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ОглавлениеEin paar Worte zuvor
Nehmen wir mal an, Astrid Lindgren wäre in ihren Pippi Langstrumpf-Büchern auf eine ungewöhnliche Idee gekommen: ihre Heldin mit den orange-farbenen Zöpfen wird eines Tages von einer Synode zur neuen Bischöfin gewählt. Das ist schon ein verwegener Gedanke: Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf an der Spitze einer Kirche, eine Neunjährige, die keine Angst hat, ganz anders als die meisten Erwachsenen um sie herum.
Was wäre wohl das Motto einer solchen Pippi Langstrumpf-Kirche? Vielleicht dieses: „Geht nicht, gibt‘s nicht“. Das wäre eine Revolution in einer Organisation, in der nicht selten nur das geht, was schon immer ging. Das würde richtig spannend werden. Und stellen wir uns nur die ersten offiziellen Pressefotos vor: Pippi mit Bischofsgewand und Bischofskreuz, kombiniert mit den waagrecht abstehenden Zöpfen ...
Würde Bischöfin Pippi dann trotzdem noch in ihrer Villa Kunterbunt residieren? Vermutlich schon. Und eine ihrer ersten Amtshandlungen wäre es dann vielleicht, eine Kirche Kunterbunt auszurufen. Und wie sähe diese dann aus?
Es macht durchaus Spaß, solchen Gedanken nachzuhängen. Warum nicht mal Gemeindeentwicklung ganz spielerisch angehen? Was würde tatsächlich in einer Kirche passieren, in der eine unkonventionelle Neunjährige die Weichen stellt?
Eine Fünfjährige antwortete jedenfalls begeistert mit „Ja“, als ihre Mutter sie fragte, ob sie in eine Pippi-Langstrumpf-Kirche gehen würde. Und dieses Buch beschreibt, dass einiges in dieser Richtung tatsächlich möglich ist.
Zu schön, um wahr zu sein?
Seit 2004 sind über 4000 Messy Churches gestartet, die meisten in Großbritannien.
„Kirche Kunterbunt“ ist die deutsche Übersetzung für „Messy Church“. Die schnell wachsende Messy Church-Bewegung (www.messychurch.org.uk) stellt wie die Efraimstochter tatsächlich auch die kirchliche Welt ziemlich auf den Kopf. Jedenfalls schauen alle ungläubig zum zweiten Mal hin, wenn sie die Zahlen sehen. Seit 2004 sind über 4000 Messy Churches gestartet, die meisten in Großbritannien. Viele auch in den anderen angelsächsischen Ländern, in Schweden, Dänemark und über weiteren 30 Nationen. In den Niederlanden zum Beispiel entstanden in nur wenigen Jahren über 150 „Kliederkerke“, wie sie dort heißen. Die Wachstums-Kurven der Messy Church-Bewegung passen so gar nicht zu den übrigen kirchlichen Trends. Sie stellen diese auf den Kopf, als wollten sie sagen: „Geht nicht, gibt es nicht ...“
Ein Kirchenhistoriker in Großbritannien sieht bei Messy Church sogar Parallelen zum phänomenalen Wachstum der „Sunday schools“1. Als der englische Zeitungsverleger und Sozialreformer Robert Raikes 1780 begann, in einem Elendsviertel von Gloucester verwahrloste Kinder zu sammeln und sie anhand der Bibel im Schreiben und Lesen zu unterrichten, wurde eine Bewegung geboren, die viele christliche Konfessionen erfasste. Sie wuchs bis 1910 in England auf fast 6 Millionen Teilnehmende. Damals gingen tatsächlich 85 % aller englischen Kinder in eine Sunday school.
Die Sonntagsschule hatte neben der Verkündigung auch eine starke soziale und pädagogische Komponente. Auch Kirche Kunterbunt kommt nicht frömmelnd, sondern bunt, überraschend und manchmal auch chaotisch daher. Wie in der Sunday School-Bewegung damals wird auch hier vieles vor allem von ehrenamtlichen Teams verantwortet, und die Treffen finden nicht nur in Gemeindehäusern statt. Und beide Bewegungen erreichen viele Menschen weit über die kirchlichen Kernmilieus hinaus. Ein Unterschied liegt allerdings darin, dass Kirche Kunterbunt ganz bewusst kein Kinderprogramm ist, sondern ebenso Erwachsene anspricht.
Vielleicht ist inzwischen auch in Deutschland die Zeit reif für eine Kirche Kunterbunt. Jedenfalls, das zeigt der Blick in andere Länder, hat diese Bewegung viel Potential, und manche vergleichen sie schon mit der Sonntagsschul-Bewegung vergangener Jahrhunderte.
Was macht eine Kirche Kunterbunt aus?
Von außen gesehen ist Kirche Kunterbunt zunächst ein monatliches, zwei- bis dreistündiges Event. An verschiedenen Kreativstationen wird zu einem Thema gebastelt und gespielt, experimentiert oder Kinder und ihre Begleiter sind sportlich aktiv. Danach folgen ein kurzer Werkstatt-Gottesdienst und im Anschluss ein gemeinsames Essen.
Aber es ist weit mehr als das, denn im Mittelpunkt stehen gelebte Gastfreundschaft und Gemeinschaft. Wer hier nur ein Programm-Angebot sieht, geht am Eigentlichen vorbei. Kirche Kunterbunt ist deshalb auch keine Zubringerstraße zum traditionellen Sonntags-Gottesdienst, sondern ein Ort, an dem ein geistlich geprägtes Beziehungs-Netzwerk entstehen kann, in dem Familien Glauben entdecken und einüben. Aber dazu später mehr.
Viele junge Familien in der Nachbarschaft kennen sich – vor allem durch ihre Kinder. Die Eltern treffen sich vor der Grundschule oder vor dem Kindergarten, nachmittags auf dem Spielplatz, beim Kinder-Turnen oder im Freibad. Einige sind bei der Kinderbibelwoche dabei, manche gehen vielleicht in die Jungschar-Gruppe und zum Kindergottesdienst, viele aber auch nicht.
Kirche Kunterbunt ist nicht ein weiteres Kinderprogramm, sondern spricht altersübergreifend auch die Erwachsenen an, die ganze Familie also. Das trifft durchaus einen postmodernen Nerv in Zeiten von Ganztagsbetreuung und wenig gemeinsamer Familienzeit. Viele Eltern wünschen sich, Zeit miteinander mit ihren Kindern zu verbringen, vor allem am Wochenende. Diese kostbare Zeit wollen sie gemeinsam erleben, sie wollen kein Kinderprogramm, das ihnen ihre Kinder wegnimmt. Wenn der unter der Woche viel beschäftigte Vater mit seiner Tochter oder die berufstätige Alleinerziehende mit ihrem Sohn an einer der Kreativstationen von Kirche Kunterbunt einen Versuch ausprobiert oder eine Szene mit Playmobil nachbaut, dann kann Glaube gemeinsam neu entdeckt werden.
Mit diesen jungen Familien, mit den Kindern und ihren Bezugspersonen (das können auch die Großeltern oder Paten sein) baut Kirche Kunterbunt ein Beziehungs-Netzwerk. Die monatlichen Treffen sind Ankerpunkte, aber auch im Alltag begegnet man sich Zusätzlich gibt es bei den Treffen „Ideen für Zuhause“ (s. Praxisteil) zum Mitnehmen, so dass auch zuhause manches umgesetzt und eingeübt werden kann. Gerade auch bisher dem Glauben gegenüber indifferente oder skeptische Erwachsene werden so fast spielerisch zu ersten Schritten der Nachfolge eingeladen und begegnen Bibeltexten ganz neu, oft mit den Augen ihrer Kinder.
Die DNA einer Kirche Kunterbunt
Kirche Kunterbunt ist kreativ, fröhlich feiernd, gastfreundlich, generationenübergreifend und christuszentriert. Im Buch werden diese grundlegenden Werte näher entfaltet.
Und wer eine Definition braucht, soll auch nicht leer ausgehen: Kirche Kunterbunt ist eine generationenübergreifende, neue Ausdrucksform von Kirche, in der Kinder und ihre Bezugspersonen zusammenkommen, um zu reden, kreativ zu werden, miteinander zu essen und Gott zu feiern.2
Kirche Kunterbunt bildet damit auch einen Gegenpol zu gesellschaftlichen Trends. Kirche Kunterbunt bedeutet, selbst kreativ zu werden, anstatt nur shoppen zu gehen, Zeit zu haben am Tisch und eine Tischgemeinschaft wirklich zu genießen. Und sie ist eine Einladung, zurückzukehren zu den biblischen Quellen, spirituell neugierig zu sein, sich von Kinderfragen in Frage stellen zu lassen. Durch eine Kirche Kunterbunt wird zudem eine verlässliche Gemeinschaft im Nahbereich aufgebaut.
Kirche Kunterbunt ist, wie es die Gründerin Lucy Moore formuliert hat, ein Raum, in dem Reich Gottes erfahren wird, so dass Einzelne und ganze Familien wachsen können – zur Verherrlichung Gottes und zur ganzheitlichen Gesundung eines Gemeinwesens.
Kompakt formuliert: Es geht um
Die „Messy Churches“ erreichen
am meisten die kirchlich Distanzierten.
Kirche für Familien, die nicht zur Kirche gehen
Untersuchungen aus England zeigen, dass – innerhalb der Fresh X-Bewegung – überraschenderweise gerade die „Messy Churches“ am meisten die kirchlich Distanzierten erreichen. Der Grund ist vermutlich, dass es in dieser Lebensphase intensive Beziehungsnetzwerke vor Ort gibt und es leicht ist, andere einzuladen.
Kirche Kunterbunt ist, das werden wir immer wieder betonen, nun aber nicht nur ein Kinderprogramm oder Bastel-Angebot im Gemeindehaus, sondern eine neue Form von Kirche. Sie ist, wie es der Neutestamentler Hans-Joachim Eckstein einmal treffend formuliert hat, schon „ganz Kirche, aber nie die ganze Kirche“. Sie dient also nicht nur dazu, junge Familien dann irgendwann zum Sonntagsgottesdienst zu bringen. (Natürlich kann dies geschehen, aber es ist nicht das eigentliche Ziel – eben weil Kirche Kunterbunt schon Kirche ist.)
Viele Kirchengemeinden haben durch Kindergärten, Kinderbibelwochen, Eltern-Kind-Gruppen, durch Kontakte zu Taufeltern, Kindergruppen, Sommerferienprogramm, Freizeiten und andere Aktivitäten bereits viele Schnittmengen mit jungen Familien. Eine Kirche Kunterbunt kann hier zu einem inhaltlichen Mittelpunkt werden und diesen Menschen einen geistlichen Lebensraum anbieten, ein eigenes Beziehungsnetzwerk, in dem sie erste Schritte der Nachfolge gehen.
Es gibt viele gute Gründe, mit einer Kirche Kunterbunt zu starten – und es gibt auch durchaus fragwürdige Motive dafür. In Kapitel zwei finden sich zehn Argumente, die auch für das Gespräch mit Leitungsgremien und Kirchenvorständen hilfreich sind, und auch zehn „nicht so gute Gründe“.
So ist das Buch aufgebaut
Zunächst werden die vier Programm-Bausteine einer monatlichen Kirche Kunterbunt beschrieben:
Erst mal ankommen: Kirche Kunterbunt steht für eine Willkommenskultur, die sofort sichtbar und spürbar wird, wenn man den Raum betritt.
Dann folgt ca. eine Stunde für das gemeinsame Aktivsein von Jung und Alt zu einem Thema oder Bibeltext: im Raum verteilt stehen Kreativstationen (im Sommer können es auch Stationen im Freien sein). Das sind nicht nur Bastelangebote, sondern es geht vielfältig zur Sache, kreativ, pädagogisch und sportlich.
Manche Ergebnisse, wie vielleicht Fotos von Figuren oder Playmobilszenen, ein Theaterstück oder ein Fingerfarbengemälde finden ihren Weg in den kurzen Werkstatt-Gottesdienst, der sich anschließt. Auch dieser lebt von der Beteiligung.
Und schließlich: keine Kirche Kunterbunt ohne Tischgemeinschaft und Essen. Ob selbst gekocht wird, ob der Pizza-Service vorbeikommt oder ob es Essen im „bring & share“-Stil gibt: Hier hat man Zeit zum Reden, hier lernen manche Familien wieder, wie wichtig Tischgemeinschaft ist und was ihnen entgeht, wenn sie zuhause nur im Stehen oder aus dem Kühlschrank essen.
Richtig, Kirche Kunterbunt ist aufwendig, und es braucht einiges an Vorbereitung für diese meist dreistündigen, intensiven Treffen. Auch deshalb findet Kirche Kunterbunt in der Regel nicht wöchentlich, sondern monatlich statt. Dazwischen kann sich ja auch viel ereignen. Einen monatlichen Rhythmus aber braucht es, damit Beziehung entstehen kann.
Das dritte Kapitel beantwortet (fast) alle Fragen im Blick auf den Start einer Kirche Kunterbunt:
Wie könnten die ersten Schritte aussehen, wie bekommt man grünes Licht von den Leitungsgremien?
Wie groß sollte ein Team sein? Wie finden wir die richtigen Personen? Und was hat es mit dem „Innenministerium“ auf sich?
Welche Räume und Ressourcen braucht es? Welche rechtlichen Fragen sind zu bedenken?
Wie wird eine Kirche Kunterbunt bekannt? Was läuft über Mundpropaganda, und wann benötigt es gezieltes Marketing?
Welche Vernetzung bietet sich vor Ort an? Und beim Blick auf den Jahreskalender, wo kann angedockt werden?
Kinder stellen oft
die besseren Fragen.
Kapitel vier entfaltet dann die Grundwerte von Kirche Kunterbunt: kreativ sein als Grund- und Lebenshaltung. Wieso Kirche Kunterbunt eine fröhliche Angelegenheit ist und warum das Feiern eines Gottesdienstes dazugehört. Wie eine Kirche Kunterbunt gastfreundlich und einladend sein kann. Und wie wir generationenübergreifend gemeinsam lernen und unterwegs sein können, auch im Glauben. Kinder stellen ja oft die besseren Fragen. Und eine Pippi Langstrumpf hat Erwachsenen vieles beizubringen, zum Beispiel, einfach weniger Angst zu haben. Und schließlich christuszentriert: das klare christliche Profil der Kirche Kunterbunt. Sie ist eine neue Form von Gemeinde, eine Nachfolge-Gemeinschaft – auch wenn manches mit Sicherheit ungewohnt ist und eben kunterbunt daherkommt.
Schließlich folgen über 100 Seiten mit sehr konkreten Vorschlägen zu einzelnen Themen. Damit lässt sich ein erstes Jahr gut füllen.
Dieses Buch muss nicht kapitelweise von vorne nach hinten gelesen werden, auch wenn sich das natürlich anbietet. Gerne können Sie auch kunterbunt irgendwo zu lesen anfangen. Dass verschiedene Autorinnen und Autoren am Werk waren, spürt man einzelnen Artikeln sicherlich ab. Auch das Buch ist das Ergebnis eines bunten Teams, so wie Kirche Kunterbunt vor Ort.
Und ein imaginärer, lustiger Brief an das Team in Hintermwalde gehört ebenso dazu wie Interviews mit Praktikerinnen und Praktikern, eine Gaben- und eine Checkliste für Besuche.
Unser gemeinsamer Wunsch ist, dass Sie Hoffnung schöpfen, Ihre Phantasie Flügel bekommt und dass Sie am Ende sagen: „Geht nicht, gibt‘s nicht. Wir starten eine Kirche Kunterbunt bei uns.“
1 Vgl. George Lings, Messy Church Theology, S. 131–153.
2 Lucy Moore / Jane Leadbetter, Starting your Messy Church, S. 15.