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ОглавлениеChristoph Benke | Wien
geb. 1956, Priester, PD Dr. theol. habil., Studierendenseelsorger, Schriftleiter von GEIST & LEBEN
Aktives Geben von uns selbst
Der algerische Christ Pierre Claverie OP
Als Pierre Claverie OP, Bischof von Oran in Algerien, und sein Chauffeur Mohamed Bouchikhi am 1. August 1996 abends um 22:48 Uhr das Bischofshaus betraten und das Licht im Flur anschalteten, zerriss eine heftige Explosion die nächtliche Stille. Beide waren sofort tot. Mit diesem Anschlag hatte eine mehrjährige Orgie der Gewalt gegenüber Christen im Land ihren unrühmlichen Höhepunkt erreicht. Zwei Monate zuvor war es traurige Gewissheit geworden, dass die sieben Trappistenmönche von Tibhirine nicht mehr am Leben waren.
Wer war dieser Pierre Claverie? Wie sah er seinen Dienst als Christ, Dominikaner und Bischof? Was bewog ihn, den in Algerien geborenen Franzosen, „seinem“ Algerien unter diesen und keinen anderen Umständen die Treue zu halten, obwohl er mit seinem gewaltsamen Tod rechnen musste – und tatsächlich gerechnet hat? Im deutschen Sprachraum ist Claverie bislang wenig bekannt.1 Die im Jahr 2000 erschienene und nun ins Deutsche übersetzte Biographie aus der Feder seines Mitbruders Jean-Jacques Pérennès lässt Werdegang und Spiritualität Claveries plastisch vor Augen treten.2 Das Material ist reichhaltig, denn Claverie, ganz Hirte und Seelsorger, schätzte Reflexion und intellektuelle Arbeit. Meist sind es schriftlich fixierte Vorträge für Konferenzen oder Exerzitien sowie Leitartikel für diverse Zeitungen und Zeitschriften. Auch liegen viele bislang unveröffentlichte Texte aus dem Nachlass vor, einige sind in Pérennès‘ Biographie eingearbeitet.
Das Anliegen der folgenden Ausführungen ist es, im Anschluss an eine kurze biographische Skizze Pierre Claverie anhand ausgewählter Texte selbst zu Wort kommen zu lassen und so ein vorläufiges spirituelles Porträt zu zeichnen. Was kann er uns heute für Glaube und Christsein mitgeben, über die besondere Situation seiner Diasporakirche hinaus?
Stationen eines Lebens
Pierre Claverie durchlebt nach eigenen Angaben in Algerien eine glückliche Kindheit in der „familiären Zelle“ – ein Ausdruck seines Vaters. Darüber hinaus formt ihn die Mitgliedschaft in einer von Dominikanern gegründeten Pfadfindergruppe, zu der er bis an sein Lebensende Kontakt hält. Claverie beginnt in Grenoble ein Studium naturwissenschaftlicher Fächer, was ihm aber keine Freude bereitet. Der Algerienkrieg verunsichert ihn, zugleich sensibilisieren ihn die zugehörigen Debatten für das Politische. Er fasst den Entschluss, bei den Dominikanern einzutreten und beginnt 1958 das Noviziat in Lille. Das Theologiestudium in Le Saulchoir (1959–1967; Priesterweihe 1965) erfährt eine nicht zu unterschätzende Zäsur durch einen Militäreinsatz in Algerien (März 1962 – Oktober 1963). Nicht zuletzt dieses Wiedersehen mit dem Land seiner Kindheit führt ihn zur Gewissheit, dass sein Platz in Algerien ist. Claverie beginnt Arabisch zu lernen, vertieft sich in den Islam und übernimmt 1973 die Leitung des Centre des Glycines in Algier, eines Instituts für Arabistik und Islamstudien, das Christen wie Muslimen offenstand. Am 2. Oktober 1981 empfängt er die Bischofsweihe, nachdem ihn Papst Johannes Paul II. zuvor als Nachfolger von Henri Teissier zum Bischof von Oran ernannt hat. Der Aufstieg des politischen Islamismus hatte eine zunehmende Einengung des Lebensraumes der Kirche und vielfältige Bedrohungen für die algerischen Christen zur Folge. Pierre Claverie weigert sich stets, Algerien zu verlassen, obwohl Gewalt zusehends das öffentliche Leben prägt – jene Gewalt, der er schließlich auch selbst zum Opfer fällt. Er wird in „seiner“ Kathedrale in Oran bestattet. Die Grabplatte trägt die Inschrift Allah mahabba – „Gott ist Liebe.“
Das Humane und das Spirituelle
Pierre Claverie predigte oft und begleitete viele Exerzitien. Seine lebensnahe Art wurde geschätzt. Bereits in den 1970er Jahren gab er seiner Überzeugung Ausdruck, dass das Spirituelle nicht außerhalb des Lebens zu suchen und zu finden wäre. Es ist nicht fromme Berieselung, vielmehr spielt es sich mitten in der Dichte des Lebens ab. Spiritualität und die aktuelle Lebenssituation eines Menschen gehören zusammen. So sagt Claverie 1979 den Schwestern von den beiden Heiligen Herzen im libanesischen Ainab: „Zum Weg der Begegnung mit Gott ist immer zuerst Kenntnis zu nehmen von dem, was unser Leben ausmacht. Wenn wir davon ausgehen, können wir eine Gotteserfahrung machen. Gott offenbart sich den Menschen nur in dem Maß, in dem sie völlig in die Wirklichkeiten, die ihnen zu leben gegeben sind, eintauchen (…) Er offenbart sich nicht über Bücher. Das Neue und Alte Testament sind nur Erinnerung an die Gotteserfahrung, die diese Männer und Frauen in ihrer Lebensgeschichte gemacht haben.“ (338) Spirituelle Erfahrung ist dort auszumachen, wo jemand die äußeren Wirklichkeiten zu „lesen“ versteht. Das Humane galt ihm als der beste Ort dafür. Um glauben zu können, braucht es die Einsicht und das Erleben fundamentaler menschlicher Wirklichkeiten – etwa die, geliebt zu werden. Diese Wirklichkeit ist die Basis für alles weitere Wachstum auf dem geistlichen Weg. Claverie nennt sie die „nullte Seligpreisung“: „Selig die, die entdeckt haben, dass sie geliebt sind.“ - „Selig die, an welche andere geglaubt haben.“ (340) Zweifellos zählt auch die Frage nach dem Anderen zu jenen Fundamenten, auf denen das Leben des Geistes aufbaut.
Anerkennung des Anderen
Seiner tiefen Beziehung zu Algerien wird sich Claverie nach und nach bewusst. Seine Vorfahren leben seit drei Generationen als Franzosen und Kolonisatoren im Land und haben seine Sicht eingefärbt. Später nennt er diesen Zustand ein Leben in einer „kolonialen Blase, ohne die Anderen wahrzunehmen“ (29). Die Anderen (die Algerier, die Muslime, die Nicht-Franzosen) kamen lange Zeit einfach nicht vor, auch nicht in der christlichen Verkündigung. Im Rückblick ist es ihm unverständlich, „wie wir christlich leben hatten können, ohne uns die Frage nach dem anderen zu stellen.“ (70) Demnach bedurfte es eines – gewiss auch geistlichen – Weges, sich dieser faktischen Ausgliederung von Teilen der Wirklichkeit zu stellen und den oder die Andere(n) anzuerkennen. Claverie hält diesen Punkt für derart entscheidend, dass er darin sogar den Beginn seiner Ordensberufung erkennt: „Das Auftauchen des Anderen, die Anerkennung des Anderen und die Anpassung an den Anderen sind für mich zur Obsession geworden. Das ist wahrscheinlich der Beginn meiner Ordensberufung.“ (41) Die Situation der extremen Diaspora, in der sich Christentum und Kirche in Algerien vorfinden, zwingt gewissermaßen zu diesem Blick. Es wird keinen Dialog zwischen Kulturen und Religionen geben (können), es sei denn, er ruhe auf dieser Bedingung und komme aus dieser Haltung: „Ich gestehe nicht nur zu, dass der Andere ein Anderer ist, ein Subjekt in seiner Verschiedenheit, frei in seinem Bewusstsein, sondern ich akzeptiere, dass er einen Teil der Wahrheit innehat – einen Teil, der mir fehlt und ohne den meine eigene Suche nach Wahrheit nicht erfolgreich beendet werden kann.“ (237) Er weiß dabei präzise um das unterscheidend und entscheidend Christliche. So spricht er in Bezug auf den Islam „vom Abgrund, der uns trennt“ (109; 247) und vom „radikalen Unterschied“ (357). Dennoch – oder gerade deshalb? – steht für ihn fest: „Ich brauche die Wahrheit der Anderen.“ (260)
Wozu dient die Christenheit?
Wer den Glauben in der Situation der Diaspora lebt, ist ständig herausgefordert, vor sich und vor den Anderen den Sinn der eigenen Option darzulegen. Als im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre die arabisch-muslimische Identität immer stärker und gelegentlich für Nicht-Muslime bedrohlich erscheint, schreibt Henri Sanson: „Wir schreiten voran in der Nacht. Es kommen uns in dieser Nacht ungewöhnliche Fragen: zu was dient die Christenheit?“ (251) Claverie sieht den Verlust an kirchlichem Einfluss, aber – das mag überraschen – er bedauert ihn nicht. Denn dieser Verlust bedeutet zugleich die historische Chance, die eigene christliche Sendung neu zu begreifen. In einem Vortrag in Montpellier Ende Februar 1995 – die jahrzehntelang andauernde Gewalt hat in Algerien unzählige Opfer auf allen Seiten gefordert – fasst der Bischof von Oran seine Analyse der Lage zusammen: „Alles ist aus dem Gleichgewicht geraten, und es gibt Bruchstellen am Leib, am Herzen, im Geist.“ Die Suche nach dem Ort der Christenheit in dieser historischen Situation muss sich an Jesus orientieren: „Jesus ist gestorben, zwischen Himmel und Erde ausgebreitet, die Arme geöffnet, um die Kinder Gottes zu sammeln, die verstreut sind durch die Sünde, die sie trennt, die sie isoliert, die die Einen gegen die Anderen und gegen Gott selbst aufwiegelt. Jesus hat sich auf die Bruchstellen gestellt, die aus dieser Sünde entstanden sind (…) Die menschlichen und sozialen Beziehungen haben in ihm Heilung und Versöhnung gefunden, denn er hat sie auf sich genommen.“ Maß nehmen an Jesus Christus bedeutet, den Bruchstellen nicht auszuweichen und die Mission von Heilung und Versöhnung anzunehmen: Jesus „stellte seine Jünger auf dieselben Bruchstellen mit derselben Mission von Heilung und Versöhnung. Die Kirche vollendet ihre Berufung und ihre Mission, wenn sie gegenwärtig ist an den Bruchstellen, die die Menschheit in ihrem Fleisch und ihrer Einheit kreuzigen. In Algerien sind wir auf einer der seismischen Linien, die die Welt durchlaufen: Islam/Westen, Nord/Süd, reich/arm etc. Wir sind hier an unserem richtigen Platz, denn nur an diesem Ort lässt sich das Licht der Auferstehung erahnen und mit ihm die Hoffnung auf eine Erneuerung unserer Welt.“ (320). Der Platz der Christenheit, der Platz der Kirche muss der Platz Jesu sein. Die Sendung Jesu besteht in der Vermittlung von Gegensätzen und der Stiftung neuer Gemeinschaft. Darum ist die Versöhnung der Zerrissenheit der Welt im Großen und im Kleinen, global und national der Raum der Jesusnachfolge. Freilich – und dies darf nicht verschwiegen werden –, sich auf Bruchlinien zu bewegen und den Bruchstellen nicht auszuweichen, zerreißt einen selber und führt in die Kreuzesnachfolge. Ebenfalls 1995 unterstreicht er diesen Zusammenhang noch drastischer in einem Vortrag über das Gabengebet vor den Kleinen Schwestern Jesu: „Wir sind an einer Bruchlinie in Algerien: zwischen Muslimen, zwischen Muslimen und dem Rest der Welt, zwischen Nord und Süd, zwischen den Reichen und den Armen. Es gibt einen Bruch und einen tiefer werdenden Graben zwischen denen, die eine gute Stunde Flugzeit von uns entfernt sind, und uns selbst. Es ist zum Schreien, es ist schrecklich (…) Und dennoch, gerade hier ist der Platz der Kirche, weil es der Platz Jesu ist (…) Das Kreuz ist das Ausgestrecktsein dessen, der weder die eine noch die andere Seite gewählt hat. Jesus ist in die Menschheit eingetreten und will nicht einen Teil von ihr verwerfen. Er ist da und geht zu den Kranken, zu den Zöllnern, zu den Prostituierten, zu den Verrückten (…) Er geht zu allen. Er stellt sich dahin und versucht die beiden Enden zu halten (…) Die Versöhnung kann sich nur auf sehr teure Art ereignen, sie ist nicht billig. Sie kann, wie für Jesus, dieses Ausgestrecktsein zwischen dem Unversöhnlichen mit sich bringen. Ein Islamist und ein kafir (Ungläubiger) sind nicht miteinander versöhnbar. Also, was kann ich wählen? Und Jesus wählt nicht. Er sagt: ‚Ich liebe euch alle‘, und daran stirbt er.“ (351–352)
Claverie stellt die an Christus Glaubenden in die Mitte zweier Größen: zwischen Gott und die Welt, zwischen Reich Gottes und Geschichte. Es gibt nur einen einzigen Mittler – Jesus Christus. Er ist die Versöhnung zwischen Gott und der Menschheit. Die Christenheit ist dazu da, diese Mittlerschaft zu verkünden. Das kann nicht anders als spannungsreich sein und wird eine Berührung mit dem Kreuz nach sich ziehen. In einer Weihehomilie aus dem Jahr 1990 führt Claverie aus: „In der Nachfolge Jesu sind wir gesandt, Diener der guten Nachricht der Versöhnung zwischen Gott und der ganzen Menschheit zu sein. Dieser Dienst macht uns nicht zu Mittlern zwischen Gott und den Menschen, sondern zu Vermittlern, ganz auf Gott bezogen und ganz auf die Welt, mit Jesus dorthin gestellt, wo Geschichte und Reich Gottes sich verbinden. Dieser Ort ist nun das Kreuz.“ (350)
Für eine „schwache Kirche“
Christen in Algerien fanden sich über Jahrhunderte hin als Minderheit vor. Claverie reflektiert daher häufig über die Frage nach Sinn und Stil christlicher Präsenz in einem muslimischen Land. Sind die Christen nur Gäste im „Haus des Islam“, erwünscht oder an den Rand gedrängt und bestenfalls als historisches Relikt geduldet („Will man uns nicht mehr?“, 307)? Die konkret-alltäglichen Umstände und die Lebensatmosphäre entwickelten sich jedenfalls derart, dass jegliche Überheblichkeit, so es sie noch gab, unhaltbar wurde. Es ist eine Kirche, die sich machtlos und verwundbar vorfindet und die „Erfahrung der Mittellosigkeit“ (372) macht. Sie nimmt Abstand davon, sich permanent selbst zu verteidigen: „Wir haben kein Interesse zu retten oder Einfluss zu bewahren.“ (389) Anlässlich der Installation auf dem Bischofsstuhl in Oran am 9. Oktober 1981 bezieht Claverie mit seinem Ja zu einer „schwachen Kirche“ Position: „Unsere Chance in Algerien ist, dass wir unserer Reichtümer beraubt sind, unsere Forderungen und unsere Überheblichkeit aufgegeben haben (…) Danken wir Gott, wenn er seine Kirche zur schlichten Menschlichkeit führt.“ (161) Die Gefahren einer derartigen Sichtweise stehen ihm vor Augen: sich in der Abwehrhaltung verschanzen oder der gänzliche Rückzug auf sich selbst. Wie die Lebendigkeit erhalten? Er weiß: Das bedarf der steten Bemühung und auch des inneren Kampfes. Alles, konkret: die „Größe und Stärke der Christen“, hängt „von der Qualität ihrer Beziehungen zu Gott und zu den anderen ab“ (267). Das je Vorfindbare und quantitativ Evaluierbare ist nicht unwichtig, hier darf man sich keinen Illusionen hingeben. Aber im Verhältnis zur personalen Dimension des Glaubens, zur Beziehungsebene ist die Anzahl der Glaubenden unwichtig. Entscheidend sind die Lebendigkeit der Gottesliebe und die Praxis der Nächstenliebe. Darum wird Claverie nicht müde, immer neu das biblische Gebot des „Betet ohne Unterlass!“ in Erinnerung zu rufen – auch als Mittel gegen die Versuchung, sich in die Defensive zurückzuziehen.
„Gott hat sich auf’s Spiel gesetzt“
In den 1990er Jahren schraubt sich die Spirale der Gewalt in Algerien unaufhaltsam höher. Nach den ersten Morden an Ordensleuten muss auch Claverie damit rechnen, zur Zielscheibe zu werden. Er lebt mit dieser Ahnung und vermag es, der faktischen Passivität einen aktiv-willentlichen Stempel aufzuprägen: „Mein Leben, niemand nimmt es, aber ich bin es, der es gibt. Jesus ermöglicht es, uns den erlittenen Tod umzuformen in ein aktives Geben von uns selbst, in dem das Leben sich erneuert und sich intensiviert.“ (328) Es könnte gut sein, dass er darin von Christian de Chergé, dem Prior von Tibhirine, inspiriert war. In dessen Testament spielt das an Joh 10,18 angelehnte Motiv „hingegeben, nicht genommen“ eine zentrale Rolle. Jedenfalls möchte sich Claverie diesen Momenten „der Krise, der Erprobung, der Erschütterung“ stellen. Sie sind „vielleicht eine einzigartige Chance, sich von Gott berühren zu lassen und mit Jesus und durch Jesus das Kostbare des Lebens zu finden und als eine innere Notwendigkeit intensiver zu lieben“ (211). Was Claverie „den erlittenen Tod umzuformen in ein aktives Geben von uns selbst“ (328) nennt, könnte, flüchtig betrachtet, den Anschein erwecken, als ginge es um einen heroischen Akt der Selbsterhöhung, zu dem manche fähig sind (und andere nicht …). Claverie hingegen berichtet von Erschütterungen „in gewissen Überzeugungen“, die er „nach Jahren der Erprobung und der schwierigen inneren und kollektiven Bekehrungen erworben“ hatte (307). Einer derartigen Option gehen unzählige, weil alltägliche Stationen innerer Arbeit, der Reflexion und des Gebetes voraus. Das Wagnis des Übergangs schließlich, sich aufs Spiel zu setzen, vollbringt „alleine die Stärke des göttlichen Geistes selbst“ in uns. Nichts anderes hat Gott gemacht. Er hat „sich ‚aufs Spiel gesetzt‘ in der Geschichte der Menschen bis hin zum Teilen ihrer Bedingungen (…) Was gibt es Verrückteres, als in den Tod zu gehen ohne anderes Gepäck als die gewaltfreie Liebe, die im Vergeben stirbt? (…) Es ist alleine die Stärke des göttlichen Geistes selbst, der uns beibringen kann, diesen Übergang zu wagen.“ (308)
Christentum heute
Was kann uns Pierre Claverie 20 Jahre nach seinem Tod sagen? Im Nahen und Mittleren Osten herrscht erneut Krieg, dessen Folgen verheerend sind, auch für die orientalische Christenheit. Noch ist nicht ausgemacht, ob es in den betroffenen Ländern für Christen überhaupt eine Zukunft gibt. Charismatische Vermittlergestalten wie etwa der Jesuitenpater Paolo d’Oglio, der in der syrischen Wüste das Mar-Musa-Kloster wiederbelebte und sich mit allen Kräften dem christlich-islamischen Dialog widmete, sind extremistischen Kräften ein Dorn im Auge und wurden entführt oder gar ermordet.
In Zentraleuropa – und noch enger fokussiert im deutschsprachigen Raum – stehen Christenheit und Kirche hingegen in einer gänzlich anderen Situation als in Algerien. Was etwa Geschichte und Tradition des kirchlich-konfessionellen Christentums, den öffentlichen Stellenwert von Religion oder das Verhältnis von Staat und Kirche betrifft, liegen die Unterschiede auf der Hand. Und doch gibt es Analogien: Bekennende Christen finden sich in unserer Gesellschaft zusehends in der Situation einer Minderheit vor, was sie auf die Suche nach der eigenen Identität und Sendung setzt. Zugleich sind die allermeisten der in jüngster Vergangenheit vor dem Krieg in Syrien, Irak und Afghanistan nach Europa Geflüchteten Muslime. Diese Migrationswelle wird statistisch-soziologisch betrachtet zu einer Zunahme muslimischer Bevölkerungsanteile führen und damit der faktischen Abnahme des Christentums hierzulande einen weiteren Aspekt hinzufügen: Minderheit im Angesicht einer anderen Religion zu sein. Hier herein gehört die heilsame Frage: Wozu ist die Christenheit gut, wenn herkömmliches Christentum erodiert und sich eine neue Gestalt von Christentum, Kirche und gemeindlichem Leben erst nach und nach herauskristallisiert? Pierre Claverie würde ermutigen, diese Situation als „Übergang“ (Pascha) aufzufassen, die „kollektive Bekehrungen“ (307) fordert – individuelle sowieso. Er würde wohl auch anregen, diese (so wie jede!) historische Situation als Chance zu begreifen, sich von Gott berühren zu lassen, den Verlust an Einfluss und die Zunahme an Machtlosigkeit zu bejahen und der schlichten, aber „mit Feingefühl“ (166) gelebten Präsenz in verschiedenen Milieus eine spezifische Wirksamkeit im Sinne des Reiches Gottes zuzutrauen. Nicht alles lässt sich evaluieren – Gott sei Dank!
1 | I. Baumer, Die Mönche von Tibhirine. Die algerischen Glaubenszeugen – Hintergründe und Hoffnungen. München 2010, 53-64; C. Benke, „Hingegeben, nicht genommen“. Zeugen für Christus im muslimischen Algerien, in: J.-H. Tück (Hrsg.), Sterben für Gott – Töten für Gott? Religion, Martyrium und Gewalt. Freiburg i. Br. 2015, 252–267. |
2 | J.-J. Pérennès, Pierre Claverie – Dominikaner und Bischof in Algerien (Dominikanische Quellen und Zeugnisse 17). Leipzig 2014 (siehe Zahlen in Klammern); Originalausgabe: ders., Pierre Claverie. Un Algérien par alliance. Paris 2000. Siehe auch P. Claverie, Lettres et messages d’Algérie (Chrétiens en liberté), Paris 1996. |