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Turnvater Peter

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„Wir sagen nicht mehr, die Welt ist alles, was von Gott so eingerichtet ist, wie es ist – nehmen wir es hin; wir sagen auch nicht, die Welt ist ein Kosmos, ein Ordnungsjuwel – fügen wir uns an der richtigen Stelle ein. Statt dessen meinen wir, die Welt ist alles, was der Fall ist. Nein, auch das ist noch zu scholastisch ausgedrückt, denn in Wahrheit leben wir, als wollten wir uns zu dem Satz bekennen: Die Welt ist alles, womit wir bis zum Zerbrechen experimentieren.“208

Nietzsche hatte sie prophezeit, die „Menschen der Experimente“, die „härter sein [werden …], als humane Menschen wünschen mögen,“209 und schließlich erkennen: „Wir dürfen mit uns selber experimentiren! Ja die Menschheit darf es mit sich!“210 Im Experiment ist Heil, im Experiment ist Leben, im Experiment ist – keine Wahrheit. Gott ist tot, metaphysischen Hintergedanken die Legitimität entzogen: In einer solchen Welt ist ‚Wahrheit‘ kein sinnvoller Ausdruck mehr. An seine Stelle treten andere, ‚Viabilität‘ zum Beispiel. Durchs Experiment, über trial and error müssen gangbare Wege gesucht werden, die das Überleben sichern – ohne Rücksicht. „Die grössten Opfer sind der Erkenntniss noch nicht gebracht worden“211, schreibt Nietzsche. Seit dem 20. Jahrhundert sind wir auf dem Weg.

„Schon die frühen Christen begannen, ihr ganzes Leben in ein Experiment umzuwandeln, um sich dem Gottmenschen anzugleichen: nos autem in experimentis volvimur schreibt Augustinus in seinen Bekenntnissen [conf. 4, 10] – nur Gott bleibt sich immer gleich, wir aber werden gewälzt von Versuch zu Versuch. Die Neuzeitmenschen fügten dem asketischen Experimentalismus der Alten den technischen und artistischen, schließlich den politischen hinzu. […] Essay und Experiment sind nicht bloß literarische und wissenschaftliche Verfahren, sie prägen den Daseinsstil der Moderne im ganzen – nach 1789 auch den der großen Politik und der nationalen und globalen Ökonomie. Experimentator ist, wer es auf jedes Ergebnis ankommen läßt, überzeugt, wie er ist, daß das Neue immer Recht hat.“212

Millionen Menschen wurden in den Gesellschaftsexperimenten des 20. Jahrhunderts Opfer dieser Überzeugung. Wer dessen gewahr wird und sich die Nähe zwischen experimentum und exercitium in Peter Sloterdijks Du mußt dein Leben ändern vergegenwärtigt, der dürfte sich wundern, mit welchen affirmativen Obertönen Sloterdijk seinen jüngsten Helden präsentiert und aus der Not eine Tugend zu machen scheint. „Der Held der folgenden Geschichte, der homo immunologicus, […] ist der mit sich selbst ringende, der um seine Form besorgte Mensch – wir werden ihn als den ethischen Menschen näher charakterisieren oder besser: als den homo repetitivus, den homo artista, den Menschen im Training.“213 Sloterdijk sucht, unter immunologischer Leitperspektive214, „das gesamte menschliche Feld im Licht der Allgemeinen Asketologie zu re-examinieren. Deren Gegenstand, das implizite und explizite Übungsverhalten der Menschen, bildet den Kern sämtlicher historisch manifesten Anthropotechniken“215. In der Tradition der „Meister des Zweifels“216 will Sloterdijk, mit eigener Akzentsetzung, durch ‚Explizitmachung des Impliziten‘217 die „religiösen, spirituellen und ethischen Tatsachen in die Sprache und Optik der allgemeinen Übungstheorie“218 übersetzen und „den Menschen als das Lebewesen […] enthüllen, das aus der Wiederholung entsteht.“219 Religion, Ethik etc., all das existiert nicht, nur vordergründig. „Womit wir es tatsächlich zu tun haben, […] sind mehr oder weniger mißinterpretierte Übungssysteme und Regelwerke zur Selbstformung im inneren wie äußeren Verhalten. Unter dem Obdach solcher Formen arbeiten die Praktizierenden an der Verbesserung ihres globalen Immunstatus“220.

In seinem Buch Du mußt dein Leben ändern bietet Sloterdijk ein faszinierendes Kaleidoskop dieser Exerzitien, auch und gerade im Blick auf die Moderne und ihre Schattenseiten. Er sieht schon seit Langem, dass „die Moderne […] längst den Raum der Selbsterhaltungsvernunft verlassen [hat]“221, in ihrer „Selbsterhaltung zum Tode“222, im Interesse der Selbststeigerung des Menschen. Er spürt, dass die europäische Aufklärung mehr ‚hat‘ als nur eine Formkrise: Von Beginn an war sie „[e]in Experiment auf der schiefen Ebene“223. Sloterdijk zeigt die „Umwandlung Europas in ein Trainingslager für menschliche Steigerungen an einer Vielzahl von Fronten“224 und weiß um die realen Fronten dieser Selbststeigerung, in deren Gräben die Menschen, die dem „intensive[n] Appell zur Erhöhung des Lebens“225 folgten, im Dreck krepierten – kaum unterscheidbar vom Schlamm, der sie umgab. Staub bist du, und zum Staub wirst du zurückkehren, gerade dort, wo du dich in die Höhe streckst? In seinem Buch umkreist Sloterdijk durchaus affirmativ den titelgebenden Imperativ: Du mußt dein Leben ändern. War es aber nicht auch und gerade jener Imperativ, der nach dem Tode Gottes „eine bedingungslose Überforderung aufrichtet[e]“226 und jene gar nicht „salutogene[n] Energien“227 freisetzte, die zur Katastrophe führten?228 Sein eigenes Heil, den Sinn seines Daseins selbst verbürgen zu müssen, das hat den Menschen wahrhaftig überfordert!

Mitunter entsteht der Eindruck, dass Sloterdijk sich vom ‚Zauber dieser Kämpfe‘229 anstecken ließ; es erhebt sich zwingend die normative Frage230 nach den Kriterien: Wie lassen sich „mehr oder weniger ausbreitungsfähige, mehr oder weniger ausbreitungswürdige Übungssysteme“231 unterscheiden? Ja, was ist ein ‚ausbreitungswürdiges Übungssystem‘? Kann mit Camus der Ruf zum Maßhalten und das von Sloterdijk seit einiger Zeit im Gefolge von Bazon Brock u. a. vertretene, aber wenig ausgeführte Konzept der ‚Zivilisierung‘ hier möglichen Auswüchsen wehren? Harten Nachfragen standhalten? Wie weit trägt seine Forderung nach einer „Makro-Struktur globaler Immunisierungen“232, d. h. nach Ausbildung einer „Ko-Immunitätsstruktur unter respektvoller Einbeziehung der Einzelkulturen, der Partikularinteressen und der lokalen Solidaritäten“233, um „in täglichen Übungen die guten Gewohnheiten gemeinsamen Überlebens anzunehmen“234? Angesichts all des oben Gesagten? Unter dem Eindruck, dass Teile von Sloterdijks Denken gefährliche Eigendynamiken entfalten können?235

Zwei Dinge gilt es meiner Ansicht nach mit Sloterdijk festzuhalten. Erstens: „Die einzige Tatsache von universaler ethischer Bedeutung in der aktuellen Welt ist die diffus allgegenwärtig wachsende Einsicht, daß es so nicht weitergehen kann.“236 – „Die Klinge der Unterscheidung ist die Apokalypse“237.

Zweitens: „Hat man begriffen, wie jede ausgeführte Geste vom zweiten Mal an ihren Akteur formt und fortbestimmt, so weiß man auch, warum es keine bedeutungslose Bewegung gibt. Die Wiederholung hat in der anthropologischen Aufklärung ihre Unschuld verloren: Auf ihr ruht, wie man explicite begreift, der Bestand der Welt.“238 Sisyphos ist die personifizierte Wiederholung. Was er repetiert, was er wieder und wieder wälzt, bleibt nicht ohne Folgen: „Ein Gesicht, das sich so nahe“ – immer und immer wieder – „dem Stein abmüht, ist selbst bereits Stein!“239 Damit ist „die Frage neu aufzunehmen, wie das Wiederholungswürdige vom Nicht-Wiederholungswürdigen zu unterscheiden sei.“240 Wie lässt sich „die schlechte Wiederholung gegen die gute tauschen“241? Erlaubt Sloterdijks asketologischer Ansatz und dessen Held, der homo immunologicus et repetitivus et artista, eine tiefere Einsicht und Kritik der Moderne? Oder bietet er eine Fortsetzung der Legitimation neuzeitlicher Selbstermächtigung mit anderen Mitteln? Öffnet Sloterdijks Ansatz Auswege aus den Aporien der Moderne? Oder wird hier der Bock zum Gärtner gemacht? Der Wiederholungstäter gerecht gesprochen? Wie viel Zynismus steckt in diesem realistischen Optimismus der Verzweiflung? Wie viel affirmative Infamie der Macht und der Ermächtigung des im Letzten Machtlosen?

‚Wie fortsetzen?‘ ist die Frage der alternden Moderne. Après nous le déluge? Nach uns die Sintflut?242 Oder ließe sich in einem normativ-emphatischeren Sinn wenigstens noch Einigkeit darüber erzielen: So soll es nicht weitergehen? Aber was wäre dazu nötig? Die bedingungslose Überforderung durch den absoluten Imperativ: „Du mußt dein Leben ändern“? Die Verpflichtung auf das Unmögliche?243 Oder ein paar gnadentheologische Dehn- und Gelassenheitsübungen244 in der Ausrichtung auf das Unbedingte, den Unbedingten? Doch allzu leicht darf, ja, kann es sich auch die Theologie nicht machen. Sie behält vor dem Hintergrund des Gesagten Büchners Danton im Ohr:

„Der Mann am Kreuze hat sich’s bequem gemacht: es muss ja Ärgernis kommen, doch wehe dem, durch welchen Ärgernis kommt. Es muss, das war dies Muss. Wer will der Hand fluchen, auf die der Fluch des Muss gefallen? Wer hat das Muss gesprochen, wer? Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet? Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst! Die Schwerter, mit denen Geister kämpfen, man sieht nur die Hände nicht wie im Märchen.“245

Wer hat das Muss gesprochen, dieses Muss, das den Menschen befahl, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, das ihnen zum Schicksal wurde, wer? „Wer darf es sagen?“ – „Wer kann es hören?“ – „Wer wird es tun?“246 – Wer kann es ertragen?

Peterchens Mondfahrt - Peter Sloterdijk, die Religion und die Theologie

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