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Achilles

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Die Moderne ging aufs Ganze, und das Ganze war ihr Projekt140: die Geschichte bzw. der Fortschritt der Menschheit, das Reich der Freiheit, die klassenlose Gesellschaft etc. Die Moderne warf sich nach vorn und unterstellte die Zukunft der Projektform: Zukunft als planvolles Vorhaben der zielgerichtet, zweckvoll handelnden Menschheit.

„Beflügelt von einem geschichtemachenden Gemisch aus Optimismus und Aggressivität, hat sie die Herstellung einer Welt in Aussicht gestellt, in der es kommt, wie man denkt, weil man kann, was man will, und den Willen hat, zu lernen, was man noch nicht kann. Es ist der Wille zur Macht des Selberkönnens, der in moderner Zeit den Weltlauflaufen macht.“141

Nach der Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts müssen wir gestehen: Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt; wir handeln, also geschieht es. Lineare Erzeugungsphantasien scheitern an komplexen Systemen.142 Und sie forderten Opfer, jene Wissenschafts-, Technik- und Sozialutopien der Moderne, die die Menschheit zum handelnden Subjekt hatten und dem Menschen die Macht über sein Dasein und der Menschheit eine Perspektive geben wollten. Im Angesicht der Trümmer der Geschichte enthüllte sich diese Perspektive bestenfalls als optische Täuschung, als „quasi-pathologische“ Sehstörung143: Selbsternannte Heilssubjekte traten im Namen der Menschheit, im Namen des Allgemeinwohls auf – und erhoben, bewusst oder unbewusst, doch bloß ihre eigene partikulare Perspektive zum Absoluten. Übersehen wurden dabei die Opfer, schlimmstenfalls wurden sie bewusst in Kauf genommen. Im Allgemeinen ist seither Misstrauen geboten. Argwöhnisch beäugt wird jede Philosophie und jede politische Vision, die aufs Ganze geht. Dahinter „vernehmen wir nur allzu deutlich das Raunen des Wunsches, den Terror ein weiteres Mal zu beginnen, das Phantasma der Umfassung der Wirklichkeit in die Tat umzusetzen. Die Antwort darauf lautet: Krieg dem Ganzen“144, „Vive la différence“ – mit diesen Wahlsprüchen wird nun „das Singuläre, Differente und Plurale gegen den potenziell totalitären Zugriff des Universalen, Identischen und Singularen“145 verteidigt. Das Postulat radikaler Pluralität „als zuinnerst positiver Vision“ wird allen unbedingten Geltungsansprüchen als der „illegitimen Erhebung eines in Wahrheit Partikularen zum vermeintlich Absoluten“ entgegengesetzt.146 „Fortan stehen Wahrheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit im Plural“147 – um der Menschheit, um der Menschlichkeit willen, aus einem zutiefst ethischen Impetus heraus, der freilich selbst noch von den Idealen der Moderne zehrt. Dieses Postulat radikaler Pluralität ist klar zu unterscheiden vom Pluralismus einer „geläufigen und gefälligen Oberflächen-Buntheit“148. Und doch – wider Willen – in seiner Dynamik und in seinen Konsequenzen unterschätzt. „Unsere Gegenwart ist […] ein spätmoderner Kampfplatz stahlharter Vielheiten im Sinne Max Webers […] : ‚[Die] verschiedenen Wertordnungen der Welt [stehen] in unlöslichem Kampf untereinander […]. Die alten […] Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern […] und beginnen […] wieder ihren ewigen Kampf.‘“149 Zugleich stehen wir in dieser Welt partikularer Interessen und umkämpfter Ressourcen vor globalen Problemen. Globale Probleme aber erfordern globale Lösungen. Regionale bzw. lokale Lösungsansätze erweisen sich immer wieder als unzureichend. Doch, historisch wie philosophisch gebildet, verweigern wir uns aus Erfahrung umfassenden Konzepten. Nach der Selbstbesinnung der Moderne kreuzen sich misstrauische Epoché, zynisches Weiter-so und kynische Entsagung, die die ‚Projekte‘ verwarf150– und stoßen uns in einen Abgrund ohnmächtiger Lähmung bei allem, was individuell-pragmatische Lebensziele oder die Zwecke konkurrierender Rackets151 übersteigt: Vernunft verkleinert „aufs Format der Privatvernunft im Dienst an Individual-, Gruppen- und Systemegoismen.“152 Auch Peter Sloterdijk hat in seinem Essay Zorn und Zeit diese Gemengelage im Blick:

„Inzwischen haben die ‚Vielheiten‘, die Ausdifferenzierungen, die Singularitäten so viel Zulauf, daß bei ihren Trägern sogar das Bewußtsein der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einer einzigen ‚Menschheit‘ in Vergessenheit geraten könnte. […] Sogar die negative Utopie, die Erwartung einer weltweiten Naturkatastrophe ist außerstande, einen übergreifenden Horizont verbindlicher Aufbrüche zu stiften. Der Geist der Desolidarisierung, privat, lokal, national, multinational, imperial, reicht so tief, daß jede Einheit auf ihre Weise die eigene Verschonung für gewiß halten möchte, sollten auch die übrigen vom Mahlstrom verschlungen werden. Wie gefahrenträchtig die multi-egoistische Lage ist, werden die kommenden Jahrzehnte zeigen. Gehörte es zu den Lektionen des 20. Jahrhunderts, daß Universalismus von oben scheitert, könnte es zum Stigma des 21. Jahrhunderts werden, die rechtzeitige Ausbildung des Sinns für gemeinsame Situationen von unten nicht rechtzeitig zu schaffen.“153

Die Chancen stehen schlecht. Die geschilderte Gemengelage blockiert bereits im Ansatz theoretisch jeden Aufbruch, der praktisch ohnehin stets schwierig war. Nach dem Verlust des transzendenten Heils erweist sich das erhoffte immanente als nicht organisierbar und der Versuch, in einem emphatischen Handlungssinn Geschichte zu machen, als Illusion. Adressaten- und ziellos, theorie- und politiklos bleiben jene zurück, die das Schlechte sehen, aber einem vorgeblich Besseren nicht mehr folgen, geschweige denn eines erkennen können. Perspektivlos bleiben auch jene Erniedrigten und Beleidigten, denen einst die großen Erzählungen durchaus Hoffnung boten. Insofern ließe sich mit Sloterdijks „imaginärem Dialog mit Francis Fukuyamas Buch The End of History and the Last Man154 konstatieren:

„Wir sind in eine Ära ohne Zornsammelstellen mit Weltperspektive eingetreten. Weder im Himmel noch auf der Erde weiß man mit der ‚gerechten Wut des Volkes‘ noch etwas Rechtes anzufangen. […] Die vagabundierenden Dissidenzquanten scheinen nicht mehr zu wissen, ob sie noch eine Aufgabe haben. […] Die Empörung hat keine Weltidee mehr vorzuweisen.“155

„Am Anfang war das Wort ‚Zorn‘“156 – und die Tat, die Tat des Einzelnen, des Heros. Am Anfang der europäischen Literaturgeschichte war Achill. Ist er auch ein Modell nach dem „Ende der Geschichte“?

„Für die Alten war der Heroismus keine feinsinnige Attitüde, sondern die vitalste aller möglichen Stellungnahmen zu den Tatsachen des Lebens. In ihren Augen hätte eine Welt ohne Heldenerscheinungen das Nichts bedeutet […]. Der Heros […] liefert den Beweis, daß auch von menschlicher Seite her Taten und Werke möglich sind, sofern göttliche Begünstigungen sie zulassen – und allein als Tatentäter und Werkvollbringer werden die frühen Heroen gefeiert. Ihre Taten zeugen für das Wertvollste, was die Sterblichen, damals wie später, erfahren können: daß eine Lichtung aus Nicht-Ohnmacht und Nicht-Gleichgültigkeit in das Dickicht der naturwüchsigen Begebungen geschlagen worden ist. In Berichten von Taten leuchtet die erste gute Nachricht auf: Unter der Sonne ereignet sich mehr als das Gleichgültige und Immergleiche.“157

Achill ist kein Freund der Mittellagen und sicher kein ‚Schirmherr des Gewöhnlichen‘. Er „bewegt sich in einer von einem glücklichen Bellizismus ohne Grenzen erfüllten Welt“158, er „fährt in die Welt wie die Kugel in die Schlacht“159, „damit die Welt durch Neues und Rühmenswertes erweitert werde.“160 Achill steht für die Einheit von Wille und Tat, von Sinn und Zweck, menschlichem Antrieb und höheren Kräften, „die Konvergenz von Explosion und Wahrheit“161, für „die totale Expressivität“162, die „Identität des Menschen mit seinen treibenden Kräften“163, das „Einswerden mit dem puren Antrieb“164, „die Utopie des motivierten Lebens“165 in einer erfüllten Gegenwart166. Was für uns heutige, für die Alltagsmenschen unerreichbar ist, schickt sich ihm zu: Evidenz.167 Hier ist kein Platz für Zweifel, Zögern, Zagen: „Man versteht sofort, warum in solchen Augenblicken von zweiten Stimmen wenig zu hören ist.“168 Achill ist das Sehnsuchtsbild für alle, die der Sinnlosigkeit des Daseins, der angekränkelten Reflexivität, der Aufgabe der Begründung, der Diskussion eigener Grundsätze und fundamentaler Prinzipien entfliehen mögen, die „spüren, dass Diskussion nicht an sich gut ist, sondern allenfalls ein Zweitbestes. Wer sie nötig hat, dem fehlt das Beste: die sich von selbst verstehende Gewissheit, das wortlose Einverständnis. Und wer sehnte sich nicht danach?“169

Vielleicht, ja wahrscheinlich sehnten sich danach auch jene 19 Männer, die am 11. September 2001, bewaffnet mit Teppichmessern, eine Weltmacht herausforderten und in einen Zugzwang setzten, der die politische Weltlage bis heute bestimmt.170 Mehr noch, mit einer Formulierung Christoph Türckes: Sie suggerierten, dies Ersehnte zu haben.171 Kein Zweifel: Das Tun jener Männer war geschichtsmächtig. Aber haben sie wahrhaftig Taten vollbracht und Geschichte gemacht? Oder handelt es sich in einem fundamentalen Sinne um Untaten?

Im 21. Jahrhundert wüten die Menschen gegen die selbstverschuldete Ohnmacht, verschärft sich die aufgezeigte Dialektik von Selbstermächtigung und Ohnmacht. Wer wütet, verdrängt, was Kritik und Denken ihm angetan haben.172 Unterdrückt wird, was sich eigentlich nicht mehr unterdrücken lässt: Zweifel, die Zersplitterung unseres Daseins, das Dröhnen zweiter, dritter, vierter Stimmen, Reflexivität und Ambiguität. Eben deshalb mag der Terror sein Tun nicht überleben. Er fürchtet sich vor der Stille nach dem Knall. In ihrem Äther schwirren die Stimmen, die die Explosion übertönte. Das Martyrium als Selbstmordattentat ersetzt den Sinn, der in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts verloren ging. Es zeugt vom Willen zum Untergang. Selbstmächtigkeit wird beschworen in ihrer letzten Preisgabe. Die Beschwörung der Evidenz und des machtvollen Agierens trägt aktiv nihilistische Untertöne – nicht nur beim nihilistischen Terror, der sich in das Gewand des Glaubens hüllt. Sie fanden sich in George W. Bushs apokalyptischer Endzeitrhetorik ebenso, wie sie aktuelle postdemokratische Prozesse prägen. Das Tun wird zum Selbstzweck und seine Macht beschworen, wo das Handeln zu einem Zweck unmöglich wurde.173 Nicht die Geschichte ist am Ende, aber offenbar die Hoffnung der Moderne, sie planvoll, gezielt gestalten zu können. Während seit der Neuzeit der Glaube verdampft, einen transzendenten Sinn aus der Geschichte herauslesen zu können, scheitert auch der Versuch der Moderne, einen Sinn in sie hineinzulegen. Das

„Auftauchen des Terrorismus […] darf gerade nicht als Indiz für eine ‚Rückkehr‘ der Geschichte verstanden werden. […] Insbesondere der sogenannte globale Terrorismus ist ein durch und durch posthistorisches Phänomen. Seine Zeit bricht an, wenn sich der Zorn der Ausgeschlossenen mit der Infotainmentindustrie der Eingeschlossenen zu einem Gewalttheatersystem für letzte Menschen verbindet. Diesem Terrortrieb einen geschichtlichen Sinn andichten zu wollen wäre ein makabrer Mißbrauch erschöpfter Sprachreserven.“174

Achill gibt es für uns nur noch, wie ihn Wolfang Petersens Film Troja erahnen lässt: als todessüchtigen Nihilisten175, dessen Tun in eins fällt mit seinem Untergang und dessen letzte Sehnsucht es ist, dass sein Name eine Zeit lang überdauert176. Mit Petersens Agamemnon: „The man wants to die.“

Peterchens Mondfahrt - Peter Sloterdijk, die Religion und die Theologie

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