Читать книгу Geist & Leben 4/2016 - Группа авторов - Страница 8

Оглавление

Meredith Secomb | Melbourne (Aus)

geb. 1951, PhD theol., M.A. Psych., Theologin, klinische Psychologin

msecomb@gmail.com

Small Matters1

Kontemplatives Leben und soziale Gerechtigkeit

Seit einiger Zeit geht mir ein inspirierendes Seminar, an dem ich 2014 teilgenommen habe, durch den Kopf, das sich mit bahnbrechender Arbeit an der Schnittstelle von Kunst und Gesundheitswesen auseinandersetzte.2 Der Vortragende, ein Ethnomusikologe, Menschenrechtsaktivist und Musikprofessor engagiert sich u.a. dafür, die Künste in einen peruanischen Slum und ein US-amerikanisches Gefängnis zu bringen. Seine Arbeit stellt die sowohl in materieller als auch in spiritueller Hinsicht zutiefst verarmten Menschen unserer Welt in den Mittelpunkt. Sie transformiert das Leben der Menschen, deren Selbstwahrnehmung und Gefühl von Bedeutung und Wert. Es handelt sich hier um eine Form von Arbeit, die zu sozialer Gerechtigkeit beiträgt.

Das Seminar hat mich aufgerüttelt und mich zur Frage gebracht, welchen Beitrag meine Arbeit, als jemand, der sich als kontemplativ versteht, zur Verringerung der hoffnungslosen Ungleichheiten und des Schmerzes der Welt leistet.3 Während ich in der Vergangenheit sowohl beruflich als auch privat versuchte, das Leiden anderer zu lindern, schien jeweils mit dem Ende dieser Aktivitäten auch die Erfüllung aufzuhören, die von meiner Bemühung herrührte, mein kontemplatives Gebetsleben mit der liebenden Sorge für andere zu verbinden.4

Deshalb ist meine derzeitige Frage: Wie kann ich authentisch als kontemplativer Mensch, offen für Gott und das Leiden meines Nächstens, inmitten der Annehmlichkeiten einer westlichen Vorstadt leben? Einige Annahmen sind implizit in dieser Frage enthalten. Die erste, die ich bejahe, ist, dass wir berufen sind, andere zu lieben und ihnen zu dienen; die zweite, die ich untersuche, ist, dass ein Leben, das das kontemplative Gebet in den gewöhnlichen Umständen der gewöhnlichen Welt priorisiert, zulässig ist; die dritte, die ich zurückweise, ist, dass wir alle „große“ Dinge bewerkstelligen müssen, um dem Ruf nach sozialer Gerechtigkeit und Liebe für unseren Nächsten gerecht zu werden.

Zunächst möchte ich den Schwerpunkt auf soziale Gerechtigkeit innerhalb der christlichen Tradition legen, verweise dabei kurz auf die Hl. Schrift und anschließend auf die Arbeit von Theolog(inn)en. Sie folgen einem Ruf, Taten zu setzen. Dabei handelt es sich auch um solche Taten, die soziale Strukturen, welche Ungerechtigkeiten aufrechterhalten, infrage stellen. Diesem aktivistischen Engagement steht das scheinbar inkompatible Leben des gewöhnlichen Kontemplativen gegenüber, der ein einfaches Leben in der Vorstadt verbringt. Danach schlage ich eine Annäherung vor zwischen dem dringenden Bedürfnis aller Christen, aktives Mitgefühl zu leben angesichts des Leids anderer und der genuinen Begrenzungen von Menschen, die ein alltägliches Leben innerhalb der Bedingungen der entwickelten Welt führen. Im Einklang mit der kontemplativen Tradition ist aus meiner Sicht diese Annährung in der Wertschätzung der kleinen Wege, in denen Liebe für die Bedürftigen um uns ausgedrückt werden kann, zu finden.

Soziale Gerechtigkeit als christliches Gebot

Das Thema der sozialen Gerechtigkeit ist ein wesentlicher Teil der christlichen Tradition. Im Alten Testament ist es womöglich am schönsten bei Micha zusammengefasst, der unmissverständlich festhält, dass der Herr uns auffordert, „Recht [zu] tun, Güte und Treue (zu) lieben (und) in Ehrfurcht den Weg (zu) gehen mit deinem Gott“ (Mi 6,8). Im Neuen Testament ist Jesus sogar noch direkter, da er darauf besteht, dass wir nicht in das Reich Gottes kommen, wenn wir nicht den Hungrigen und den Durstigen zu trinken gegeben, Fremde willkommen geheißen, die Nackten bekleidet und die Kranken oder Gefangenen besucht haben (Mt 25,31–40). Christus befiehlt uns, unseren Nächsten zu lieben (Mk 12,30f.); und die Parabel des barmherzigen Samariters (Lk 10,30–37) zeigt uns, dass uns unser Nächster in verschiedenen Gestalten begegnen kann. Als Christen, ja als Menschen, sind wir alle berufen, Gottes Liebe für die Armen und Bedürftigen, die Kranken und Verletzten in irgendeiner Weise zu offenbaren. Darüber hinaus sind das Lindern des Schmerzes unseres Nächsten und die Entwicklung unserer eigenen authentischen Menschlichkeit untrennbar miteinander verflochten, da wir unseren Nächsten wie uns selbst lieben sollen (Mk 12,31). Jon Sobrino besteht darauf, dass Menschen nur dann tatsächlich menschlich sein können, wenn sie die Befreiung derjenigen, die Unterdrückung und Niederlage erleiden, unterstützen.5

Die vielen Theolog(inn)en, die sich damit beschäftigt haben, wie unsere Liebe für Gott eine nachweisliche Auswirkung auf die Bedürfnisse unserer Nächsten haben muss, insistieren, dass kontemplatives oder mystisches Gebet einen anteilnehmenden und barmherzigen Ausdruck in prophetischer, politischer oder ökonomischer Handlung haben muss.6 Oft ist es eine persönliche Begegnung mit extremem Leid, die solch eine theologische Reflexion hervorruft. So war es für Johann Baptist Metz und Jon Sobrino, die beide mit erschütternden Beispielen des Leides und der Unterdrückung konfrontiert wurden. Für Metz war es der Holocaust; für Sobrino die schreckliche Armut in Südamerika. Diese persönlichen Erlebnisse haben ihre Sensibilität für die schockierende Weltgeschichte der Gewalt und Unterdrückung gesteigert, und sie dazu geführt, darauf zu bestehen, dass wir größere Kenntnis von dem Leid der unschuldigen Opfer der Unterdrückung und Ungerechtigkeit haben müssen.

Dennoch, traurigerweise – schmerzlicherweise – nehmen so viele von uns deren Notlage nicht wahr. Obwohl die Hl. Schrift uns so oft aufruft aufzuwachen, sind wir oft zu bequem und selbstzufrieden auf den Ruf Christi, andere zu lieben wie uns selbst, zu antworten. Angesichts der Aufforderung an alle Christen, wachsam für die Forderungen sozialer Gerechtigkeit zu sein, stellt sich die Frage, wie wir verantwortlich dem Ruf eines relativ einfach Lebens folgen können, der das Gebet an die erste Stelle setzt. Laufen wir hier nicht Gefahr, ein im Grunde egozentrisches Dasein mit der Aufschrift „kontemplativ“ zu vertuschen? Könnte es nicht vielmehr eine faule Ausrede sein, die den „wirklichen“ Anliegen eines christlichen Lebens aus dem Weg geht?

Berufung oder faule Ausrede?

Schon in seinen frühen Aufzeichnungen in einem Zisterzienserkloster adressiert Thomas Merton die übliche, aber missverstandene Ansicht, dass das kontemplative Leben lediglich eine Strategie ist, um die profane und oft beschwerliche Realität des gewöhnlichen, alltäglichen Leben zu vermeiden. Mit Nachdruck behauptet er, niemand soll das Kloster als einen Ort rechtfertigen, wo es überhaupt kein Leid gibt und wo Menschen „keine Probleme haben“. Das ist ein Mythos, eng verwandt mit jenem anderen Mythos, dass Religion selbst alle Ängste der Menschen aus dem Weg schafft.7

Danach deutet Merton die Art der Mühen an, denen jemand, der ein kontemplatives Leben führt, begegnet: Glaube selbst impliziert ein bestimmtes Leid, und es ist ein Weg, innerem Leiden zu begegnen, keine magische Formel, um alle Probleme verschwinden zu lassen. Der Mönch bewältigt sein Leben nicht durch außergewöhnliche spirituelle Abenteuer oder dramatische und heldenhafte Großtaten. Das Kloster lehrt den Menschen, selbst Maßnahmen zu ergreifen und die eigene Gewöhnlichkeit zu akzeptieren; mit einem Wort, es lehrt ihn jene Wahrheit über sich selbst, die man „Demut“ nennt.8

Eine weitere falsch verstandene Auffassung über das kontemplative Leben ist, dass es selbstzentriert und individualistisch ist. An anderer Stelle lehnt Merton diese Idee ab und merkt an, dass das Gebet seine Ausübenden einer Selbstsuche und der „Täuschung und Demütigung des falschen Selbst, das danach strebt, für sich alleine zu leben und Gefallen an dem ‚Trost des Gebets‘ um seiner selbst willen findet“, aussetzt.9 Diejenigen, die zu so einem Leben berufen sind, antworten auf einen Ruf, nach innen zu reisen, dem Selbst angesichts der Forderungen des innigen Dialogs mit Gott zu begegnen. Sie antworten auf einen inneren Imperativ, der sie aufruft, ein kontemplatives Leben zu gestalten.

Mary Frohlich merkt an, dass die Authentizität dieses Imperativs durch sein Resultat sichtbar wird, durch das Ausmaß, in dem es schlussendlich in ein Leben, das Gottes Liebe ausdrückt, ausströmt.10 Während Zuschauer(innen) darauf warten, das Ergebnis zu bewerten, müssen sie geduldig sein und sich immer wieder daran erinnern, dass das kontemplative Leben ein herausforderndes ist, in dem Menschen des Gebets inneren Belastungen ausgesetzt sind, die jene, die mit profaneren Anliegen beschäftigt sind, nicht kennen. Egal, ob das kontemplative Leben in einem Kloster oder in gewöhnlichen Umständen außerhalb der Klostermauern gelebt wird, ist es keine faule Ausrede. Es ist ein Ruf. Es kann „einen Sinn für göttliche Unmittelbarkeit geben, einen Ruf, diese Unmittelbarkeit auszuleben und einen Sinn für alle Dinge und Geschehnisse als ein Durchscheinen der göttlichen Gegenwart“.11 Wie auch die physische Realität der Welt ein „Glashaus, transparent und durchscheinend für Gottes Gnade“ sein kann, so kann auch die spirituelle Realität des kontemplativen Lebens erfahren werden als etwas, das für Gottes gnädige Intervention transparent ist.12

Diejenigen, die innerhalb monastischer Mauern oder innerhalb aktiver Gemeinschaften, die kontemplatives Leben priorisieren, leben, haben die Unterstützung einer Gemeinschaft, eine Lebensregel, die Struktur und eine sozial erkennbare Etikette geben. Diese Dinge stellen einen institutionellen Rahmen zur Verfügung, der die Selbstidentität unterstützt. Menschen, die als Kontemplative „in der Welt“ leben, brauchen oft Mut, einen Lebensstil zu verfolgen, der normalerweise von dem der meisten Menschen um sie herum abweicht. Es gibt viele Faktoren, die Menschen zum Nachdenken darüber bringen, ob sie einen kontemplativen Ruf haben, wenn sie in gewöhnlichen Umständen der Welt außerhalb einer institutionellen Umgebung leben. Einige verweisen auf ihre kontemplative Erfahrung, andere auf ihre kontemplativen Praktiken, andere wiederum auf ihren kontemplativen Lebensstil. Für manche ist es einfach die stimmigste Form, ihr Selbstverständnis zu artikulieren, indem sie sich selbst ‚Kontemplative‘ nennen.13

Kathryn Damiano beschreibt die Erfahrung, ein kontemplatives Leben als zurückgezogene Person zu leben als eine von „relevanter Irrelevanz“.14 Das kontemplative Leben im Kontext der Ehe zu führen, erzeugt noch einmal andere Herausforderungen.15 Die kontemplative Dimension eines Lebens in einer Arche-Gemeinschaft offenbart weitere mannigfaltige Wunder dieses Lebensweges: „Auf der langsamen Spur wird man ermutigt, ein weiteres Mal hinzusehen, um die Details, die Köstlichkeit und sogar Schönheit von dem von uns als hässlich Erachteten ausfindig zu machen“.16 Nur ein Herz, das für Mitgefühl sensibilisiert und wachsam für die Schönheit in den gewöhnlichen Details des täglichen Lebens ist, kann auf diese Weise „sehen“. Ann Denham beschreibt ihr anfängliches Missverständnis eines intensiven Gebetslebens als Erwartung einiger „bequemer Plaudereien mit dem Herrn“. Lebhaft stellt sie ihre eigentliche Erfahrung des sich Öffnens für die Tiefen darin dar: „ein Durchstoßen ins Licht und eine Landschaft wie bei van Gogh; ein starker visueller Sinn für die vielschichtige Realität und ein heulender Angststurm aus einem klammen, schwarzen Loch“.17 Denham lässt jene Angst erkennen, die oft mit dem Aufgeben egobasierter Strategien einhergeht, wenn man in einen Dialog mit der Welt tritt und das Risiko auf sich nimmt, sich einem größeren Selbst zu öffnen, von dem das Ego lediglich ein Teil ist. Wie Merton konfrontiert Denham ihr inneres Leid und ihren seelischen Schmerz mit dem Glauben.

Frohlich merkt an, dass es eine solche Vielfalt kontemplativen Ausdrucks im „rohen Material von Begabungen, Gelegenheiten und Wahlmöglichkeiten“ gibt, dass man von keinem vorgefertigten Weg sprechen kann, um die Selbstidentifikation einer Person als „kontemplativ“ zu begründen.18 Was auch immer zu dieser Identifikation führt, ihr Ausdruck ist nicht weltverneinend; die Spiritualität, die aus dem authentischen, kontemplativen, in der Welt geführten Leben hervorgeht, ist noch immer „für die anderen“.19 Es kann viele Formen annehmen für eine gewöhnliche Person, die ein gewöhnliches Leben in gewöhnlichen Umständen von Heim und Arbeit lebt.

Transformierendes Gebet und der „kleine Weg“

Die Tendenz zu glauben, dass wir nur dann wertvoll sind, wenn wir große Dinge tun, ist allgegenwärtig. Menschen, die in Industrieländern leben und von extremem Leid verschont geblieben sind, verspüren eine subtile Schuld, die die Freude am Ruf zu einem kontemplativen Leben untergräbt und die andeutet, dass sie nicht genug tun, um die Last derjenigen, die in weniger günstigen Bedingungen als sie leben müssen, zu erleichtern. Die implizite, unbewusste Annahme ist, dass wir nur dann von Wert sind, wenn wir von anderen als jemand gesehen werden, der/die einen großen Beitrag für eine bedürftige Welt leistet. Für diejenigen mit Begabungen, Kapazitäten und der Kraft, strukturellen Wandel zu bewirken, sind solche Handlungen tatsächlich richtig und angemessen. Für die weniger Begabten verstecken allerdings solche Forderungen den Wert des Kleinen vor Gott, welches sie berufen sind, zu tun und tun können. Selbst für die Begabteren kann es Mut bedürfen, der Kritik einer Gemeinschaft standzuhalten, und den „kleinen“ mehr als den „großen“ sozialen Nöten Wert beizumessen – wie Mutter Teresa, die angesichts ihrer Konzentration auf die Bedürfnisse des Individuums dafür kritisiert wurde, die sozialen Strukturen Indiens nicht genügend anzufechten.

Für viele ist es ein langer Weg zur Selbstakzeptanz für das Geringe, das sie tun können. An einem bestimmten Punkt in seinem Leben dachte Parker Palmer, dass er „ein Leben wie Martin Luther King Jr. oder Rosa Parks oder Mahatma Gandhi oder Dorothy Day leben müsste, um der Anforderung eines ‚hohen Zieles‘ gerecht zu werden“.20 Auch der Hl. Johannes vom Kreuz hält fest, dass wir es als ein spezielles Leid empfinden können, wenn wir merken, dass wir nicht leiden.21 Was kann getan werden, um Menschen für den Wert der „kleinen“ Nöte vor ihnen zu sensibilisieren? Während es tatsächlich ein echtes Risiko gibt, dass die Annehmlichkeiten eines westlichen Lebensstils uns für das Leid blind machen, das von jenen, die weniger Glück im Leben hatten, erlitten wird, können uns diese gleichen Annehmlichkeiten und die oft unbewusste Schuld, die mit ihnen einhergeht, auch blind machen für den Wert der „kleinen“ Wege, in denen wir liebevoll denen um uns dienen.

Die Schwierigkeit, uns selbst für die Nöte anderer zu sensibilisieren, ist für Metz und Sobrino eine Frage, die in die Tiefen unserer Beziehung zu Gott reicht. Es ist eine Frage, die die Natur unserer Spiritualität herausfordert. Unsere Spiritualität ist nur authentisch, wenn wir wach, aufmerksam und ansprechbar für die Realität des Leidens sind. Wie soll das allerdings bewerkstelligt werden? Für Metz und Sobrino wie auch für Simone Weil, finden sich Antworten auf diese Frage im Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Für sie ist dieses Gleichnis das „grundlegende biblische Narrativ“ für eine authentische Spiritualität, die mitfühlend und ansprechbar für das Leid anderer ist.22

Aus der Sicht von Metz und Sobrino sind der Priester und der Levit so beschäftigt mit scheinbar gewichtigen Angelegenheiten des Gesetzes, dass sie an dem Bedürftigen vorbeigehen.23 Sie sind der Meinung, dass ein intuitives Mitgefühl den Samariter motiviert hat, zu handeln. Seine Handlung beinhaltete ein kenotisches Aufgeben egozentrischer Bindungen an Komfort und Sicherheit. Solch ein gestaltgewordenes Mitgefühl, das uns auch zu handeln antreibt, ist leider sehr selten. Eigeninteresse und Ablenkungen lassen uns bereitwillig in einem selbstzufriedenen Schlummer zurück, der uns davon abhält, das Leid anderer zu sehen.24 Eggemeier hält eine asketische Praxis kontemplativen Gebets für notwendig, um die Augen des Herzens zu öffnen und um die damit einhergehende leibliche Sensibilität für die Nöte anderer zu entwickeln.25 Er zitiert Arbeiten von Sarah Coakley und Simone Weil, die aufzeigen, wie dieses Einfühlungsvermögen entwickelt werden kann. Coakley hat eindringlich über die transformierende Wirkung der kontemplativen Gebetspraxis und das darin liegende Vermögen geschrieben, eine prophetische Dynamik mitfühlenden Tuns zu entwickeln.26 Ihre Arbeit mit Häftlingen z.B. zeigte, dass regelmäßige Zeiten der Stille die Erfahrung des Selbst transformieren wie auch einen heilenden, alternativen Raum zu der unterdrückenden Umgebung bereit stellen können. Simone Weil stellt fest, dass eine kontemplative Disziplin für die fokussierte Aufmerksamkeit des barmherzigen Samariters essentiell war, um die Not des Mannes auf der Straße wahrzunehmen. Sie beschreibt diese Aufmerksamkeit als das Wissen, wie man eine Person auf eine bestimmte Weise ansieht: „Dieser Blick ist zunächst ein aufmerksamer Blick, wenn die Seele sich selbst leert von all ihrem Inhalt, um das Wesen, das sie ansieht, in sich aufzunehmen, genauso wie es ist, in all seiner Wahrheit. Es ist nur dazu fähig, wenn es zu Aufmerksamkeit fähig ist.“27

Praktiken, die das Aufgeben egozentrischer Bindungen stimulieren, sind notwendig, da wir ansonsten nicht natürlicherweise ein selbstaufopferndes Bewusstsein erlangen. Ein weiteres Zeugnis über die transformierende Kraft des Gebetes kommt von dem Theologen Sebastian Moore, der darauf besteht, dass das „Gebet die radikalste Therapie für unsere Kultur ist“28.

Eggemeier, Coakley, Weil und Moore sind nur einige der vielen Stimmen, die auf die Früchte des schweigenden Gebets verweisen, das wachsam für die Notwendigkeit mitfühlenden und liebevollen Tuns im Streben nach Gerechtigkeit macht. Darüber hinaus gibt es eine Fülle an empirischer Literatur, die die Auffassung dieser Denker(innen) unterstützt, dass meditative Praktiken notwendig sind, um neurophysiologische Veränderungen zu bewirken, die ein erhöhtes, verleiblichtes, intersubjektives Einfühlungsvermögen ermöglichen.29

Die Frage taucht nun auf, welche Form dieses Handeln für das Leben derjenigen unter uns annehmen kann, die weniger Möglichkeiten und Fähigkeiten haben, „Großes“ zu bewirken, aber nichtsdestotrotz von Gott berufen sind, „Kleines“ zu bewegen und zu verändern.

Eine wichtige Prämisse, um zu verstehen, wie wir anderen in unseren bescheidenen und einfachen Umständen dienen können, ist die Einsicht, dass Liebe und Gerechtigkeit synonym sind. Der Ausdruck „soziale Gerechtigkeit“ kann oft einschüchternd sein. Wenn wir, laut Simone Weil, Christi Ruf nach Gerechtigkeit zu einem Ruf nach Liebe neu ausrichten, dann vervielfachen sich die wahrgenommen Möglichkeiten für Gerechtigkeit und sozialer Handlung unter dem erweiterten Horizont, der durch kontemplatives Gebet entsteht.

Weil besteht darauf, dass „Christus seine Wohltäter nicht liebevoll oder wohltätig nennt. Er nennt sie gerecht. Das Evangelium macht keinen Unterschied zwischen der Liebe für unseren Nächsten und Gerechtigkeit (…) Wir haben die Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Nächstenliebe erfunden.“30

Auch Augustinus hinterfragt den Gedanken, ob wir weit reisen müssen, um unseren bedürftigen Nächsten zu helfen: „Alle Menschen sollen gleichermaßen geliebt werden. Aber du kannst nicht gleichermaßen Gutes für alle Leute tun, somit sollst du dich besonders um jene kümmern, als sei es durch Los, die dir hinsichtlich Ort, Zeit und jeglichen anderen Umständen besonders nahe sind.“31 Die Lehre von Bruder Lawrence, Pierre de Caussade und Thérèse von Lisieux, nur um ein paar wenige aus der kontemplativen Tradition zu nennen, macht uns auch für die Notwendigkeit aufmerksam, die Vorsehung Gottes und den Ruf, die kleinen Möglichkeiten vor uns zu sehen, zu erkennen.32 Unser bedürftiger Nächster ist hier neben uns, vielleicht unterhält er sich mit uns, jedoch brauchen wir Augen, um zu sehen.

Es ist wichtig, aktiv auf den Glauben zurückzugreifen, um unser Leben als Kanal für Gottes Gnade zu erfahren und zu verstehen, dass andere von Liebe und Segen berührt werden können, wenn wir unserem kontemplativen Ruf folgen. Während die größte der theologischen Tugenden die Liebe ist (1 Kor 13,13), können wir ohne Glauben Gott nicht gefallen und Gottes Willen für unser Leben erfüllen (Hebr 11,6). Es ist unumgänglich, Glauben zu haben, damit Gottes Gnade durch uns in liebevoller, heilender und befreiender Weise strömen kann.

Ich habe hier versucht, all jene zu ermutigen, die ein kontemplatives Leben führen, im Streben danach, ihrem Ruf zu folgen. In Anbetracht der Tatsache, dass viele sich unfähig fühlen, auf beachtliche Weise zu den drängenden Nöten der Welt um sie herum beizutragen, habe ich versucht, ihr Bewusstsein für den Wert der kleinsten Gelegenheit zu steigern, den Unterdrückten gute Nachrichten zu bringen, gebrochene Herzen zu verbinden, den Gefangenen die Entlassung zu verkünden und Häftlinge zu befreien (Lk 4,18). Ein Haiku bringt diese Vision wunderbar zum Ausdruck:

To see small matters

And to see that small matters

Are not small matters.33

1 Der Artikel erschien unter dem Titel The ‘Ordinary’ Contemplative Life And The ‘Little Way’ Of Social Justice in: The Way 55 (2016), 99–109. Übersetzung: E. Salaban-Hofer; Bearbeitung: A. Albinus.

2 A. de Quadros, From American Prisons to Peruvian Shantytowns: Rescuing the Arts from the Realm of the Elite. The Victoria Institute, Melbourne, 21 May 2014.

3 Siehe hierzu C. McDonough, Christian Hermits and Solitaries: Tracing the Antonian Hermit Traditions, in: The Way, 54 (2015), 76–89.

4 Meine Aktivitäten beinhalteten die Arbeit in einer privaten psychologischen Praxis u. das Verfassen theol. Artikel, die, wenn auch in einen akademischen Kontext gestellt, immer versuchten, das Herz zu adressieren. In beiden Fällen war ich mir aber bewusst, dass sie bloß Etappen auf der kontemplativen Reise sind. Meine private Tätigkeit als ‚Rad fahrende Missionarin‘ im ländlichen Australien schien am besten dem grundlegenden kontemplativen Ruf der Liebe Gottes und des Nächsten zu entsprechen, wie außerordentliche Begegnungen auf der Straße und im Wohnwagen bezeugten. Das Ende dieses Abschnitts hat mich besonders zu der Frage geführt, die ich hier untersuche.

5 J. Sobrino, The Principle of Mercy: Taking the Crucified People from the Cross. Orbis 1994, 1.

6 Für die Beispiele E. Schillebeeckx, G. Gutiérrez, D. Sölle, D. Tracy, L. Boff, I. Ellacuría, J. B. Metz und J. Sobrino, siehe M. T. Eggemeier, A Mysticisim of Open Eyes: Compassion for a Suffering World and the Askesis of Contemplative Prayer, in: Spiritus 12 (2012), 43.

7 T. Merton, Cistercian Life (Spencer: Cistercian, 1974), 2f.

8 Ebd., 3.

9 Ders., Contemplative Prayer. London 1969, 25f..

10 M. Frohlich, A Roman Catholic Theology of Lay Contemplation, in: Dies. / V. Manss (Ed.), The Lay Contemplative: Testimonies, Perspectives, Resources. Cincinnati 2000, 50.

11 T. Edwards, Foreword, in: ebd., v.

12 J. Roten, The Two Halves of the Moon: Marian Anthropological Dimensions in the Common Mission of Adrienne von Speyr and Hans Urs von Balthasar, in: IKaZ Communio 16 (1989), 443.

13 M. Frohlich, Lay Contemplation, 45 [s. Anm. 10].

14 K. Damiano, The Call to Life „on the Margins“‚ in: ebd., 25 [s. Anm. 10].

15 s. A.G. Denham, God in Flesh and Spirit, in: ebd., 33-36 [s. Anm. 10].

16 R. A. Jonas, Daybreak, in: ebd., 37 [s. Anm. 10].

17 A.G. Denham, God in Flesh and Spirit, 33 [s. Anm. 15].

18 M. Frohlich, Roman Catholic Theology of Lay Contemplation, in: ebd., 45 [s. Anm. 10].

19 E. P. Hahnenberg, Awakening Vocation: A Theology of Christian Call. Collegeville 2010.

20 P. J. Palmer, Let Your Life Speak: Listening for the Voice of Vocation. San Francisco 2000, 3.

21 St John of the Cross, The Ascent of Mt. Carmel, in: The Collected Works of St John of the Cross, ed. by K. Kavanagh / O. Rodriguez. Washington DC 1979, 2.26.7.

22 M.T. Eggemeier, Mysticism of Open Eyes, 49 [s. Anm. 6].

23 Ebd., 49–52.

24 Ebd., 52.

25 Ebd., 52–57.

26 s. S. Coakley, Jail Break: Meditation as a Subversive Activitiy, in: The Christian Century 121 (2004), 18–21; dies., Prayer as Crucible: How My Mind Has Changed, in: The Christian Century 128 (2011); s. auch dies. (Ed.), Religion and the Body. Cambridge 1997.

27 S. Weil, Waiting on God. Translated by E. Craufurd. New York 2001, 63.

28 S. Moore, The Universe at Prayer: What does It Mean to Pray?, in: W.A. Barry / K.A. Maloney (Ed.), A Hunger for God: Ten Approaches to Prayer. Kansas City 1991, 1.

29 C. Gonzalez-Liencres / S.G. Shamay-Tsoory / M. Brüne (Ed.), Towards a Neuroscience of Empathy: Ontogeny, Phylogeny, Brain Mechanisms, Context and Psychopathology, in: Neuroscience and Biobehavioral Reviews 37 (2013), 1537–1548; G. Silani et.al. (Ed.)., Right Supramarginal Gyrus Is Crucial to Overcome Emotional Egocentricity Bias in Social Judgments, in: The Journal of Neuroscience, 33/39 (2013), 15466–15476; s. auch C. Bergland, The Neuroscience of Empathy, in: Psychology Today (10 Oktober 2013), unter http://www.psychologytoday.com/blog/the-athletes-way/201310/the-neuroscienceempathy (Stand: 06.06.2014).

30 S. Weil, Waiting for God, 83 [s. Anm. 27].

31 Augustinus, On Christian Teaching. Ed. by R. P. H. Green. Oxford 1997, 1.29.29.

32 S. J.-P. de Caussade, Abandonment to Divine Providence. Ed. by J. Beevers. New York 1966; Brother Lawrence, The Practice of the Presence of God. London 1977; St. Thérèse of Lisieux, Story of a Soul: The Autobiography of St Thérèse of Lisieux. Washington 1976.

33 Dieses Haiku habe ich vor ein paar Jahren in einem ABC-Programm gehört. Ich wäre dankbar, den Autor ausfindig zu machen.

Geist & Leben 4/2016

Подняться наверх