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2 Anfälle beobachten und Erste Hilfe bei Anfallsereignissen Petra Ott-Ordelheide 2.1 Einleitung
ОглавлениеAnfälle und deren Formen haben eine zentrale Bedeutung für die Klassifikation eines Epilepsiesyndroms und damit sind sie wegweisend bei der Behandlung einer Epilepsie. Anfallsbeobachtung und die Beschreibung der Anfälle sind ein wichtiger Teil der Diagnosefindung und Therapieentscheidung. Handelt es sich um eine Epilepsie oder um eine andere Erkrankung? Wie soll die Epilepsie klassifiziert werden? Diese und andere Fragestellungen lassen sich nur mit Hilfe der schriftlichen Schilderung der charakteristischen Symptome eines Anfalls beantworten.
Auch die Ermittlung der Verlaufskontrolle, wie beispielsweise die Einschätzung der Anfallsfrequenz, oder die Wirkung der aktuellen antiepileptischen Therapie sind auf die Angaben in der Anfallsdokumentation angewiesen.
Freizeit, Beruf und jeder Lebensbereich im Alltag werden durch eine Epilepsie beeinflusst. In vielen Aspekten können Patient*innen mit Epilepsie auf Unterstützung angewiesen sein: Pflegende benötigen Kenntnisse der Anfallsformen und Hilfsmittel, um eine epilepsiebezogene Einzelberatung ( Kap. 10) durchführen zu können.
Nur durch die intensive Wahrnehmung der Anfälle kann beurteilt werden, welche Risiken sich aus diesen ergeben können: Bewusstseinsverlust, Stürze sowie unangemessene Handlungen während des Anfalls sind für sozialmedizinische Gutachten oder die Feststellung einer Fahrerlaubnis von zentraler Wichtigkeit.
Die Untersuchung des Anfallsverlaufes und der Frequenz der unterschiedlichen epileptischen Ereignisse sind das A und O, um das Outcome und die Prognose der Erkrankung einzuschätzen. Ein bedeutender Aspekt der Pflege von Menschen mit Epilepsie ist die Begleitung der Anfälle. Für die Beurteilung und Einordnung der Anfälle sind Kenntnisse der Neuroanatomie eine wichtige Voraussetzung, um verstehen zu können, wie sich Anfälle entwickeln können. Die Sorge für die Sicherheit der Patient*innen mit Anfallsereignissen, das Vermeiden von Komplikationen durch Anfälle und die Begleitung vor, während und nach einem Anfall sind zentrale Aufgaben der Profession Pflege.
Dokumentation und Beobachtung von Anfällen im klinischen Setting, aber auch in Einrichtungen der Eingliederungshilfe (nach Bundesteilhabegesetz, BTHG), sollen dazu beitragen, eine einheitliche Sprache der Dokumentation von Anfällen zu entwickeln und damit die Behandlung der Epilepsien zu unterstützen. Entscheidungen über die Art und den Umfang von fachlichen Betreuungsleistungen sind von der Anfallsart und -frequenz abhängig. So benötigen Patient*innen mit nächtlichen Anfällen eine Betreuung in der Nacht in ihrem persönlichen Wohnumfeld.
Die Ausbildung einer gemeinsamen Systematik zur Erfassung der Anfallsereignisse ist wichtig, um die interprofessionelle Kommunikation zu erleichtern – unabhängig vom Stationskontext –, epileptische Begebenheiten einheitlich zu benennen und mit Patient*innen in einen Dialog eintreten zu können, der eine gemeinsame Deutung der Erfahrungen in Zusammenhang mit der Epilepsie ermöglicht.
Bei der Dokumentation der Anfälle ist immer wieder ein Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Anforderungen der Berufsgruppen bezüglich der Anfallsbeschreibungen zu finden. Für Pflegende stehen Stürze und Beeinträchtigungen der Alltagskompetenzen im Vordergrund, Mediziner*innen priorisieren häufig klassifikatorische Merkmale. Dabei hat sich bewährt, dass sich die Dokumentation am Erscheinungsbild des Anfalls orientieren sollte und außerdem die Pathophysiologie berücksichtigt wird.
Im Zeitalter von vielfältigen digitalen Diagnostik-Möglichkeiten (insbesondere die Video-EEG-Diagnostik) und der Verfügbarkeit der elektronischen Dokumentationssysteme nimmt die Bedeutung der Beschreibung von Anfällen in Erzählform deutlich ab, nichtsdestotrotz ist die Wahrnehmung der Anfälle durch unterschiedliche Berufsgruppen, Angehörige und natürlich Patient*innen selbst von großer Relevanz für den Behandlungsprozess. Außerdem wird eine gemeinsame Sprache benötigt, mit der die Anfälle in der Übersicht einer Patientendokumentationskurve verdeutlicht werden, so dass sich jede*r Mitarbeiter*in des interdisziplinären Teams über die Anfalls-Situation informieren und die für seine Berufsgruppe notwendigen klinischen Entscheidungen mit den Patient*innen treffen kann.
Dabei sollte der Anfall nicht nur als Einzelereignis betrachtet werden. Auch die umfassende Wahrnehmung der Situation, in der der Anfall auftritt, ist von hoher Relevanz. So kann ein Sturzanfall in der Nacht im Bett weniger beeinträchtigend sein, wie der gleiche Anfall am Tag in einer beruflichen Situation. Hier ist von allen Pflegefachpersonen eine immer wiederkehrende Reflexion der Einschätzung notwendig, damit das individuelle Belastungserleben im Alltag der Betroffenen gesehen werden kann.
In diesem Kapitel wird eine Auswahl der wichtigsten Anfallsformen unter Berücksichtigung der neuen Klassifikation dargestellt. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Beobachtung und Dokumentation von Anfällen. Es erfolgt eine Darstellung von Untersuchungsmöglichkeiten während der Anfallsereignisse und technische Hilfsmittel zur Anfallserkennung werden vorgestellt. Abschließend werden die Themen SUDEP (sudden unexpected death by epilepsy), Erste Hilfe sowie die Thematik Anfallsereignisse in der Palliativbetreuung und Intensivpflege thematisiert.