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Religion in räumlichen Bezügen denken?

Grundzüge und Perspektiven geographischer Religionsforschung

Kann und soll Religion vom Raum her sinnvoll gedacht werden? Der Beitrag hat das Ziel, einige grundlegende Facetten des Verhältnisses von Raum und Religion aus den Perspektiven der Religionsgeographie oder geographischen Religionsforschung zu beleuchten. Dies geschieht auch vor dem Hintergrund des seit etwa fünfzehn Jahren wieder erwachten Interesses der Sozial- und Kulturwissenschaften an „Raumfragen“, wie sie mit dem Begriff des Spatial Turn markiert wurden. Thomas Schmitt

Wissenschaftliche Debatten und Disziplinen verlangen die Klärung des Verständnisses grundlegender Begriffe – häufig in der Erkenntnis, dass eine solche Klärung nie abschließend, sondern nur vorläufig und dialogisch erfolgen kann. Gerade „Religion“ entzieht sich einer Definition, welche kultur- und epocheübergreifend Plausibilität beanspruchen kann.

In Anlehnung an bekannte religionssoziologische Zugänge von Charles Glock sollen im Folgenden fünf Dimensionen von Religion unterschieden werden, nämlich

(1.) die Frage persönlicher Glaubensüberzeugungen einschließlich damit verbundener persönlicher Moral,

(2.) kollektiv entwickelte Weltanschauungen im Sinne der Etablierung von Theologien oder philosophischer Systeme, einschließlich damit verbundener kollektiver Moralvorstellungen bzw. Ethiken,

(3.) die individuelle und kollektive Glaubenspraxis, wie sie z. B. in gemeinschaftlichen Ritualen zum Ausdruck kommt. Ferner (4.) das institutionelle Feld der Religion mit den entsprechenden Organisationen, Gremien, Verfahren, Satzungen und Ämtern, und schließlich

(5.) die Erfahrungsebene von Religion.

Für viele religiös Praktizierende mag sie die wesentliche Ebene des Religiösen sein; aufgrund ihres subjektiven Charakters ist sie jedoch den Sozial- und Kulturwissenschaften nur mittelbar, etwa über die literarische Verarbeitung entsprechender Erfahrungen zugänglich. Ihr „Wahrheitsgehalt“ muss ebenso wie derjenige theologischer Lehrsätze von den Religionswissenschaften eingeklammert werden.

Für die Humangeographie ließen sich im direkten Anschluss an diese Operationalisierung von Religion sinnvolle Forschungsfragen generieren (siehe dazu die Ausführungen unten und Tab. 1). Ich möchte jedoch dem Gedankengang der Überschrift folgend einen Einblick in die neuere sozialwissenschaftliche Debatte zum Begriff und zur Relevanz des „Raumes“ bzw. von „Räumlichkeit“ vermitteln. Dies geschicht angesichts des hier zur Verfügung stehenden Platzes lediglich in Grundzügen; die Literaturangaben ermöglichen eine eigene Vertiefung. Ich versuche dabei, anhand von kurzen Beispielen die potentielle Relevanz entsprechender Debatten für Religionswissenschaftler, Theologen und für pastorale Praktiker anzudeuten.

Thomas Schmitt

Dr. phil., Privatdozent am Institut für Geographie der Universität Erlangen-Nürnberg; Co-Sprecher des Arbeitskreises Religionsgeographie in der Deutschen Gesellschaft für Geographie; Veröffentlichungen u.a. zu Moscheekonflikten (Schmitt 2003) und zu neueren spirituellen Zentren (2017); als junger Erwachsener u. a. als Diözesanleiter der Kath. Jungen Gemeinde (KJG) im Bistum Trier ehrenamtlich tätig.

Außenstehende würden vielleicht erwarten, dass Geograph/innen auf den Spatial turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften mit uneingeschränkter Freude über die Anerkennung jener Fragen reagieren, die das eigene Fach konstitutiv umtreiben. In der Realität mischte sich bei manchen Fachkollegen zu dieser Freude auch eine gewisse Skepsis, ob einzelne Protagonisten des Spatial Turn nicht Raumverständnisse vermittelten, die die eigene Fachdiskussion auf Grund der sozialwissenschaftlichen Selbstaufklärung gerade erst ad acta gelegt hatte (vgl. hierzu pointiert-polemisch Hard).

In den letzten 30 Jahren erlebte die Humangeographie insofern einen Modernisierungsschub, als sie lernte, sich nicht mehr als „Raumwissenschaft“, sondern uneingeschränkt und zuerst als Sozial- bzw. Kulturwissenschaft zu verstehen, spezifisch als eine raumbezogene Sozial- und Kulturwissenschaft. Die Beschäftigung mit Räumlichem ist zwar weiterhin fachkonstitutives Element, letztlich erweisen sich aber nur weich gedachte Abgrenzungen zu anderen Sozial- und Kulturwissenschaften als sinnvoll. Im Wechsel von der substantivischen („Raum“) zur adjektivischen Sprachform („raumbezogen“ oder „räumlich“) drückt sich die (unter Schmerzen geborene) Erkenntnis aus, dass die verdinglichende Redeweise über „Raum“ gesellschaftliche Sachverhalte und ihre Vermittlungsbeziehungen eher vernebelt denn erklärt.

Dieser bewusst-reflexiven „Abrüstung“ räumlicher Referenzen ausgerechnet bei Geographen stand als Gegenbewegung die komplementäre Wiederentdeckung räumlicher Bezüge bei benachbarten Sozial- und Kulturwissenschaften gegenüber, welche zuvor häufig als „raumvergessen“ oder „raumblind“ charakterisiert wurde. So treffen sich nun Humangeographie und die anderen Sozial- und Kulturwissenschaften im Ringen um die auch raumbezogen adäquate Analyse sozialer Gegenstände sozusagen auf Augenhöhe. Denn dass Gesellschaften (und auch spezielle soziale Phänomene wie die des religiösen Bereiches) nur mit Referenzen auf räumliche und physisch-materielle Kategorien sinnvoll beschreibbar und analysierbar sind, ist wohl in allen Sozialwissenschaften evident. Ausnahmen mögen puristische Anhänger der Luhmann’schen Systemtheorie oder solche Mikroökonomen bilden, die nur in idealisierten, unräumlichen Modellwelten denken.

Als Wegbereiterin des sozial- und kulturwissenschaftlichen Spatial Turn avant la lettre lässt sich die breit rezipierte Strukturations-theorie des englischen Soziologen Anthony Giddens (1988, orig. 1984) erkennen. Sie hat den Anspruch, eine sozialwissenschaftliche Basistheorie darzustellen; ihre Kerneinsicht ist die Dualität von Handeln (engl. agency) und Strukturen; zu Letzteren zählt Giddens sowohl soziale Institutionen als auch materiell-räumliche Gegebenheiten (wie Entfernungen und Lagebeziehungen, aber auch Sach- oder Finanzmittel).

Gemäß dieser Dialektik ermöglichen solche Strukturen erst soziales Handeln, gleichzeitig schränken sie es ein: Die universitäre Institution „Seminar“ beispielsweise ermöglicht das gemeinsame Lernen von Studierenden und greift dazu auf geläufige materiell-räumliche Arrangements (einen abgeschlossenen Raum mit Stühlen und Tischen, eine Tafel, einen Beamer) zurück (vgl. Treibel). Die Giddens’sche Dualität von Handeln und Struktur wird vollständig, wenn man erkennt, dass soziale Strukturen (wie das Seminar) erst durch menschliches Handeln (re-)produziert werden – etwa durch das Zusammenkommen von Dozenten und Studierenden im Seminarraum, ferner durch die untersützenden Tätigkeiten der Hausmeister und Reinigungsmitarbeiter/ innen – und im Übrigen in dieser Reproduktion auch eine Veränderung erfahren können (Seminare des Jahres 2017 unterscheiden sich merklich von denen der 1950er Jahre).

Dass soziale Strukturen ohne Aufrechterhaltung der Handlungsreproduktion in sich zusammenfallen, hatten im politischen Raum bereits die Protagonisten des gewaltfreien Widerstands bzw. des zivilen Ungehorsams erkannt („Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.“).

Teilweise sind Strukturen menschlichen Gesellschaften vorgegeben, etwa über die unterschiedliche Ressourcenausstattung an verschiedenen Orten, doch Menschen können diese im Rahmen gewisser Grenzen aktiv verändern. Auch eine abstrakte, scheinbar unveränderliche Eigenschaft wie die Entfernung zwischen zwei Orten lässt sich in ihrer sozialen Bedeutung dadurch relativieren, dass zum Beispiel neue Verkehrsmittel eingeführt werden (mit möglichen Nebenwirkungen für die Betroffenen und die Umwelt).

Der Mensch ist nicht nur ein geistiges oder ein soziales, sondern auch ein körperliches Wesen, und so erhalten materiell-räumliche Sachverhalte für den einzelnen wie für Gesellschaften unmittelbare Relevanz.

Im Unterschied beispielsweise zur Systemtheorie Niklas Luhmanns gelang es Giddens, materiell-körperliche bzw. räumliche Phänomene in seiner sozialwissenschaftlichen Basistheorie systematisch mit einzubeziehen. Vermittelt durch die handlungstheoretische Sozialgeographie Benno Werlens (1987) wurde die Giddens’sche Strukturationstheorie in der deutschsprachigen Humangeographie breit rezipiert. Die später formulierte „Raumsoziologie“ Martina Löws (2001) folgt, bei allen Differenzen im Detail, grundsätzlich der von Werlen eingeschlagenen handlungstheoretischen Orientierung.

Mittels des Giddens’schen Ansatzes lassen sich sehr gut materiell-räumliche Phänomene in ihrer Bedeutung für soziales Handeln sowie für gesellschaftliche Strukturen erfassen, aber auch die diskursiven Bedeutungen von Räumen, Orten und materiellen Gegenständen diskutieren. Was den Ansätzen von Giddens wie Werlen offenkundig fehlt, ist eine Antenne für die sinnlich-ästhetischen oder auch atmosphärischen Qualitäten von Räumen, Orten oder materiellen Artefakten – also für jene Qualitäten, von denen gerade sakrale Räume für den spirituell gestimmten Betrachter leben. Entsprechende Phänomene nahm im deutschsprachigen Raum, etwa mit dem Fokus auf die Atmosphären von Städten oder kirchlichen Räumen, der Philosoph Gernot Böhme feinsinnig in den Blick (vgl. Böhme; Karstein/Schmidt-Lux).

Der in den Sozial- und Kulturwissenschaften prominente Begriff des Spatial Turn geht auf den US-amerikanischen Geographen Edward Soja (1930-2015) zurück, der im verändernden Rückgriff auf den französischen marxistischen Soziologen Henri Lefebvre (1901-1991) eine gleichzeitige Betrachtung von Gesellschaft in ihren zeitlichen wie räumlichen Dimensionen anregte (z. B. Soja). Lefebvre wiederum prägte den Begriff der gesellschaftlichen Produktion des Raumes. Damit ist gemeint, dass sich in den Formen unserer Städte und Kulturlandschaften gesellschaftliche Kräfte wirksam zeigen und in ihnen Normen eingeschrieben werden, die sich zwischen verschiedenen Gesellschaftsformen (etwa zwischen liberal-kapitalistischen und wohlfahrtsstaatlichen) erheblich unterscheiden und ihren Bewohnern oftmals als natürlich und vorgegeben erscheinen.

Die „spätfordistische“ Stadt des US-amerikanischen Industriekapitalismus setzte beispielsweise mit ihren großflächigen, nur durch das private Automobil sinnvoll erschließbaren Einfamilienhaussiedlungen und ihren dispers an peripheren Verkehrsknotenpunkten gelegenen Shopping Malls auf den motorisierten Individualverkehr als den dünnen Riemen, der die in Kernfamilien atomisierten Gesellschaften funktional ermöglicht und zusammenhält. Gemeinsame Orte sozialen Lebens wie eine klassische italienische piazza sind darin nicht mehr vorgesehen.

Stadt- und Kunsthistoriker wissen natürlich darum, dass Bauwerken nicht nur implizit, sondern auch explizit mit der Intention der Lesbarkeit Normen und Weltanschauungen eingeschrieben wurden. Das klassische Beispiel hierfür wäre der Verweis auf die gotische Kathedrale, welche unter anderem im Zusammenspiel von dünnen, hohen Wänden und großflächigen Fenstern eine Versinnbildlichung des himmlischen Jerusalem darstellen und offenkundig dem Besucher auch eine Atmosphäre des Aufgehobenseins vermittelte.

Bauwerke haben nicht nur rational plausible Funktionen, sondern vermitteln in ihrer Gestaltung auch symbolische Bedeutungen. Im Mittelalter dominierten in Mitteleuropa neben Burgen die Kirchtürme die Vertikale der Städte; kirchliche Gebäude mitsamt den Klosteranlagen nahmen einen erheblichen Anteil des Stadtgrundrisses ein. Heute sind es neben den historischen Kirchenbauten – als Persistenzen einer früher kollektiv geteilten Weltauffassung und Gesellschaftsordnung – die Bürotürme von Banken, Konzernen und Finanzdienstleistern, welche das Bild großer Städte zunehmend prägen und damit auch etwas über unsere Gesellschaft als ganze aussagen.

Neben die christlichen Kirchen treten wieder Synagogen, zahlenmäßig bedeutsamer auch Moscheen, vereinzelt auch hinduistische oder buddhistische Tempel im mitteleuropäischen Stadtbild auf. Yoga-Studios und Zendos oder Zentren für buddhistische Meditation ziehen sichtbar in Ladenlokale ein. Die Stadt der Gegenwart mag säkularer, zugleich aber auch multireligiöser geworden sein.

Unter den international bekannten, zeitgenössischen Sozialwissenschaftlern hat sich auch Pierre Bourdieu (1930-2002) prominent mit „Raumfragen“ auseinandergesetzt. Bourdieu reflektierte unter anderem die Frage des Verhältnisses vom sozialen zum physisch-materiellen Raum (vgl. Bourdieu). Dabei gilt für ihn als Regelvermutung, dass soziale Distanzen sich auch materiell-räumlich manifestieren, etwa über die Entfernungen zwischen gut situierten und einkommensschwächeren Stadtvierteln, über Markierungen wie hohe Grundstückszäune oder über körperlich-materielle Statussymbole.

Diese Regelvermutung kann aber auch gebrochen werden, wenn etwa in Form des Understatements Personen entsprechende Erwartungshaltungen bewusst unterlaufen, oder wenn entgegen der Segregierungsannahme in Stadtteilen Angehörige unterschiedlicher sozialer Milieus Tür an Tür als Nachbarn wohnen. Eine solche soziale Durchmischung von Stadtteilen scheint für eine gesellschaftsfähige Kohäsion am vorteilhaftesten zu sein, wenn auch umgekehrt erst Segregationseffekte kulturell produktive und gesamtgesellschaftlich ausstrahlende „Alternativviertel“ (etwa in Großstädten) als Lebensstilenklaven erst ermöglichen.

Die vielerorts drohende oder beobachtbare Nivellierung solcher Viertel durch Gentrifizierungsprozesse (also durch den Zuzug vermögenderer Bevölkerungsgruppen bei gleichzeitiger Durchgestaltung der Viertel durch Immobilienunternehmen) hat in Großstädten die Debatte um das „Recht auf Stadt“, auf urbane, aber eben selbst gestaltbare Lebensformen für alle Bevölkerungsgruppen ausgelöst – unter programmatischem Aufgriff eines Buches von Henri Lefebvre (orig. 1968, dte. Übersetzung 2016). Dieser prägte des Weiteren den Ort des „gelebten Raumes“: Räume – Häuser wie Stadtteile – werden erst, wenn Menschen in ihnen präsent sind und handeln. So merkt man z.B. Kirchräumen an, ob täglich Menschen zum Gebet vorbeikommen oder sie nur allwöchentlich für eine Stunde aufgesperrt werden.

Von den zahlreichen möglichen Anknüpfungspunkten der Schriften Michel Foucaults (1926-1984) an raumtheoretische Debatten sei an dieser Stelle nur auf seinen Begriff der „Heterotopie“ verwiesen: einen Ort, an dem in der erfahrbaren Welt Gegenentwürfe zu hegemonialen Gesellschaftsvorstellungen gelebt werden. Foucault dachte dabei unter anderem an Altenheime, Kinos, Gärten oder psychiatrische Kliniken – eine Pfarrgemeinde oder ein religiöses Zentrum könnte sich selbstverständlich auch als eine Heterotopie verstehen (ohne sich sämtliche Konnotationen dieses Foucault’schen Begriffs aneignen zu wollen).

Als Orte („places“) werden in Geographie, Sozial- und Kulturwissenschaften solche (normalerweise „kleinen“) Raumausschnitte bezeichnet, mit denen subjektiv oder intersubjektiv – etwa in Form von persönlichen oder kollektiven Erinnerungen – bestimmte Eigenschaften verbunden werden, die sich von anderen Orten abheben. Ein Kirchenraum wird für die betreffenden Gemeindemitglieder ein Ort in diesem Sinne sein, oder das unverwechselbare Ensemble eines erhaltenen mittelalterlichen Marktzentrums. Immer wieder hört man davon, dass Menschen (möglicherweise aber nur eine Minderheit; es geht hier um sehr subjektive Erfahrungen) in solchen Kirchen, Ortskernen, Klöstern ein Gefühl von Heimat und Verwurzelung erfahren.

Der Anthropologe Marc Augé hat unter Rückgriff auf eine Wortschöpfung Michel de Certeaus herausgearbeitet, dass ein bedeutender Teil unserer alltäglichen Umgebungen wie Flughäfen, Hochgeschwindigkeitszüge (im Gegensatz zu langsamer fahrenden Zügen), Hochhaussiedlungen, U-Bahn-Stationen, Discounter oder Hotelketten durch ihre Austauschbarkeit und globale Uniformität den Charakter anthropologischer „Nicht-Orte“ annimmt – im idealtypischen Modell unfähig, soziale Beziehungen zu vermitteln oder Identität zu stiften.

Menschen können sich aber Augé zufolge auch solche Nicht-Orte aneignen und sie damit zu Orten werden lassen – manchmal auch gegen die Intention ihrer Schöpfer, wenn sich etwa skatende Jugendliche abends an Tankstellen treffen. Marketing-Fachleute und (Innen-)Architekten versuchen seit geraumer Zeit, solchen ursprünglichen Nicht-Orten die Fassade einer Örtlichkeit zu geben – was aber nur begrenzt, letztlich immer durchschaubar gelingt.

Unter dem Schlagwort „relationale Geographien“ untersuchen Geograph/innen Räume und Orte nicht als abgeschlossene Entitäten, sondern in ihren vielfältigen Austauschprozessen zu anderen Orten und Regionen, etwa infolge des Flusses von Waren, kulturellen Ideen und selbstverständlich auch Menschen.

Im Zuge der Globalisierung von Wirtschaft, Politik und Kultur werden die Situationen an konkreten Orten durch Prozesse an weit entfernten Orten potentiell mitbestimmt; die scheinbare Wohlgeordnetheit in unseren mitteleuropäischen Mittelschichtvierteln mag durch das Werfen eines ökologischen oder sozialen Schattens mit Ungeordnetheiten an anderen, weit entfernten Orten verbunden sein.

Die geographische scale-Debatte geht u. a. der Frage nach, wie Machtbeziehungen in komplexen, hierarchischen Systemen zwischen verschiedenen Maßstabsebenen sozial-räumlich restrukturiert werden, etwa in der zunehmenden Kompetenzübertragung von den deutschen Bundesländern auf die nationale Ebene, auf die EU oder auf internationale Vertragswerke (vgl. Wissen u. a.). Auch die Kirchengeschichte böte für diese Debatte Anschauungsmaterial.

GEOGRAPHISCHE PERSPEKTIVEN AUF RELIGION

Das wissenschaftsinterne Netzwerk geographischer Religionsforschung hat den Anspruch, religiöse Gegenwartsphänomene mit sozial- und kulturwissenschaftlichen Methoden zu untersuchen. Zu benachbarten Disziplinen wie etwa der Religionssoziologie sind in der Forschungspraxis allenfalls weiche Grenzen ziehbar. Gemäß ihrer Kompetenzen und Erkenntnisinteressen wird sie sich vor allem mit Religion in Form ihrer räumlich differenzierten Vergesellschaftungen, Lokalisierungen und materiellen Manifestationen befassen – während sowohl die christlichen Theologien als auch die Religionswissenschaften eine starke Affinität zu philologischen Praktiken aufweisen.

In den Kulturwissenschaften markiert die, wiederum von einem Geographen, Dan Hicks (2010), eingeführte Rede vom Material Turn auch das wiedererwachte Interesse an materiellen Artefakten und Architekturen, welches auch der interdisziplinären Religionsforschung Stichworte geben vermag (vgl. Karstein/ Schmidt-Lux).

RAUM-STICHWORTE FÜR EINE PASTORALE PRAXIS: RÄUME ALS KONTEXT, MEDIUM UND ZIEL PASTORALEN HANDELNS

Als Humangeograph ist der Autor sowohl in Respekt vor der eigenen disziplinären Verortung als auch vor den Anforderungen der Pastoraltheologie zu größter Zurückhaltung aufgefordert, wenn es um die Formulierung von Empfehlungen für eine pastorale Praxis geht. Aus den vorausgehenden Ausführungen wurde aber deutlich, dass jedes soziale Handeln, und damit auch jedes pastorale Handeln in materiell-räumliche Kontexte eingebettet ist, die den intendierten Zielen förderlich oder abträglich sein können.

Dimensionen von ReligionExemplarische geographisch relevante Fragestellungen
(Kollektive) kognitiv-diskursive Aspekte einschl. Glaubenssysteme, Theologien, formulierte EthikenRäumliche Übersetzungen des Heiligen und des Profanen, Umwelt-Ethiken; Diskursive Verräumlichungen von Religionen (z. B. „christliches Abendland“)
Institutionelle Aspekte (einschl. Organisationen, Hierarchien, Gouvernance) und Vergesellschaftung von ReligionOrganisierte Religion und/im Staat; Vergesellschaftung von religiösen Einrichtungen und Praktiken in lokalen, regionalen oder nationalen Kontexten; Zentren und Peripherien religiöser Organisationen; Zusammenleben in multireligiös geprägten Stadtteilen
Materialität und ReligionGestaltung und soziale Nutzung religiös konnotierter Räume; (auch konflikthafte) Vergesellschaftung von Sakralbauten wie z.B. in Moscheekonflikten; Umnutzungen und Neunutzungen von Kirchbauten in religiösen Rückzugsgebieten
Praktiken und Religion (einschl. Ritualen, Performanzen)Materielle Infrastrukturen und Rituale; räumliche Differenzierungen religiöser Praktiken
(Subjektive) Erfahrungen und ÜberzeugungenKörperlichkeit/Materialität und Religion; räumliche Differenzierungen religiöser Überzeugungen

Tab. 1: Dimensionen von Religion und exemplarische geographisch relevante Fragestellungen

Dies gilt, auf der „untersten“ sozial-räumlichen Maßstabsebene menschlicher Interaktion, für die Kontexte des Vorhandenseins, der räumlichen Verteilung, der Ausstattung und der institutionellen Zugänglichkeit von Kirchräumen, von Räumen für Begegnungen und gemeinschaftliche Aktivitäten oder für die Einübung spezifischer religiöser Praktiken wie der Kontemplation.

Dies gilt auch für die weiter gefasste Maßstabsebene des eigenen Stadtteils, Dorfes oder der Region mit den je spezifischen sozialen, ökonomischen, kulturellen, infrastrukturellen Potentialen, Problemlagen sowie Besonderheiten, welche sich in peripheren ländlichen Regionen anders gestalten als in multikulturell geprägten gründerzeitlichen Großstadtvierteln.

Entsprechende materiell-räumliche Situationen können aber nicht nur Kontexte, sondern auch Medium und „Zielvariablen“ pastoralen Handelns darstellen, wenn dieses sich zum Beispiel darum bemüht, zunächst einmal Orte der Begegnung zu schaffen und zu erhalten oder auch sozialräumliche Problemlagen im eigenen Stadtteil zu entschärfen. Gerade die Geographie hat heute eine Sensibilität dafür, dass das Denken und Verwalten in „Raumcontainern“ – und als solche ließen sich territorial abgegrenzte Pfarreien betrachten – in einer Reihe von Zusammenhängen wenig zielführend ist und z. B. der sozialräumlichen Lebenswirklichkeit vieler Menschen kaum mehr entspricht.

Tradierte Systeme wie das Territorialprinzip haben im öffentlichen Bereich auf der anderen Seite für die Beteiligten auch Vorteile, da sie z. B. Zuständigkeiten klar abgrenzen und potentielle organisationsinterne Konflikte minimieren helfen. Unter einer „pastoralen Geographie“ ließen sich z. B. auch Netzwerke von zugleich Orten, Institutionen und Personen verstehen, welche pastoral fruchtbar tätig sind. Ich denke hier an Orte wie Taizé oder klösterliche Gemeinschaften, die über personale Netzwerke und mit ihnen verbundene lokale Gruppen in zahlreiche Orte und Gemeinden ausstrahlen. Die religiöse Praxis ist eine, die Vorbilder und gemeinschaftliche Einübung braucht und damit auch Orte, an denen beide im Nahbereich zu finden sind.

LITERATUR

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Lebendige Seelsorge 4/2017

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