen Sprachen) das Wort passion kennt. Für Christen ist die Passion Jesu tiefer Ausdruck der leidenschaftlichen und verrückten Liebe Gottes zu den Menschen. An Mutter Teresa wird deutlich, was passieren kann, wenn ein Mensch diese verrückte Liebe (bis zum Kreuz!) mit derselben Leidenschaft beantworten möchte. Auf ihrem geistlichen Weg hat sie gleichermaßen „Himmel“ und „Hölle“ durchschritten: Sie weiß, was es heißt, sich von der Liebe Jesu getragen zu wissen; ihr wird aber auch zugemutet, Gott „zu lieben, bis es wehtut“34, und das an der Grenze des für sie Erträglichen. Dabei ist ihr Bewusstsein der Gottesferne in seiner ganzen Radikalität erst auf der Basis positiver Erfahrungen möglich; denn nur weil sie erfahren hatte, dass es auch anders sein kann, wusste sie, was ihr vorenthalten wird und wonach sie sich sehnt.

Auch wenn Mutter Teresa in der „dunklen Nacht“ oft nur der vom nackten Willen getragene Glaube geblieben ist, so ziehen sich bei ihr doch über die Jahrzehnte hinweg zwei Gewissheiten durch: dass das von ihr gegründete Werk dem Willen Gottes entspricht und dass sie Christus in den Armen begegnet. Die Dunkelheiten in ihrem Leben mögen sogar dazu beigetragen haben, sich stärker mit den Armen zu identifizieren.35 Insofern hat sie den markanten Satz aus der Pastoralkonstitution Gaudium et spes biographisch eingelöst, wonach „Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art“, auch „Trauer und Angst der Jünger Christi“ sind. Das Konzil fügt an: „Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen einen Widerhall fände.“ (GS 1) In Mutter Teresa hat das neuzeitliche Gefühl der Einsamkeit und der Gottverlassenheit mehr als nur einen Widerhall gefunden: Sie hat es von innen heraus durchlebt und hierüber einen existenziellen Zugang zu unterschiedlichen Formen physischer und psychischer Not gefunden. Auch hier zeigt sich eine Gemeinsamkeit mit ihrer Namenspatronin Therese von Lisieux, die in der „dunklen Nacht“ die Ungläubigen als ihre Geschwister identifiziert hat, deren Erfahrungen durch sie wiederum im Herzen der Kirche präsent sind.36

Mutter Teresa wäre es nie in den Sinn gekommen, sich in ihrem Umgang mit Erfahrungen der Gottesferne als Vorbild zu stilisieren; es wurde zu viel von ihr abverlangt, als dass sie diesem eitlen Gedanken hätte verfallen können. Sie sah ihre Berufung darin, den „Durst Jesu“ zu stillen, indem sie sich für die Ärmsten der Armen einsetzt und deren Leid ein wenig lindert. Ihre Berufung gilt für sie über den Tod hinaus. Auch wenn sie hofft, in der Ewigkeit an der Freude Gottes Anteil zu haben, so ist sie doch bereit, hierauf immer wieder zu verzichten, um Menschen auf der dunklen Seite des Lebens beizustehen: „Wenn ich jemals eine Heilige werde, dann gewiss eine ‚Heilige der Dunkelheit‘. Ich werde fortwährend im Himmel fehlen, um jenen ein Licht zu entzünden, die auf Erden in Dunkelheit leben.“37

1Vgl. J. Neuner, Mutter Teresas Charisma, in: GuL 74 (2001), 336–348.
2Die Originalausgabe lautet Come be My Light. New York 2007. Deutsche Ausgabe: Mutter Teresa, Komm, sei mein Licht. Hrsg. u. komm. von B. Kolodiejchuk. Freiburg i.Br. 2007.
3Zu ihrer Biographie vgl. K. Spink, Mother Teresa. An Authorized Biography. Revised and updated. New York 2011.
4Zum Einfluss der Jesuiten auf Mutter Teresa vgl. M. Sammer, Mutter Teresa. Leben, Werk, Spiritualität. München 2006, 12–16.
5Vgl. Mutter Teresa, Komm, sei mein Licht, 73 [s. Anm. 2].
6Das Gründungsdekret des Erzbischofs von Kalkutta ist abgedruckt ebd., 164f.
7http://marien-liebfrauen.de/wir-uber-uns/orden-und-gemeinschaften/missionaries-of-charityschwestern-der-mutter-teresa.html (Stand: 24.09.2015). Über die Schwierigkeit verlässlicher Zahlenangaben und die Kritik an Mutter Teresas Vorstellungen von pflegerisch-sozialem Engagement und dem Finanzgebaren des Ordens vgl. Sammer, Mutter Teresa, 94–100 [s. Anm. 4].
8Näheres hierzu ebd., 30f.
9Mutter Teresa, Komm, sei mein Licht, 391. Die ganze handgeschriebene Ordensregel von 1947 findet sich ebd., 391–399 [s. Anm. 2].
10Therese von Lisieux erinnert sich an ihre Jugendzeit: „Der Schrei Jesu am Kreuz widerhallte ununterbrochen in meiner Seele: ‚Mich dürstet!‘ Diese Worte entfachten in mir ein unbekanntes, heftiges Feuer (…) Ich wollte meinem Viel-Geliebten zu trinken geben und fühlte mich vom Durst nach Seelen verzehrt.“ Dies., Selbstbiographische Schriften. Authentischer Text. Einsiedeln 1520 03, 97 (Herv. TL).
11Mutter Teresa, Komm, sei mein Licht, 54 [s. Anm. 2].
12Vgl. das Ordenskonzept von 1947, das Erzbischof Périer von ihr erbeten hatte. Ebd., 90–96.
13Ebd., 396.
14Ebd., 41 (sic!). Ferdinand Périer SJ war von 1924–1960 Erzbischof von Kalkutta.
15Brief an P. Neuner vom 12. Mai 1962. Vgl. ebd.
16Vgl. A. Wollbold, Therese von Lisieux. Auf dem kleinen Weg. Kevelaer 2012, 37 (mit Quellenangabe).
17Mutter Teresa, Komm, sei mein Licht, 63 [s. Anm. 2].
18So in einem Brief an P. Van Exem SJ vom 17. September 1948. Vgl. ebd., 150.
19So ihr Brief an Erzbischof Périsset vom 18. März 1953. Vgl. ebd., 177.
20Ebd., 32.
21Ebd., 32f.
22Ebd., 63f
23Ebd.
24Vgl. Brief an Erzbischof Périer vom 7. November 1958. Vgl. ebd., 207.
25Brief an Erzbischof Périer. Vgl. ebd., 208.
26Ebd., 218f.
27Ebd., 219f.
28Brief an Erzbischof Périer vom 15. Juni 1958. Vgl. ebd., 207.
29Brief an Erzbischof Périer vom 8. April 1957. Vgl. ebd., 201.
30Brief an P. Neuner vom 8. Januar 1965. Vgl. ebd., 289.
31Neben der Kirchenlehrerin aus dem Karmel von Lisieux haben auch Gottsucher wie Johannes vom Kreuz, Simone Weil oder Edith Stein die Erfahrung der „dunklen Nacht“ gemacht.
32Mutter Teresa, Komm, sei mein Licht, 250. Vgl. ebd., 250–254. Dieser Brief datiert vermutlich auf den 1. April 1961 [s. Anm. 2].
33Brief an einen Priester vom 7. Februar 1974. Vgl. ebd., 318.
34So in einem Brief an ihre Mitarbeiterinnen vom 1. März 1995. Vgl. ebd., 173.
35So die Hypothese ihres Vertrauten P. Michael van der Peet SCJ. Vgl. ebd., 320.
36Vgl. hierzu T. Halík, Geduld mit Gott. Die Geschichte von Zachäus heute. Freiburg i.Br. 720 1 4, 46–67.
37Brief an Erzbischof Périer vom 6. März 1962, in: Mutter Teresa, Komm, sei mein Licht, 268 [s. Anm. 2].
Geist und Leben 2/2016

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