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Eine persönliche Selbstvergewisserungsreligion
ОглавлениеFragen der Religion und des Glaubens werden heute vielfach als etwas so Persönliches betrachtet, dass man eine Unterscheidung zwischen mehr oder weniger zutreffenden Antworten für eigentlich nicht möglich hält. Antworten auf religiöse Fragen können aus dieser Sicht nicht beanspruchen, eine allgemeingültige Wahrheit zum Ausdruck zu bringen; was sie ausdrücken, könnte man eher nennen: eine persönliche Einstellung zum Umgang mit elementaren Daseinsrisiken. Eine solche Einstellung muss sich nicht nach konsensfähigen Kriterien bewahrheiten, sondern braucht sich lediglich im individuellen Einzelfall zu bewähren. Eine gute Religion und ein tragfähiger Glaube zeichnen sich also vor allem dadurch aus, dass sie, wie auch immer, einen Beitrag zur Steigerung der individuellen Lebensqualität leisten. Ein Beispiel aus einem Gespräch mit Claudia, einer 17-jährigen Gymnasiastin aus Bayern:
Frage: Würdest Du sagen, dass Du manchmal betest?
Claudia: Ja, würd’ ich schon sagen!
Frage: Und wie sieht das aus, wenn ich Dich fragen darf?
Claudia: Ich falte nicht meine Hände, oder so, ich denk’, hey komm’, hoffentlich schaffst’ es! Vielleicht steht mir ja doch einer bei, oder so. Aber ich denk mal so. – Das wichtigste ist eigentlich, dass du auf dich selber vertraust, oder? Einfach, dass ich denke, ey, vielleicht hast du Glück, oder so. Vielleicht haut’s hin! Oder manchmal, wenn es irgendwie, so im Moment geht’s mir eigentlich so ganz gut, aber so vor einem Jahr hatte ich mal voll die Krise, da hab ich so an allem gezweifelt, oh Gott, ey: Was bringt dir das alles überhaupt, wenn du hier in der Gesellschaft lebst, und dass du überhaupt, was weiß ich, morgens einkaufen gehst und mittags in die Schule oder umgekehrt, und da, wenn dir irgendwas total wehtut, oder so, dann hast du irgendwas, an das du denken kannst, und dann, würde ich sagen, dann betest du. Oder manchmal, genau, wenn ich abends allein heimlaufe, oder so, ich mach das eigentlich gerne, so allein ein Spaziergang, wenn ich dann irgendwo lang lauf’, und dann denke ich so. – Hey, dann rede ich einfach so mit mir selber oder mit jemandem anderen, ob jemand da ist, oder nicht! Ich denk’ mal, das ist Beten, bei mir. Dann fühlst du dich eigentlich auch nicht allein.
Frage: Glaubst Du, dass irgendwer zuhört, eingreift, antwortet?
Claudia: Das ist gar nicht ausschlaggebend, oder? Kommt halt drauf an, dass du dich selbst gut fühlst. Ich weiß nicht, vielleicht überträgt sich’s ja irgendwo hin, aber ich glaub eher nicht. Es ist mir auch nicht so wichtig, eigentlich. (vgl. Prokopf/Ziebertz 2000, 39)
Claudia zermartert sich nicht das Hirn darüber, ob Gott existiert oder nicht, ob da einer ist, der sie hört, wenn sie betet, oder nicht. Aber sie hat in bestimmten Situationen ein offensichtlich starkes Bedürfnis nach diesem Akt einer externalisierten Selbstreflexion, nach einem „Besprechen des Lebens“ (Bitter 1986, 376f), das ihr das Gefühl gibt, nicht allein zu sein – und das sie mit einem gewissen religiösen Selbstbewusstsein eben „beten“ nennt.
Auch das könnte man als eine Art „Frömmigkeit ohne Glauben“ (vgl. Kurzke/Wirion 2005) bezeichnen. Jedenfalls geht es Claudia nicht in erster Linie um die Wahrheit eines Glaubens, sondern um die Wirksamkeit eines Tuns – eines Tuns, das in mancher Hinsicht therapeutische Züge trägt, das von Claudia selbst aber in einen religiösen Interpretationszusammenhang hineingestellt wird. Gleichzeitig zeigt sich hier noch einmal eine deutlich andere Einstellung der Religion gegenüber als beim religionsfreundlichen Kulturchristentum. Denn was bei diesem im Vordergrund steht: der Respekt vor den kulturellen Folgen des europäischen Christentums bzw. die Auseinandersetzung mit dem, was Bolz die „objektive Religion“ nennt, spielt bei Claudia möglicherweise gar keine Rolle. Deren Religiositätstypus könnte man eher eine „persönliche Selbstvergewisserungsreligion“ nennen. Gleichwohl wird auch hier etwas Religiöses erkennbar, das jenseits kirchlich gelebten Glaubens lebendig ist. Aus meiner Sicht jedenfalls sind Claudia und all diejenigen, für die sie hier steht, nicht in einem Feld religiöser Ignoranz und Bedürfnislosigkeit anzusiedeln, sondern eben in der vielgestaltigen neuen Mitte intermediärer Religiositätsformate. Ich vermute: Auch Claudia würde auf Nachfrage sagen, sie halte sich für „religiös“ – aber eben nicht für „ziemlich“ oder gar „sehr“ religiös, sondern, wie 40 Prozent der westdeutschen Bevölkerung, für „mittel religiös“. (vgl. Bertelsmann Stiftung 2009, CD 37)