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Abraham

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Betonung des Nichtidentischen, Singulären, Anderen, Heterogenen; Kritik an (idealistischer) Identitäts- und Bewusstseinsphilosophie u. v. m.: Emmanuel Lévinas teilt viele Intentionen mit den Autoren der Dialektik der Aufklärung, vor allem mit Adorno. Getrieben von dem „Entsetzen vor dem Anderen, das Anderes bleibt, ergriffen von einer unüberwindbaren Allergie“, fällt auch für Lévinas die abendländische Philosophie „mit der Enthüllung des Anderen zusammen; dabei verliert das Andere […] seine Andersheit“118 – zumindest vordergründig, in unseren Augen, so wäre zu ergänzen. Philosophie möchte das Andere auf den Begriff und in den Griff kriegen; sie wird übergriffig im Versuch, „alles Andere in das Selbe hinein aufzuheben und die Anderheit zu neutralisieren.“119 „Es ist vielleicht die eigentliche Definition der Philosophie, ein Tun zu sein, das sich schon im voraus eingeholt hat in dem Licht, das es leiten sollte.“120 Ihr Sinnbild ist bei Lévinas wieder die Irrfahrt des Odysseus – allerdings unter anderer Ausdeutung seiner Bewegungsmuster als bei Horkheimer und Adorno: „Der Weg der Philosophie bleibt der des Odysseus, dessen Abenteuer in der Welt nichts anderes als die Rückkehr zu seiner Geburtsinsel war – ein Sich-Gefallen im Selben, ein Verkennen des Anderen.“121 Dem so verstandenen Mythos von Odysseus möchte Lévinas „die Geschichte Abrahams entgegensetzen, der für immer sein Vaterland verläßt, um nach einem noch unbekannten Land aufzubrechen, und der seinem Knecht gebietet, selbst seinen Sohn nicht zu diesem Ausgangspunkt zurückzuführen.“122 Abraham ist für Lévinas der Heros einer „Bewegung ohne Wiederkehr“123, einer „Bewegung des Selben auf das Andere hin, die niemals zum Selben zurückkehrt.“124 Eine solche „Orientierung, die frei vom Selben zum Anderen geht, ist Werk.“125 Unter diesem und anderen Stichworten sucht Lévinas seinen Zugang zum Anderen, zu einer Philosophie uneinholbarer Alterität und Transzendenz. Und er sucht nach der paradoxen Möglichkeit einer „heteronomen Erfahrung“, bei der sich

„das Selbe weder ekstatisch im Anderen verliert, sondern dem Gesang der Sirenen widersteht, noch sich auflöst in dem Brausen eines anonymen Ereignisses. Erfahrung, die noch Bewegung des Selben bleibt, Bewegung eines Ich; Erfahrung, die sich folglich dem Transzendenten in einer Bedeutung nähert, die sie ihm nicht verliehen hat“126

Erfahrung, die aber doch die Erfahrung eines Subjekts, meine Erfahrung eines Anderen sein soll. Die ist ein Akzent, der in Lévinas’ Texten fast verloren geht unter dem Eindruck all der Metaphern der Passivität und Überwältigung durch das Andere!

In Bezug auf Abraham und Odysseus zeigt sich auch bei Lévinas: „Typologische Schemata funktionieren immer nur um den Preis grober Vereinfachungen, die dann als Sprungbrett für eigenständige Spekulationen dienen.“127 Texte mögen nicht unendlich interpretierbar sein, aber sind doch unendlich benutzbar128 – als Projektionsfläche der eigenen Ideen. Dabei kommt es auf die Bezugspunkte an – bei Lévinas, grob vereinfacht und auf Schlagworte gebracht: griechisches vs. jüdisches Denken, Athen vs. Jerusalem, Identitäts- vs. Alteritätsphilosophie. Zur schärferen Profilierung seiner alternativen Philosophie reduziert Lévinas „die Odyssee auf den Gedanken der Heimkehr“, „muß die Odyssee […] zu einer glücklichen Heimkehrer-Geschichte verkürzt werden.“129 Schon Homers Odyssee ist im Grunde alles andere als das. Dies haben auch Horkheimer und Adorno so gesehen130, auch dass die Irrfahrt bei Homer nicht in Ithaka endet131. Für Lévinas’ „nomadisches Denken“132 dagegen dient die Kontrastierung ‚Odysseus vs. Abraham‘ einer vielleicht allzu planen Illustration der Gegenüberstellung zweier philosophischer Paradigmen. Die Ambivalenzen beider Figuren blendet er aus. Wie Walter Lesch treffend bemerkt, beispielsweise im Falle Abrahams, „dessen Problematik Kierkegaard in ‚Furcht und Zittern‘ (1843) so scharfsinnig herausgearbeitet hat, wenn er fiktiv darlegt, wie Abrahams (blinder?) Gehorsam bei Isaak zum Verlust des Glaubens führt.“133

Zur Charakterisierung der geistigen Situation der Zeit, nicht der Philosophie, scheint Abraham denn auch weniger geeignet. Der biblische Abraham jedenfalls hat Gott und den Glauben im Rücken, das verheißene Ziel nicht vor Augen, aber doch im Sinn. Wir dagegen „sind ‚heimatlose Seelen‘, die im ewigen ‚Wintertag‘ der Moderne übers Lebensmeer irren, wie Georg Heym in einem lyrischen Fragment übers Odysseus-Thema schreibt.“134 Dantes Odysseus ist so wohl das geeignetere Sinnbild für die Entbildung des Sinns, für diese „Bewegung ohne Wiederkehr“, die uns seit dem nominalistischen Zeitenbruch, dem Zerbrechen des alten ordo und dem neuzeitlichen Aufbruch umtreibt. Noch Homers Odysseus

„stahl der Gott nur den Tag der Heimkehr, nicht das Ziel selbst. […] Der Aufschub […] durch die nicht endende Liste der Verhinderungen und Verführungen […] wird […] bewußt als Aufschub des Ziels. Schließlich darf man […] nicht übersehen, daß diese ganze Irrfahrt und Heimfahrt im axiologischen Rahmen einer eben noch intakten Mythologie sich abspielt. Die irdischen Konflikte haben ihre Präfiguration, ja ihren Beweggrund in den Rankünen und Streitigkeiten der Götter. Die wählen sich ihren Helden, lenken, strafen ihn unversehens, machen ihn jedoch in jedem Fall zum Werkzeug ihres Willens: alle seine Taten sind letztlich durch eine Ökonomie des Heils gerechtfertigt. […] Die unheldischen Heroen der modernen Odyssee hingegen […] erreichen ihr Ziel nicht mehr: der Ocean spaltet ihre Identität. Sie sind […] Irrende, d. h. sie haben aufgehört, Bewohner eines Kosmos, eines geordneten Weltganzen, zu sein. Ihre Geschichte geht darum auch in keiner Ökonomie des Eigenen mehr auf: die Entfremdung ist ihr Erbteil. […] Man ist nicht mehr heimisch in der Welt-als-Ganzem, und der neue Odysseus ist […] ein Bruder des Ewigen Juden und des Alten Seefahrers geworden“135.

Heimatflucht wurde zum Heimatfluch: Die Neugier trieb uns hinaus, trieb fort die Heimat, die keine war, die Sehnsucht nach ihr treibt uns um. In der Sensibilität dafür mag ein bedeutsamer Unterschied von Horkheimer und Adorno zu Lévinas liegen. Jene waren sich stets bewusst: „Heimweh ist es, das die Abenteuer entbindet, durch welches Subjektivität, deren Urgeschichte die Odyssee gibt, der Vorwelt entrinnt.“136 Insbesondere Adorno hat vom Gedanken der Heimat, von der Wahrheit des Ganzen und der Ganzheit der Wahrheit nie gelassen, so sehr er für das Nichtidentische stritt. Ja, die Widersprüche falscher Totalität waren ihm der Motor für die Würdigung des bleibend Nicht-Identischen, Anderen. So verwandt die Motive bei Lévinas und Adorno, so unterschiedlich scheint mir die Sensibilität für die Dialektik der Kräfte, die die Sehnsucht, das Heimweh, entbindet. Lévinas scheint hier eher auf Abgrenzung bedacht – und begibt sich dann phänomenologisch auf die Spur des Anderen. So dürfe man z. B. das Werk „vor allem nicht ähnlich wie die Technik denken, die, durch die berühmte Negativität hindurch, eine fremde Welt in eine Welt umformt, deren Anderheit sich in meine Idee verwandelt.“137 Adorno dagegen, der Dialektiker, zeigt, wie ein Wissen, dessen Wesen Technik ist, eben das Subjekt formt, das in seiner gleichzeitigen Deformierung erst zu wahrhaftigem Heimweh fähig ist. Er lotet Naturwissenschaft und Philosophie als Projekte der Wiederverzauberung aus, die in der entzaubernden Ent-fremdung des Anderen der Entfremdung Vorschub leisten, die zugleich Bedingung echter Nähe ist.138 Heimat wäre das Entronnensein, u. a. dort, wo wir ohne Furcht in der „schönen Fremde“ (Eichendorff) Wohnung nehmen dürften und unser „Glück daran [hätten], daß es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen.“139 Doch auch für Adorno scheint Nietzsches Diktum zu gelten: „es gibt kein ‚Land‘ mehr!“ – ob als prinzipiell-theoretische oder historisch-gesellschaftliche Möglichkeit nicht, darüber wäre zu reden.

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