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Gisbert Greshake | Freiburg i.Br.

geb. 1933, Priester,

Prof. em. für Dogmatik

gisbert.greshake@theol.uni-freiburg.de

Wegbereiter gegenwärtiger Spiritualität

Zum 100. Todestag von Charles de Foucauld

Als Charles de Foucauld – der selige Bruder Karl – am 1. Dezember 1916 von aufgehetzten libyschen Senussi, welche in die durch Frankreich kolonialisierten Sahara-Regionen Unruhe zu bringen suchten, erschossen wurde und einsam und verlassen im Sand verblutete, deutete nichts darauf hin, dass er einer der großen Wegbereiter gegenwärtiger Spiritualität sein würde. Erst allmählich erschloss sich das „Neue“ seiner Botschaft; dann aber wurde vieles davon so sehr zum integralen Gehalt kirchlicher Spiritualität, dass heute viele nicht einmal mehr wissen, dass es auf die geistliche Gestalt Foucaulds (mit)zurückgeht. Darum liegt es nahe, zum 100. Todestag einmal eine Reihe von „Innovationen“ zusammenzustellen, die sich auf ihn zurückverfolgen lassen.

Einheit von Kontemplation und Aktion

Die Spiritualität der sog. École française, von der das christliche Abendland jahrhundertelang weithin geprägt wurde, war charakterisiert durch den Vorrang von Kontemplation und Anbetung vor aller äußeren Praxis sowie durch das Ideal einer am Individuum orientierten Nachfolge des „verborgenen“ und demütigen Lebens Christi. Genau auf dieser Linie begann auch Bruder Karl seinen eigenen geistlichen Weg. Als er sich 1900 in die nordafrikanische Sahara begab, wollte er in der Abgeschiedenheit und Stille der Wüste das Ideal verwirklichen, „das verborgene Leben Jesu in Nazaret“ zu führen. Aus dieser Phase seines Lebens finden sich schriftliche Äußerungen, die noch ganz und gar an die kontemplativen Erfahrungen der frühchristlichen Wüstenväter und -mütter erinnern. So hört Bruder Karl im Gebet Gott zu sich sprechen: „Du musst alles hinter dich werfen, was nicht ich bin, (…) dir hier eine Wüste schaffen, wo du allein bist mit mir (…) Gehe ganz in mir auf, verliere dich in mir.“1 Auf der gleichen Linie stehen die Worte: „Man muss die Wüste durchqueren und in ihr verweilen, um die Gnade Gottes zu empfangen (…) Dort treibt man alles aus sich heraus, was nicht Gott ist (…) In der Einsamkeit eines Lebens allein mit Gott (…) schenkt Gott sich jedem ganz und gar, der sich Ihm auf diese Weise auch ganz und gar schenkt.“2

Doch beginnt bereits während seines Aufenthalts in Beni-Abbès ein allmählicher Übergang vom „mönchischen“ zum „aktiven“ Leben. Er selbst schreibt: „Ich sehe mich mit Staunen vom kontemplativen zum seelsorgerlichen Leben übergehen. Und zwar ganz gegen meine Absicht, nur weil die Leute es brauchen.“3 Diese Umformung gewinnt ab ca. 1905, dem Jahr, da er sich bei den Touareg niederlässt, ein zunehmendes Profil. Zwar bleibt der kontemplative Grundzug seines Lebens erhalten – viele Stunden verbringt er noch immer vor dem Allerheiligsten, um sich für die Menschen seiner Umgebung zu „heiligen“ und sie stellvertretend vor Gott hinzutragen –, doch führen ihn die neuen „Verhältnisse“, in denen er den Anruf Gottes an sich erkennt, über die kontemplative Lebensform hinaus. Indem er unter den Touareg ganz und gar „präsent“ ist und ihr Vertrauen und ihre Freundschaft gewinnt, wird er bei ihnen mehr und mehr das, was heute (!) Entwicklungshelfer genannt werden könnte. Er ist der Berater des Amenokal, des wichtigsten Stammeschefs der Touareg, in politischen und ökonomischen Angelegenheiten. Er gibt Ratschläge für die Landwirtschaft und für die medizinische Betreuung; er lehrt die Touareg-Frauen Stricken und Häkeln. Vor allem aber lernt er die Sprache, sammelt die literarische Tradition der Touareg (allein über 5000 Gedichtverse!) und arbeitet bis zur Erschöpfung an einem erst nach seinem Tod veröffentlichten, bis heute unübertroffenen vierbändigen, über 2000 Seiten umfassenden Wörterbuch Tamaschek – Französisch.

Mit all dem wandelte sich die Perspektive dessen, was bisher „Spiritualität der Wüste“ genannt wurde. Die Wüste ist nicht mehr (nur) der Ort der Abgeschiedenheit und des Schweigens, sondern der Ort, „Gutes zu tun“, wie es in geradezu naiver Stereotypie unendlich oft in den Reisenotizen, Aufzeichnungen und Briefen Bruder Karls heißt. Gemeint ist mit „Gutes tun“, dass er den Menschen seiner Umgebung, aber auch denen, die er auf seinen Reisen zu den Oasen, Camps und Wasserstellen trifft, auf unspektakuläre, aber herzliche Weise beisteht. Aufgrund der Kolonialisierung Nordafrikas beginnt das alte Wirtschafts- und Sozialsystem zu zerbrechen; Heuschrecken verwüsten die Felder, über Jahre hinweg bleibt der Regen aus; Hunger ist die Folge. So gibt es viel Armut und Elend. Angesichts dieser Not gibt Bruder Karl den Leidenden, Hungernden und Bedürftigen Lebensmittel, Medikamente, kleine Geldbeträge. Er verbindet mit guten, tröstlichen Worten auch kleine Geschenke, wie z.B. Nadeln, Scheren und dergleichen mehr. Das „Gute“, was er tut, ist nichts Großartiges; er versteht es selbst nur als „Zeichen“, nämlich als Zeichen seiner Liebe und Zuwendung und als allererste Vorbereitung der Evangelisierung. Dieses „Gutes tun“ ist ihm so wichtig, dass er darüber seine Sehnsucht nach einem mönchischen Leben zurückstellt und stattdessen mit französischen Militärs oder Touareg-Karawanen gewaltige Exkursionen durch die Wüste unternimmt.

Auch seine Einsiedeleien, die eigenen und diejenigen, die er für künftige Brüder plant, sollen Ausstrahlungsorte sein, von wo aus man den Menschen in ihrer „Wüstenexistenz“ hilfreich zur Seite steht. So heißt es in einem seiner vielen „Regelentwürfe“: „Die Kleinen Brüder (…) schenken Gastfreundschaft, materielle Unterstützung und im Krankheitsfall Heilmittel und Pflege einem jeden, der sie darum bittet (…) So sollen alle im weiten Umkreis genau wissen, dass die Bruderschaft das Haus Gottes ist, wo allzeit jeder Arme, jeder Fremde, jeder Kranke mit Freude und Dankbarkeit eingeladen, gerufen, erwünscht und aufgenommen ist. Und zwar durch Brüder, die ihn lieben, ihm herzliche Zuwendung erweisen und die Aufnahme unter ihr Dach wie den Gewinn eines kostbaren Schatzes betrachten.“4

Nimmt man hinzu, dass Bruder Karl sich bis zum Letzten für die „Entwicklung“ der Touareg engagiert, so zeigt sich bei ihm tatsächlich ein ganz neuer Schritt im Verständnis der „Wüste“: Sie wird bei ihm zur „Chiffre“ für das „Gegenwärtigsein“ (présence) unter den Menschen und für die Herausforderung, ihnen tatkräftig zur Seite zu stehen. Die „Dämonen der Wüste“ (wie sie das frühe Mönchtum erfahren und beschrieben hat) sind für Bruder Karl nicht „leibhaftige böse Geister“, sondern Armut und Krankheit, die Misere der Menschen, der Verlust ihrer Rechte und Würde im Kolonialsystem, ihre (mit heutigen Worten gesagt) „Unterentwicklung“ in materieller, geistiger und v.a. religiöser Hinsicht. Wüste ist damit nicht mehr (nur) Ort der Gottesbegegnung, insofern sie für das still-traute Alleinsein mit Gott steht, sondern sie ist es primär in dem Sinn, dass man hier Christus im notleidenden Bruder, in der angefochtenen Schwester begegnet und ihnen, so gut es geht, geistlich (in stellvertretendem Gebet), aber eben auch materiell, durch tatkräftigen Einsatz, zu Hilfe kommt. Von den über 6000 Briefen, die von Foucauld erhalten sind, richten sich ca. 500 an französische Militärs, in denen er sich in kolonialpolitische Angelegenheiten „einmischt“. Er legt Pläne für eine Verwaltungsreform der Sahara-Gebiete vor und protestiert gegen Vergewaltigungen, willkürliche Konfiszierungen, verschleppte oder ungerechte Rechtssprechung. Nicht von ungefähr ist Mt 25 einer seiner am häufigsten angeführten Bibeltexte.

Zu Recht bemerkt Jean-Francois Six zu diesem neuen Verständnis von Wüste: „Foucauld lädt dazu ein, sich wie der Sohn Gottes mit letzter Konsequenz auf die Grenzen der menschlichen Existenz einzulassen, die Wüste und damit Mühe und Hoffnung, Sterben und Auferstehen eines jeden (…) zu teilen,“5 v.a. das Leben derer, die am Rande stehen, das Leben der Armen, Kleinen, Verachteten, Asylanten. Wüste steht nun für die vielgestaltigen Formen der Not und des Elends, für die Welt, die als unbehaust und ungeborgen, als unfruchtbar und sinnlos erscheint. Diese Wüste, die Wüstenexistenz der Welt, der Gesellschaft und des eigenen Lebens, gilt es, geistlich zu bestehen, nicht nur in Gebet und Kontemplation, sondern in der Praxis solidarischen Handelns. Diese Wüste provoziert dazu, den Glauben in der Einheit von Kontemplation und Tun zu leben und in Wort und Praxis zu bezeugen. Das ist das Neue am geistlichen Wüstenverständnis von Bruder Karl, und damit ist sogar eine gewisse Fokussierung der Glaubenspraxis vor aller Kontemplation gegeben.

Dieses neue Verständnis Bruder Karls wurde von den Gemeinschaften der Geistlichen Familie Charles de Foucaulds aufgegriffen, v.a. in den verschiedenen Kommunitäten der Kleinen Brüder und Kleinen Schwestern. Sie leben „mitten in der Welt“ – so die Programmschrift von René Voillaume, dem Gründer einiger dieser Gemeinschaften. „Mitten in der Welt“ ist nicht als Ortsangabe gemeint, sondern als emphatische Herausstellung der konkreten Strukturen unserer Gesellschaft, wie die Mehrheit der Menschen sie erfährt. Es ist eine Gesellschaft, wo Menschen – nicht selten enttäuscht und einsam, krank und alt – um ihr nacktes Dasein kämpfen müssen, um Arbeit, Brot und Wohnung, wo sie ihr Leben im alltäglichen Trott verbringen und keine großen Perspektiven kennen, aber auch wo sie die „ewig-gleichen“ Sehnsüchte, Wünsche, Hoffnungen und Freuden in sich tragen und miteinander teilen, wo sie sich gegenseitig beistehen und einander solidarisch sind. Mitten unter ihnen und gleich ihnen haben die Christen zu leben und diese unsere gemeinsame Welt als große „Wüste“ zu bestehen. Von daher kommt es in der Geistlichen Familie Charles de Foucaulds zur programmatischen Formulierung: „In deiner Stadt ist deine Wüste“ (Carlo Carretto), eine Formel, die zu den charakteristischen Grundworten gegenwärtiger Spiritualität zählen dürfte, da sie gleichzeitig auch von verschiedenen anderen geistlichen Gemeinschaften aufgegriffen wurde.6

Diese von Bruder Karl im Verlauf seines Lebens neu vollzogene Einheit von Kontemplation und (öffentlicher!) Aktion, von intensivem Vor-Gott-Stehen und radikaler présence unter den Menschen, wurde in der ersten Hälfte des 20. Jhs. von einer Reihe geistlicher Menschen und spiritueller Bewegungen je eigenständig neu entdeckt und mitvollzogen und dürfte heute zum Mainstream gegenwärtiger Spiritualität gehören.

Eine neue Sicht der Evangelisierung

Das apostolisch-diakonische Engagement von Bruder Karl ist letztlich auf das eine große Ziel ausgerichtet, den Menschen das Evangelium zu bringen. Aber dies hat – so erkennt er deutlich im hautnahen Umgang mit der islamischen Welt – eine Reihe von wesentlichen Voraussetzungen. Vor allem muss der Evangelisierung die „Präevangelisierung“ vorausgehen. Diese Idee findet sich zwar nicht dem Begriff, wohl aber der Sache nach in aller Klarheit erstmals bei Bruder Karl. So schreibt er an seinen Freund Henri de Castries, dass nach seiner Einschätzung die Stunde der Missionierung noch nicht gekommen sei, wohl aber die Stunde der „Arbeit, die Evangelisierung vorzubereiten (travaille préparatoire à l’évangélisation): nämlich Vertrauen zu wecken, Freundschaft zu schließen, Zutraulichkeit zu erreichen, einander Bruder zu sein.“7

Elemente einer solchen Präevangelisierung sind für Foucauld auf Seiten der zu Missionierenden: ein ausreichender Lebensunterhalt und ein Minimum an „Lebensordnung“, wie sie etwa einer „natürlichen Ethik“ entspricht; auf Seiten der Missionierenden: wirkliche „Präsenz“ unter den Menschen, denen man das Evangelium bringen will, d.h. Präsenz durch gute Sprachkenntnisse, solidarisches und vorbehaltloses Mitleben, Freundschaft, Hilfsbereitschaft, Inkulturation des bisherigen Lebens und Denkens in den zu missionierenden neuen Raum hinein; Bereitschaft, das Evangelium eher durch das eigene Leben als durch Worte zu verkünden. Dabei ist dies Letzte wohl das eigentlich Entscheidende: Christen, die ihren Glauben weitergeben wollen, müssen „durch ihr Beispiel eine lebendige Predigt sein“ und durch ihr Leben „ein lebendiges Evangelium“: „Die Menschen, die Jesus fern sind (…), sollen ohne Bücher und ohne Worte durch den Anblick ihres Lebens das Evangelium kennenlernen.“8 Auf dieser Linie stehen auf dem Grabstein von Bruder Karl in der Nähe der algerischen Oasenstadt El Golea seine programmatischen Worte: „Ich will das Evangelium durch mein ganzes Leben hinausschreien (crier)“.

Mit dem evangelisierenden Lebenszeugnis hat einherzugehen, ja diesem sogar vorwegzugehen, der stellvertretende Glaubens- und Gebetseinsatz für die Menschen, unter denen der Christ lebt. Hier lautet eines der markantesten Worte Bruder Karls: „Wenn wir die Seele eines Nichtglaubenden retten, dann – wenn es so erlaubt ist zu reden – retten wir Jesus vor der Hölle und geben ihm den Himmel (…) Die Heiligung des Volkes dieser Region ist in meine Hände gelegt! Es wird gerettet, wenn ich ein Heiliger werde. Und es ist Jesus, den ich vor der Hölle rette und dem ich den Himmel öffne, wenn ich ein Heiliger werde.“9

Dieses Charakteristikum foucauldscher Spiritualität „Evangelisierung durch (wortloses) Glaubenszeugnis und Stellvertretung“ spielt in der seit Papst Johannes Paul II. inaugurierten Bewegung für eine „Neuevangelisierung“ sowie bei heutigen Reflexionen über die Zukunft der Kirche, so weit zu sehen ist, keine große Rolle, obwohl diese An-Regung nach wie vor von allerhöchster Bedeutung sein dürfte.

Neuentdeckung des Laien

Bei Überlegungen zur Evangelisierung geht Bruder Karl ein weiteres auf: Da er vergeblich nach Brüdern sucht, die mit ihm gemeinsam die Aufgabe der „Präevangelisierung“ und „Evangelisierung“ übernehmen könnten, bricht sich in ihm der Gedanke Bahn, Laien, vorbildliche Christen, dafür zu gewinnen, sich unter den Moslems Afrikas als „Landwirte, Siedler, Kaufleute, Handwerker, Grundbesitzer usw.“ niederzulassen. „Sie sollen durch ihr Beispiel, ihre Güte, ihre Kontaktfreudigkeit den Ungläubigen den christlichen Glauben anziehend machen“10 und „durch ihr Beispiel eine lebendige Predigt sein: Der Unterschied zwischen ihrem Leben und dem der Nichtchristen muss Aufsehen erregen, wie es der Wahrheit entspricht. Sie sollen ein lebendiges Evangelium sein: Die Menschen, die Jesus fern sind, vor allen Dingen die Ungläubigen, sollen ohne Bücher und ohne Worte durch den Anblick ihres Lebens das Evangelium kennenlernen.“11

Foucauld ist davon durchdrungen: „Überzeugte Christen, die unter den Ungläubigen leben, wird brüderliche Gemeinschaft zu einer Art Laienmissionaren machen.“12 „Wir brauchen Priszillas und Aquilas [Mitarbeiter des Apostels Paulus; Anm. GG]; sie müssen eins sein untereinander; sie müssen einander kennen – geheimnisvolles Priestertum des Gläubigen, der sich zum Opfer darbringt und Jesus als Opfer darbringt.“13 Auf der gleichen Linie liegt auch folgender vorwärtsweisender Text: „Die Welt der Kirche und die Welt der Laien wissen so wenig voneinander, dass neben den Priestern Laien gebraucht werden, die sehen, was der Priester nicht sieht, die dorthin vordringen, wohin er nicht vordringen kann, die zu denen gehen, welche ihn fliehen, die durch einen wohltätigen Kontakt evangelisieren, durch eine auf alle überströmende, eine immer hingabebereite Liebe.“14

Zur Gründung einer solchen missionierenden Laiengemeinschaft – damals eine unerhört neue Idee – reiste Bruder Karl verschiedentlich nach Frankreich. Allerdings umfasste die Gemeinschaft bei seinem Tod nur 49 Mitglieder, die zwar in seinem Anliegen beten und opfern wollten, sich jedoch zu einer Niederlassung in Afrika nicht berufen fühlten.

Zwar wurde die „Entdeckung“ des Laien seitens Foucaulds durch das II. Vatikanische Konzil noch ein ganzes Stück weitergeführt. Doch dürften die diesbezüglichen konziliaren Aussagen, die zu einem Großteil von französischen Theologen (Yves Congar u.a.) inspiriert waren, nicht ohne Einfluss von Bruder Karl zustande gekommen sein.

Neueinschätzung der Ehe

Zugleich mit der Neueinschätzung des Laien wird auch die Ehe von Bruder Karl neu bewertet. Über weite Strecken der Kirchen- und Glaubensgeschichte hinweg galt sie als Lebensform im Vergleich zu der der Ehelosigkeit bzw. Jungfäulichkeit als geringwertiger und als dem Evangelium weniger entsprechend. Auch hier zeichnet sich bei Bruder Karl ein radikaler Umbruch ab und zwar in der Beziehung zu Louis Massignon (1882–1962).15 Dieser erste große Islamwissenschaftler der Neuzeit war bei seinen Marokko-Studien auf die frühen Forschungsarbeiten Foucaulds gestoßen. Davon fasziniert, übersandte er ihm seine Diplomarbeit und erhielt dafür von ihm ein kurzes Dankesschreiben, das mit der Gebetszusage Bruder Karls schloss. Nach dieser ersten schriftlichen Begegnung entfaltet sich ab 1909 zwischen beiden ein lebhafter Briefwechsel, in dem Foucauld so etwas wie die Rolle eines Geistlichen Begleiters übernimmt. Mehr noch: Foucauld versucht, Massignon mit allen Mitteln dafür zu gewinnen, nach Tamanrasset zu kommen und mit ihm das Leben zu teilen, ja gewissermaßen sein „Nachfolger“ zu werden.

Aber Massignon kann sich nicht entscheiden und bleibt hin und her gerissen, bis er sich schließlich im Spätsommer 1913 in eine Ehe „stürzt“. Paul Claudel, der gleichfalls in Briefwechsel mit Massignon steht, bringt seine maßlose Enttäuschung zum Ausdruck. Um den Kontrast zwischen dessen Reaktion und der von Foucauld zu ermessen, hier seine Worte: „Warum sollte ich nicht mein Bedauern darüber zum Ausdruck bringen, dass sie Ihrerseits diesen Weg der Mittelmäßigkeit [gemeint ist die beabsichtigte Ehe; Anm. GG] einschlagen, durch den wir alle waten. Ach, von Ihnen hätte ich anderes erwartet! (…) Wirklich und wahrhaftig, es bereitet mir Kummer, wie Sie den platten, mittelmäßigen Weg einschlagen, den ich selber gehe. Ich war so glücklich bei dem Gedanken, dass Sie über mich hinausschreiten, dass es Seelen gibt, die stärker sind als ich und Gottes weniger unwürdig.“16 In diesen Worten äußert sich nachdrücklich der damalige Mainstream der katholischen Eheeinschätzung („Weg der Mittelmäßigkeit“). Aber auf diesem Hintergrund erhält gerade auch die ganz andersartige Einstellung und Reaktion Charles de Foucaulds ihr volles Relief. Man bedenke: Dieser hatte seine ganze Hoffnung auf das Kommen Massignons gesetzt, nachdem schon so viele andere Versuche, Brüder für ein gemeinsames Leben zu finden, fehlgeschlagen waren. Verärgerung oder wenigstens Ausdruck von Enttäuschung wären mehr als verständlich gewesen. Aber Bruder Karl reagiert ganz anders. Im seinem ersten Brief nach Kenntnis der Entscheidung Massignons heißt es:

„Auch ich rate Ihnen, die Möglichkeit der Heirat ernsthaft in Betracht zu ziehen. Das einzig Notwendige, das einzig Vollkommene besteht darin, den Willen Gottes zu tun, worin immer er besteht. Man muss nach dem Willen Gottes suchen und danach handeln. Gott will, dass viele Menschen in der Ehe leben. Er will, dass sie darin heilig werden, dass sie sich darin vereinen und mit ihm aufs Innigste eins werden (…) Der heiligste, der schönste, vollkommenste und glücklichste Stand für uns ist der, den Gott für uns will, worin immer er auch besteht.

Wenn Gott will, dass Sie in der Ehe leben, finden Sie in diesem Stand den besten Weg für Ihre Heiligung, für die Verherrlichung Seines Namens, für das Mitwirken an der Ankunft Seines Reiches in Ihnen und in den anderen, für die Erfüllung Seines Willens auf Erden, so wie die Engel ihn im Himmel erfüllen.

Wie groß und schön ist doch die Berufung des Ehegatten, der seine Gattin auf dem Lebensweg zur ewigen Seligkeit begleitet, der ihr beisteht bei der Geburt von Kindern mit unsterblichen Seelen, die selbst wieder Eltern unsterblicher Seelen sein werden, die sie durch ihre Erziehung zu Gott und zum Himmel hinführen …

Ich meinerseits denke, dass Sie für die Ehe gemacht sind. Ich glaube, dass Sie auf diesem Weg die tiefste Einheit mit Gott und die größte innere Reinheit finden werden. Lassen Sie sich durchdringen von der Reinheit und Frömmigkeit derer, an die Sie sich binden werden. Mit einem Leben im Ausstrahlungsfeld einer so schönen, reinen und frommen Seele werden Sie den Menschen am meisten Gutes tun können. Die Ehre Gottes, unser aller Ziel, besteht in Ihrer Heiligung und im Wohl der Menschen. In liebender Verbundenheit im Herzen Jesu fr. Ch. de Foucauld.“17

Die Art und Weise, wie Foucauld sich hier im religiösen Sprachstil seiner Zeit ausdrückt, ist nicht mehr die unsrige; es kommt hinzu, dass der „alte Soldat“ Foucauld über keine „elegante“ Sprache verfügte. Dennoch: Man wird lange suchen müssen (und dabei vielleicht nicht einmal fündig werden), um in der damaligen Zeit ähnlich positive, ja höchste Worte über die Ehe zu finden. Entgegen der bisherigen Tradition ist für Foucauld die Ehelosigkeit nicht mehr einfach das gegenüber der Ehe Höhere, sondern alles kommt auf den „Willen Gottes“ an, d.h. auf das Erkennen und Befolgen der je persönlichen Berufung. Das und nichts anderes ist „das Höchste“.

Und weiter: Ihren hohen Wert erhält die Ehe nicht allein von der gemeinsamen Liebe und ihrer Fruchtbarkeit im Kind her, sondern von ihrer gemeinsamen Sendung für das Reich Gottes (vom „Mitwirken an der Ankunft Seines Reiches“) und vom gemeinsamen Gehen auf das letzte Ziel (von der „Berufung des Ehegatten, der seine Gattin auf dem Lebensweg zur ewigen Seligkeit begleitet“). Diese damals höchst ungewohnten Gedanken werden im weiteren Briefwechsel häufig wiederholt und vertieft. Kein Wunder, dass Massignon trotz seiner Ehe, oder gerade weil Foucauld seine Ehe in solch geistlicher Tiefe sieht, diesem zutiefst verbunden bleibt. „Die Berufung zur Ehe ist von wunderbarer Größe“, so lässt sich die Einstellung des ehelosen Foucauld zur Ehe zusammenfassen, eine Einschätzung, mit welcher er, wie in so in vielen anderen Punkten, seiner Zeit um Jahrzehnte voraus und Wegweiser für neue Perspektiven war.

Ein Wegweiser hat dann seine Aufgabe erfüllt, wenn Menschen mit seiner Hilfe ihren Weg gefunden haben und weitergekommen sind. Eben diese Aufgabe dürfte Bruder Karl in hohem Maß erfüllt haben. Eins seiner bevorzugten Schriftworte ist Jes 56,10 entnommen. Hier heißt es:

„Die Wächter des Volkes sind blind, / sie merken allesamt nichts. Es sind lauter stumme Hunde, / sie können nicht bellen. Träumend liegen sie da / und haben gern ihre Ruhe.“

In Bezug darauf formuliert Bruder Karl häufig: Ich will kein stummer Hund sein. In der Tat: Er war es auch nicht, und sein „wachsames Bellen“ wurde in der Kirche gehört und beachtet.

1 J.-F. Six (Hrsg.), Charles de Foucauld, Aufzeichnungen und Briefe. Freiburg i. Br. 1962, 70.

2 C. de Foucauld, Die geistlichen Schriften, dt. Wien – München 1963, 155f.

3 Ders., Brief an seine Schwester vom 17. 1. 1902. – Im Folgenden entstammen zahlreiche Passagen meinem Buch: G. Greshake, Spiritualität der Wüste. Innsbruck – Wien 2002, 135–154.

4 D. Barat (Hrsg.), Charles de Foucauld. Œuvres Spirituelles. Paris 1958, 457f.

5 J.-F. Six, Abenteurer der Liebe Gottes, 80 unveröffentlichte Briefe von Ch. d. Foucauld an L. Massignon. dt. hrsg. und eingeleitet v. G. Greshake.Würzburg 1998, 216.

6 U.a. wurde es von den sog. Jerusalem-Gemeinschaften aufgegriffen, die 1974 durch P. Pierre Marie Delfieux gegründet wurden. Der „innere Kreis“ dieser geistlichen Bewegung möchte ein monastisches Leben verwirklichen, und zwar in der als „Wüste“ verstandenen Stadt. Während jedoch in der geistlichen Foucauld-Familie die „Stadt“ eine, wenn auch besonders eindringliche Weise und Ausdrucksform der Wüstenexistenz unseres Lebens ist, nimmt diese in den Jerusalem Gemeinschaften eine fast exklusive Bedeutung an.

7 C. de Foucauld, Brief an H. de Castries vom 17. 6. 1904.

8 Ders., Directoire, art. 28.

9 Ders., Retraite à Beni-Abbès (1902), in: D. Barret (Hrsg.), Ch. de Foucauld – Oeuvre spirituelles. Anthologie. Paris 1958, 538.

10 Ders., Brief an Abbé Caron vom 11 .3. 1909.

11 Ders., Directoire, art. 28.[s. Anm. 8].

12 Ders., Brief an Abbé Caron vom 9. 6. 1908.

13 Ders., Brief an Joseph Hours vom 3. 5. 1912.

14 Ebd.

15 Siehe dazu J.F. Six, Abenteurer der Liebe Gottes, 32f. [s. Anm. 5].

16 Zit. nach ebd. 130.

17 Ebd., 128f.

Geist & Leben 4/2016

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