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Sascha Dinse
Namtar

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»Nun mach schon!«, flüstert Jamaal. »Wenn du noch länger brauchst, können wir auch gleich auf den Sonnenaufgang warten.« In diesem Moment stieben Funken und setzen das um einen Ast geschlungene Tuch in Brand.

»Geduld, mein Freund, ist eine Tugend«, erwidere ich lächelnd und werfe die Fackel in das Loch zu unseren Füßen. Wir schauen hinunter.

»Das wird knapp«, sagt Jamaal und schlingt das aus Kamelhaar gefertigte Seil um den Stamm einer Dattelpalme in der Nähe, »aber es wird reichen.«

»Ich gehe zuerst«, flüstere ich, »du folgst, in Ordnung?«

Jamaal nickt.

Ich greife nach dem Seil, steige über die Kante und klettere hinab. Unten angekommen greife ich nach der Fackel und schaue mich um. Zu allen Seiten erstreckt sich eine Höhle, ich vermag im flackernden Licht der Fackel keine Wände auszumachen.

»Jetzt du«, rufe ich und schaue hoch zu meinem Freund, dessen Umriss sich im Schein des Mondlichts abzeichnet. Nur einen Moment später ist auch Jamaal unten. Er fördert eine zweite Fackel hervor und entzündet sie an meiner.

»Sei vorsichtig«, sage ich, »und sollte die Erde ein weiteres Mal beben, treffen wir uns ohne Umschweife wieder hier, in Ordnung?« Wir nicken einander zu.

»Was glaubst du, welche Reichtümer hier unten auf uns warten?«, fragt Jamaal und lächelt verschmitzt. »Vielleicht eine Silberader?«

Ich lasse den Blick schweifen und spüre einen Luftstrom im Nacken, der mich einen Augenblick lang frösteln lässt. »Keine Ahnung«, erwidere ich, »ich hoffe vielmehr, dass wir hier keine große Torheit begehen, mein Freund.«

»Ach komm, Aki«, erwidert Jamaal lachend, »wir haben schon oft gemeinsam Höhlen erkundet und uns ist noch nie etwas zugestoßen.«

»Du hast recht«, antworte ich, »aber dieser Ort hier fühlt sich anders an.« Ich schaue ihm in die Augen. »So, als wäre ich schon einmal hier gewesen.«

Wieder und wieder lasse ich den Hammer niedersausen und treibe einen nach dem anderen die Holzpfähle in den Boden. Ich hatte gehofft, damit vor dem Einsetzen der Mittagshitze fertig zu werden, doch hat mich die kräftezehrende Arbeit länger beschäftigt als geplant. Einen Augenblick lang halte ich inne und betrachte mein Werk, die Hände in die Seiten gestützt und in der Tat ein wenig von Stolz erfüllt. Vielleicht habe ich den Mund etwas zu voll genommen, als ich Kila versprach, für unsere Ziegen den besten aller Zäune zu bauen, aber zumindest wirkt er bereits jetzt so, als könnte ihn keines der Tiere ohne Weiteres überwinden. Die Ziegen jedenfalls beäugen mein Treiben misstrauisch und ich bezweifle, dass sie verstehen können, dass der Zaun sie nicht nur am Weglaufen hindern, sondern auch vor Raubtieren schützen soll.

Ich greife nach dem Säckchen mit den Holzkeilen darin und stecke diese in die Öffnungen, von denen sich je eine oben an jedem Pfahl befindet. Danach lege ich die Querstreben auf die Keile und befestige sie mit einem darum geschlungenen Seil, verknote, ziehe stramm, prüfe. Die Luft um mich flirrt und Schweiß rinnt mir in Strömen vom Körper. Mehr als einmal zwischendrin nehme ich einen Schluck aus dem Wasserschlauch und gieße mir etwas erfrischendes Nass über den Kopf. Jeder Muskel in meinem Körper schmerzt und ob der Anstrengung und Hitze ist mir schwindelig. Schließlich ist es vollbracht und ich klaube mein Werkzeug zusammen.

Ich hebe den Blick und sehe Jamaal, der mir entgegenkommt. Er deutet auf irgendetwas am anderen Ende des Dorfes und winkt mich heran. Auf dem Weg zu ihm fällt mir eine Hütte genau in der Mitte des Dorfplatzes auf, deren aus dunklem Holz gefertigte Bretter in der Glut der Mittagshitze zu verschwimmen scheinen. War sie immer schon da? Wer wohnt darin? Ich kann mich nicht erinnern.

Wie von selbst setzt sich ein Fuß vor den anderen und ich bewege mich darauf zu, während die Hütte mit jedem Schritt größer und schwärzer erscheint. Die Hitze der Mittagssonne verliert ihr Brennen, stattdessen überkommt mich mehr und mehr das Gefühl von Kälte und lässt mich frösteln.

»Aki, alles in Ordnung?«, höre ich Jamaals Stimme direkt neben mir. Ich fahre herum und schaue meinen Freund an, auf dessen Gesicht ein besorgter Ausdruck liegt.

»Ja …«, gebe ich zurück, »ich glaube schon.« Ich wende den Blick ab und schaue nach vorn, dorthin, wo eben noch die unheimliche Hütte stand. Sie ist verschwunden und mit ihr auch die Kälte.

»Los, komm, du willst doch sehen, wie die Karawane mit den Spielleuten eintrifft, nicht wahr?«, fragt Jamaal und läuft los. »Heute Abend wird es sicher ein Fest geben. Musik und Tanz, das wird wundervoll.«

Ich folge ihm und schon Augenblicke später weiß ich nicht mal mehr, warum ich überhaupt innegehalten hatte.

»Ich hätte nicht gedacht, dass das so gut funktionieren würde«, sage ich beeindruckt und schaue dabei zu, wie die an einem Seil befestigten Gefäße Wasser ans Tageslicht fördern. Eines nach dem anderen entleeren sich die Eimerchen in ein Netzwerk aus in Baumstämme geschnittenen Schächten, die das kostbare Nass in verschiedene Richtungen leiten.

»Manchmal, mein Freund, habe auch ich gute Ideen«, antwortet Jamaal und schaut hinüber zu dem Esel, der im Kreis trabt und mit seiner Muskelkraft die aus Brettern und Seilen zusammengezimmerte Konstruktion antreibt.

Ich schaue Jamaal an. »Wann ist dir diese Idee gekommen?«, frage ich. »Das ist … unglaublich.«

»Ich habe davon geträumt«, erwidert er. »Eines Nachts hatte ich diese … Eingebung.« Er wirft mir einen schelmischen Blick zu. »Die Götter sind uns wohlgesonnen, Aki, sie haben mir den Weg gezeigt, unser Land noch fruchtbarer zu machen. Wir werden niemals wieder Hunger leiden.«

Jamaal und ich gesellen uns zu den Spielleuten, die mit Feuereifer dabei sind, Zelte aufzubauen, Bretter herbeizuschleppen und allerlei Werkzeug aus den auf ihre Kamele geschnallten Bündeln zutage zu fördern. In der Mitte des Dorfes errichten wir gemeinsam eine Bühne, stabil genug, um ein Dutzend Männer zu tragen.

»Sagt, liebe Leute, was führt euch in unser Dorf?«, fragt Jamaal irgendwann, an die Spielleute gewandt. »Wir sind hocherfreut über euren Besuch, doch ich fürchte, wir können eure Kunst nur mit Gastfreundschaft, statt mit Silber oder Gold entlohnen.«

Niemand antwortet, es scheint, als wären Jamaals Worte ungehört verklungen. Stattdessen halten auf einen Schlag alle Arbeiter inne und verharren in ihren Positionen. Unvermittelt tritt eine Frau aus einem der Zelte weiter hinten. Ihr Haar ist schlohweiß und wird von der Brise des Nachmittags verweht. Es scheint mir, als verströmte es einen Dunst, einen hauchfeinen Nebel, wie Atem in einer kalten Nacht. Ihr Gewand entblößt mehr als es verhüllt und erlaubt den Blick auf kunstvolle Zeichnungen entlang ihrer Arme und Beine. Wenngleich ihr Aussehen ungewohnt ist, so strahlt die Fremde eine Schönheit aus, die sowohl Jamaal als auch mich in ihren Bann zu ziehen scheint.

»Sorgt euch nicht um Silber oder Gold«, säuselt die Frau, während sie sich barfuß durch die Gruppe der Erstarrten auf uns zu bewegt. Die vom Sand zurückgeworfene Gluthitze scheint ihr nichts auszumachen. »Eure Gastfreundschaft ist uns Lohn genug.« Vielleicht ist es ihre Erscheinung, die meine Sinne vernebelt, doch ich könnte schwören, dass nicht einer ihrer Schritte eine Spur im Sand hinterlässt.

»Woher stammt ihr?«, frage ich und betrachte die auf ihre Haut gezeichneten Darstellungen von Schlangen, so detailreich, dass sie wie lebendig wirken. »So etwas habe ich nie zuvor gesehen.«

»Ich nenne eine ganz besondere Stadt mein Zuhause«, antwortet sie und wirft erst mir, dann Jamaal einen Blick zu. »Sie liegt nicht weit von hier.«

Die Frau bewegt sich um uns herum, bis sie direkt hinter uns steht. Meine Muskeln gehorchen mir nicht, stattdessen sind meine Glieder von Kälte erfüllt. Weder kann ich den Kopf drehen, noch irgendeine andere Bewegung vollführen. Jamaal geht es ebenso.

»Ich bin sicher, dass wir uns dort eines Tages begegnen werden«, fährt die Frau fort, die wir hören, aber nicht mehr sehen können. »Wann das sein wird, liegt indes ganz bei euch.«

Von einem Augenblick zum anderen kommt wieder Leben in die Arbeiter um uns und sie setzen das Zimmern, Hämmern und Vertäuen fort, als wäre nichts geschehen.

»Was ist passiert?«, fragt Jamaal und greift sich an den Kopf. »Ich fühle mich irgendwie schwindelig.«

»Geht mir auch so«, erwidere ich und taumle einen Schritt rückwärts. »Das ist sicher die Hitze. Ich glaube, ich sollte etwas trinken.«

»Was meinst du damit, dass du schon mal hier gewesen bist?«, fragt Jamaal. »Der Eingang ist doch gestern erst durch das Erdbeben freigelegt worden.«

»Ich weiß nicht«, antworte ich und schwenke die Fackel, als könnte ich damit den Umkreis vergrößern, in dem sie die Dunkelheit erhellt. »Es ist nur so ein Gefühl.« Ich bringe ein Lachen hervor. »Bestimmt ist es gar nichts. Sag bloß, mein Gerede hat dir Angst gemacht.«

»Ach was, keine Spur«, gibt Jamaal zurück und versucht selbstsicher zu klingen. »Du hoffst doch nur, dass ich davonlaufe und dir die Schätze überlasse.« Er grinst mich an. »Da musst du dir schon mehr einfallen lassen.«

Wir entfernen uns voneinander und erkunden die Höhle. Noch immer ist keine Wand oder etwas Ähnliches zu erkennen. Wie ist das möglich? Eine Höhle dieser Größe, nur ein paar Fuß unter der Erde?

Während ich noch meinen Gedanken nachhänge, taucht in der Finsternis vor mir ein Lichtpunkt auf. Ich beschleunige meine Schritte, laufe fast, da mehr und mehr das Gefühl von mir Besitz ergreift, dass ich diesen Ort schnellstmöglich verlassen sollte. Der Lichtpunkt wird größer und dann erkenne ich, dass es eine Fackel ist. Noch jemand anders ist hier unten!

Ich will herumfahren und nach Jamaal rufen, doch der Fackelträger kommt mir zuvor.

»Aki?«, schallt es von vorn. »Bist du das?«

Ich bleibe stehen und bin wie vom Donner gerührt. Jamaal kommt mir entgegen. Das ist unmöglich. Ich bin sicher, dass wir in entgegengesetzte Richtungen gegangen sind.

»Wie …?«, presse ich hervor, unfähig, den Rest der Frage auszusprechen.

»Das ist unheimlich«, sagt Jamaal und schaut mich an, als hätte er einen Geist gesehen. »Ich glaube, wir sollten verschwinden, ganz egal, ob es hier unten Reichtümer gibt.«

Mehr als ein Nicken bringe ich nicht hervor und folge meinem Freund, der den Weg zurückgeht, den er gekommen war. Nach kurzer Zeit erreichen wir die Stelle, an der sich unsere Spuren trennen, doch das Seil ist verschwunden, ebenso der Ausgang. Erst jetzt bemerke ich, dass auch nach oben hin nur Dunkelheit herrscht und keine Decke einer Höhle zu sehen ist.

»Was ist hier los?«, frage ich krächzend, während das Gefühl, das mich unmittelbar nach Betreten dieses Ortes überkam, wiederkehrt, stärker als zuvor.

Jamaal schaut sich um, schwenkt die Fackel und kratzt sich am Kopf. Dann deutet er in eine Richtung. »Komm, wir versuchen es so«, sagt er und geht senkrecht zur fast schnurgeraden Linie unseren Spuren in die Dunkelheit. »Was auch immer hier vor sich geht, es spielt vielleicht unseren Sinnen einen Streich.«

Ich versuche, das ungute Gefühl abzuschütteln, und obwohl es mir nicht vollständig gelingt, nicke ich. »Gut, aber diesmal bleiben wir zusammen.«

Bunte Flammen züngeln aus dem Stab, den der Akrobat herumwirbelt und damit Muster in die Dunkelheit zeichnet. Zum Rhythmus der Trommeln, treibend und schnell, entstehen Wirbel und verschlungene Formen, die alle Umstehenden in ihren Bann ziehen. Kinder springen lachend auf und ab, bei jedem Funkenregen geht ein Jauchzen durch die Menge. Bilder entstehen vor meinen Augen, sich ineinander schlängelnde Formen verschmelzen zu einer Kreatur, der ein Eigenleben innezuwohnen scheint, sie windet sich durch die Luft, und einen Moment lang könnte ich schwören, dass mich das aus Feuer gezeichnete Wesen ansieht.

Ich muss den Blick abwenden und lasse ihn stattdessen über den Festplatz schweifen. Alles ist erleuchtet von Fackelschein, der Geruch von Tee und gebratenem Fleisch dringt in meine Nase. Die Bühne im Zentrum des Dorfes ist von zwei Feuerschalen gesäumt, deren Schein die Umgebung weithin erhellt. Daneben scharen sich Kinder um einen Schlangenbeschwörer, der mit Flötenklang eines seiner Tiere zum Tanzen bringt. Kila und Enisa streifen mit Bauchläden ausgerüstet durch die Feiernden und verteilen Leckereien, servieren berauschenden Tee und stimmen hier und da in Lieder ein, die über den Festplatz hallen. Etliche der Spielleute haben sich unter die Dorfbewohner gemischt und bieten, in fantasievolle Gewandungen gehüllt, ihre Kunst dar. Jongleure, die brennende Stoffbälle durch die Luft sausen lassen, Tänzerinnen, die in kaum mehr als Schleier gehüllt, die Blicke der umstehenden Männer auf sich ziehen, Illusionisten, die Zaubertricks vollführen und Münzen hinter Kinderohren zutage fördern, der Platz ist bis zum Bersten gefüllt mit glücklichen Menschen.

Weiter hinten sehe ich Jamaal, der sich gerade mit drei Krügen in der Hand den Weg zwischen Ständen und Gauklern hindurch bahnt.

»Für wen ist der dritte?«, frage ich lächelnd, nachdem ich einen der Krüge aus Jamaals Hand genommen habe.

Er schaut mich ratlos an. »Was meinst du?«, fragt er.

»Der dritte Krug«, entgegne ich und zeige auf die beiden übrigen.

»Oh, der ist für mich«, raunt es von der Seite. Ich wende den Kopf und schaue in das Gesicht eines alten Mannes, der auf einen knorrigen Stab gestützt neben uns steht. Dann sehe ich Jamaal an, der dem Alten einen der Krüge reicht, bevor er sich abwendet und in der Menschenmenge verschwindet. Ich will ihm hinterherrufen, doch aus irgendeinem Grund tue ich es nicht.

»Bevor du dich wieder mit deinen Freunden ins Vergnügen stürzt, Aki, muss ich mit dir über etwas Wichtiges reden«, sagt der Alte.

Wer ist er? Ich kann mich nicht daran erinnern, den Mann jemals zuvor gesehen zu haben.

»Du verstehst es jetzt noch nicht und das ist in Ordnung«, fährt er fort. Aus seinem zahnlosen Mund kommt ein alles andere übertönendes Lachen, das in meinen Ohren dröhnt. »Komm, setz dich einen Augenblick zu mir«, fordert mich der Alte auf und deutet auf eine aus Brettern gezimmerte Bank.

Ich komme seiner Bitte nach. »Wer seid Ihr?«, frage ich und kann mir keinen Reim darauf machen, was hier gerade geschieht.

»Das wirst du noch erkennen, Aki«, erwidert er und nimmt einen Schluck aus dem Krug. »Doch zuvor lass mich dir etwas über das Schicksal erzählen.«

Ich schaue zum Festplatz und den tanzenden Männern, Frauen und Kindern, illuminiert von Feuerschein.

»Du liebst diese Menschen, nicht wahr?«, fragt der Mann neben mir. »Selbst die griesgrämigen, verschlossenen, unehrlichen unter ihnen.« Ich nicke, ohne darüber nachzudenken. »Jedem von ihnen ist ein Schicksal vorherbestimmt, so war es immer schon.« Der Alte greift nach meiner Hand. Ich drehe den Kopf und schaue ihn an. »Die Willkür der Götter bestimmt den Verlauf des Lebens eines jeden Menschen«, fährt er fort, »doch was wäre, wenn das nicht so sein müsste?«

Er legt seine Hand in meine, und mein Blick fällt auf eine Narbe, die quer über seine Handfläche verläuft, vom Daumen in einer nahezu geraden Linie bis zum Ansatz des kleinen Fingers.

»Komm zu mir, wenn du es verstanden hast.«

Er erhebt sich, auf den Stab gestützt und wirft mir einen letzten Blick zu, bevor er von einem Moment zum nächsten verschwindet. Die Geräuschkulisse des Festes brandet gegen mich, ohrenbetäubend, ich höre jede Stimme, verstehe jedes Wort.

»Aki, wo bleibst du?«, ruft Jamaal von irgendwo aus dem Getümmel. »Das Stück beginnt jeden Moment.«

Ich suche nach ihm und finde meinen besten Freund, der Arm in Arm mit Enisa neben Kila steht. Alle drei winken mir zu. Ich dränge mich durch die Menschen und finde als ersten Jamaal, der mich breit grinsend ansieht. Er deutet auf Kila, die ihre Hände auf Enisas Bauch gelegt hat und ganz außer sich vor Freude scheint.

»Wir haben gewartet, bis wir wirklich sicher waren, bevor wir es bekannt geben«, sagt Jamaal. »Sieht aus, als wären wir euch zuvorgekommen.«

Ich umarme meinen besten Freund und gratuliere ihm von Herzen.

Jamaal wirft mir einen verschwörerischen Blick zu. »Aki, ich erwarte nicht weniger als vollen Einsatz, damit es bei euch auch bald so weit ist«, fährt er fort.

»Wir arbeiten dran«, erwidere ich lächelnd, beglückwünsche Enisa und wende mich schließlich Kila zu.

»Schau nur, wie seltsam diese Frau aussieht«, sagt sie und deutet auf die Bühne. »Als wäre sie nicht von dieser Welt.«

Ich richte meinen Blick auf die Bühne. Die Frau mit den weißen Haaren hat in ihrer Mitte Position bezogen, steht dort, die Arme nach oben gestreckt und schaut zu Boden. Im nächsten Moment hebt sie den Kopf und unsere Blicke treffen sich. Ein Furcht einflößendes Lächeln schleicht sich in ihr Gesicht und einen Augenblick lang habe ich das Gefühl, dass unter der Maske betörender Schönheit etwas Schreckliches verborgen liegt.

Kila bricht das Brot und reicht mir etwas davon über den Tisch.

»Wie geht es dir heute?«, frage ich.

»Besser«, antwortet sie und schlägt die Augen nieder. Ihre Stimme klingt unsicher, nicht so wie sonst. »Ich träume noch immer nur von dieser einen Sache«, flüstert sie, »doch es macht mir keine Angst mehr.« Sie greift in die Tasche ihres Gewandes und fördert eine geschnitzte Figur zutage. »Hier«, sagt sie und reicht mir das kaum handtellergroße Stück Holz, »so sieht es aus in meinen Träumen.«

Nachdenklich halte ich das Abbild eines geflügelten Wesens in meiner Hand, drehe es und bewundere ein ums andere Mal Kilas Kunstfertigkeit. Ihre Figuren sind bei Reisenden beliebt, und es heißt, in ihnen läge eine besondere Art von Lebendigkeit. Ich betrachte Kilas Schöpfung, lasse die Figur auf meiner Handfläche ruhen und es scheint mir, als könnte ich ihr wirklich in die Augen sehen.

Ein kalter Hauch streift meinen Nacken, die Haare auf meinen Armen richten sich auf. Ohne dass ich sagen könnte, warum, drehe ich die Hand und lasse die Figur fallen. Ungläubig werde ich Zeuge, wie das Stück Holz zu Sand wird und von einem Windstoß hinfortgeweht wird, noch bevor es die Tischplatte erreicht. Ich schaue zur Tür. Sie ist geschlossen, die Fensterläden ebenso.

»Lass uns essen«, sagt Kila und greift nach dem Löffel.

Ich schaue erst sie an, dann fällt mein Blick auf die kleine Figur, die unverändert neben dem Wasserkrug zwischen uns steht.

»Ja«, gebe ich nach einigen Augenblicken zurück, »lass uns essen.«

Schweigend sitzen wir einander gegenüber, essen und trinken, während mein Blick wieder und wieder zu Kilas Kunstwerk wandert, das mir mit jedem Augenblick bekannter vorkommt. Habe ich auch davon geträumt, so wie sie? Oder ist da etwas anderes, das ich nicht zu begreifen vermag?

Aus dem mit Tüchern verhangenen Bereich hinter der Bühne tritt eine Gestalt hervor. Sie trägt einen Umhang, der mit in allen Farben schimmernden Federn besetzt ist, dazu einen Helm, der einem Vogelkopf gleicht. Von den Seiten her betreten weitere Personen die Bühne; ich erkenne einige der Musiker wieder, die zuvor auf dem Festplatz verteilt waren.

»So höret denn«, ruft die gefiederte Gestalt und breitet ihre Schwingen aus, »die Geschichte von Göttern und Menschen, so alt wie die Zeit selbst.«

Ein Donnerschlag ertönt und lässt uns alle zusammenzucken, als die Flammen aus den Feuerschalen bis hoch in den Himmel schlagen. Kila klammert sich an meinen Arm und kichert vor Begeisterung. Der Vogelmann deutet auf die Frau mit dem weißen Haar, deren Blick nun wieder zu Boden gerichtet ist.

»Vor langer, langer Zeit begab es sich, dass Erešhkigal, die Göttin des Todes und Herrin von Irkalla, sich in einem Disput mit Namtar fand, dem Gott des Schicksals. Die Götter waren uneins darüber, wie mit den Menschen zu verfahren sei.«

Trommelschläge setzen ein. Jetzt kommt Leben in die Frau mit den weißen Haaren. Sie lässt die Arme sinken, nur um sie sofort danach zu den Seiten zu strecken, in tänzelnde Schritte zu verfallen und sich im Takt der Trommeln hin und her zu wiegen. Nach und nach, binnen weniger Augenblicke, füllt sich die Bühne mit einem Nebel, der ihren Haaren zu entspringen scheint und im Feuerschein golden schimmert. Wilder und wilder werden die Bewegungen der Frau, sie rudert mit den Armen, springt, malt Muster in die von Dunst erfüllte Luft. Nach und nach beginnen sich Umrisse abzuzeichnen und von überall um mich her dringen Rufe des Erstaunens und der Begeisterung an mein Ohr. Schließlich betrachte ich die Silhouetten von Häusern und Menschen, selbst Ziegen laufen herum.

»Das ist unser Dorf«, sagt Kila begeistert. »Sieh nur, Aki, da ist der Zaun, den du gebaut hast. Das ist wundervoll.«

In diesem Augenblick betritt eine weitere Gestalt von hinten die Bühne. In dunkle Gewandungen gehüllt, das Gesicht unter einer Kapuze verborgen, trägt sie einen Stab aus schwarzem Holz bei sich. Die Trommeln verstummen.

»Bist du es, Namtar?«, fragt Erešhkigal, die noch immer Formen aus dem Nichts erschafft.

»Ja, Mutter, ich bin es«, antwortet die Gestalt.

»Was ist dein Begehr, mein Sohn?«, fragt sie und lässt die Arme sinken.

»Ich habe nachgedacht, über unser Gespräch zu dem, was die Menschen sind«, erwidert Namtar, »und ich schlage eine Wette vor.«

Erešhkigal stemmt die Hände in ihre Hüften und lässt den Blick über das Publikum schweifen. »Hört ihr das?«, fragt sie laut. »Er schlägt eine Wette vor, er, der Gott des Schicksals.« Sie lacht auf. »Als ob er nicht bereits wüsste, wie sie ausgeht.«

Gelächter im Publikum.

»Keineswegs, Mutter«, erwidert Namtar, »denn was ich vorzuschlagen habe, wird ein für alle Mal beweisen, dass die Menschen nicht mehr dieselben sind, die sie einst waren.« Er schlägt mit dem Stab auf den Boden, ein dumpfes Grollen ertönt.

»Ich bitte dich, mein Sohn«, gibt Erešhkigal zurück, »du weißt doch, wie die Menschen sind, gierig, dumm und grausam, mit Blindheit für das geschlagen, was gut für sie ist.« Sie deutet auf das Dorf aus Nebel. »Wir, die Götter, müssen ihnen den Weg weisen, den sie allein nicht sehen.«

»Ich wette mit dir, Mutter, dass es welche unter ihnen gibt, die so selbstlos und gut sind, dass sie selbst dein unerbittliches Herz zu erweichen vermögen«, ruft Namtar. »Lass mich den Menschen die Möglichkeit geben, ihr Schicksal selbst zu lenken. Sie werden sich beweisen. Du wirst sehen, dass sie es verdient haben.«

Die Trommeln setzen wieder ein, schneller als zuvor. Ein tobender Rhythmus brandet auf. Erešhkigal wischt mit der Hand durch das schemenhafte Dorf, lässt Häuser, Menschen und alles andere verschwinden. Das Trommeln verstummt.

»Nun gut, mein Sohn«, sagt sie, »dein Vorschlag klingt amüsant. Ich erlaube es einem Dorf, nur diesem einen, sich dem göttlichen Lauf der Dinge zu entziehen. Doch ich warne dich, das Tor nach Irkalla ist nah.«

Namtar tritt nach vorn und schaut in die Menge. »Ich wähle zwei von ihnen, die edel und rein sind, dort, wo es darauf ankommt«, ruft er. »Ich werde ihnen Macht geben, die kein Mensch sonst besitzt, und du, Mutter, wirst sehen, dass sie sie zum Guten verwenden werden.« Er hält inne. »Solange diese beiden weise wählen, soll das Schicksal der Menschen nicht länger in den Händen der Götter liegen, sondern in ihren.«

Erešhkigal lacht erneut laut auf. »So soll es sein«, ruft sie. »Aber klage hinterher nicht, wenn deine so geschätzten Menschen uns ein weiteres Mal enttäuschen.«

Namtar greift in eine Tasche seines Gewandes und zieht eine große Vogelfeder hervor. »Wer von euch solch eine bei sich trägt, soll auserwählt sein«, ruft er. Nach wenigen Augenblicken beginnen die Umstehenden, in ihren Taschen zu suchen. Ich indes vermag die Augen nicht von der Bühne abzuwenden.

Kila rüttelt an meinem Arm. Ergriffen schaut sie mich an und hält eine Feder in der Hand. »Die war in deiner Tasche«, flüstert sie. Ich sehe Jamaal, der direkt neben uns steht und ebenfalls eine Feder in der Hand hält.

»Schätze, wir sind die Auserwählten«, ruft er, hält die Feder hoch und deutet auf mich.

Namtar winkt uns heran. »Tretet näher, meine Freunde«, sagt er in wohlwollendem Tonfall. Wir bahnen uns unter dem Beifall der Umstehenden den Weg durch die Menschenmenge, hin zur Bühne. Eine skeptisch dreinblickende Erešhkigal nickt uns verhalten zu, Namtar reicht uns einem nach dem anderen die Hand und hilft uns auf die Bühne.

»Diese beiden hier«, sagt er, »stehen stellvertretend für die Menschheit. Zwei Freunde, die sogar ihr Leben füreinander geben würden. Doch manchmal«, er hält inne und schaut uns an, »sind die Opfer, die sie bringen, noch viel größer.« Er verneigt sich vor uns.

»Lasst sie wissen, wie dankbar ihr seid!«, ruft er mit Donnerstimme dem Publikum zu. Die Trommeln setzen ein, Flöten gesellen sich dazu. Gejohle und Applaus branden auf, Menschen klatschen und tanzen. Tränen rinnen über meine Wangen und ich weiß nicht einmal, wieso.

Seite an Seite schreiten wir durch die Dunkelheit. Sand knirscht unter unseren Füßen, ansonsten herrscht Stille, abgesehen von unserem Atmen. Noch immer sind keine Wände zu sehen.

»Vielleicht ist es ein Dschinn«, flüstert Jamaal, während er die Fackel zur Seite schwenkt. »Die Alten erzählen oft Geschichten davon, dass Wüstengeister ihren Schabernack mit Abenteurern und Reisenden treiben.«

»Hör auf damit«, entgegne ich und stoße ihn mit dem Ellenbogen in die Seite, »ich habe schon genug Angst.«

Für gewöhnlich ließe sich Jamaal die Gelegenheit nicht nehmen, mich damit aufzuziehen, doch er sagt nichts. Ich schätze, ihm ist genauso unwohl wie mir.

Vor uns, irgendwo im Dunkeln, schimmert etwas bläulich. »Dort«, sage ich und deute darauf. »Siehst du das?«

Jamaal nickt und wir beschleunigen unsere Schritte. Kurz darauf schälen sich im Fackelschein links und rechts des Weges Umrisse aus der Finsternis. Häuser, Bäume sogar, doch sie alle erscheinen wie aus Sand oder Fels geschaffen, an denen Wind und Wetter ihre Spuren hinterlassen haben. Das blaue Leuchten direkt voraus nimmt mehr und mehr Gestalt an. War es zuvor nur ein unbestimmbares Flimmern, so zeigt es sich jetzt als eine Art Torbogen.

Jamaal bleibt stehen. »Das … ist … unmöglich!«, stammelt er und blickt sich um. Dann sieht er mich an. Auf seinem Gesicht liegt ein Ausdruck, den ich nicht von ihm kenne. »Das ist unser Dorf, Aki.«

Kaum sind seine Worte verklungen, wird es auch mir klar. Einiges sieht anders aus, doch die Ausrichtung der Häuser, selbst die Standorte der aus Sand geformten Bäume, alles stimmt.

»Wie kann das sein?«, frage ich, während mich erneut das Gefühl überkommt, schon einmal an diesem Ort gewesen zu sein.

Das blaue Leuchten wird kräftiger, drängt die Dunkelheit zurück, überstrahlt den Schein unserer Fackeln, glüht förmlich. Genau in der Mitte des Dorfes, auf dem großen Platz, der für den Markt genutzt wird, erhebt sich ein Tor, dessen geschlossene Flügel silbern schimmern und dessen Bogen über und über mit seltsamen Symbolen verziert ist. Mein Blick wird von den Schriftzeichen angezogen, die wie mit einem Meißel in den Stein geschlagen aussehen.

Aus irgendeinem Grund kann ich lesen, was dort geschrieben steht. Die Worte lassen mich erschauern. Meine Knie werden weich und nur mit großer Mühe schaffe ich es, nicht zu Boden zu sinken.

»Wir sollten von hier verschwinden«, flüstere ich mit bebender Stimme, »so schnell wie möglich.«

Jamaal schaut mich an und schenkt mir einen spöttischen Blick. »Wir sind so weit gekommen, Aki«, gibt er zurück. »Jetzt lass uns wenigstens rausfinden, was es mit diesem Ding auf sich hat. Das sieht mir nach Silber aus.«

»Dahinter wartet der Tod«, sage ich in ruhigem Ton, obwohl in mir die Furcht kocht. »Wenn wir hindurchgehen, sterben wir.«

»Das kann doch gar nicht sein«, entgegnet Jamaal. »Schau doch, es liegt nicht einmal etwas dahinter.« Er deutet auf die Häuser auf der anderen Seite des großen Platzes. »Das ist einfach nur ein Tor. Es führt nirgendwo hin.«

»Jenseits dieser Pforte liegt der Eingang ins Reich der Toten«, sage ich.

»Aki, du machst mir Angst«, antwortet Jamaal. »Woher weißt du das?«

Ich deute auf die Schriftzeichen. »Es steht dort geschrieben.«

»Du kannst das lesen?«, fragt er und klingt überrascht. »Ich wusste nicht mal, dass du überhaupt lesen kannst.«

»Kann ich auch nicht«, erwidere ich. »Aber das dort verstehe ich.«

»Was genau steht denn da?«, fragt Jamaal flüsternd.

»Von Staub seid ihr, die diesen Ort passieren, der keine Rückkehr kennt«, lese ich vor. »Lehm soll eure Nahrung sein, Dunkelheit euer Heim.«

»Vielleicht sollten wir später wiederkommen, um die Schätze zu holen«, sagt Jamaal und versucht, sich seine Verunsicherung nicht anmerken zu lassen.

Noch bevor ich ihm antworten kann, huscht rechts von uns irgendetwas durch die Dunkelheit.

»Was war das?«, entfährt es Jamaal. »Hast du das gesehen?«

Ich nicke und fühle, dass mein Magen sich zusammenzieht. Von der Seite nähert sich eine Gestalt, deren Form an einen aufrecht gehenden Vogel erinnert. Sie tritt in den Schein unserer Fackeln, und während wir beide wie versteinert dastehen, zu keiner Handlung in der Lage, hebt sie zu reden an.

»Fürchtet euch nicht«, sagt das Vogelwesen mit dunkler Stimme. Seine Gesichtszüge wirken vage menschlich, vom schnabelförmigen Mund abgesehen, und sein Körper ist vollständig von Federn bedeckt, statt Armen trägt es zwei mächtige Schwingen links und rechts am Körper. »Euch wird durch mich kein Leid geschehen.«

Das Wesen bewegt den Kopf in sein Gefieder, biegt sich auf eine Art, wie nur ein Vogel es vollbringen kann. Dann bringt es eine Steintafel hervor, vielleicht zwei Handbreit breit und hoch, hält sie in seinem Schnabel und legt sie direkt vor unsere Füße, hebt den Kopf und schaut uns erwartungsvoll an. Einige Augenblicke lange geschieht nichts, niemand von uns sagt oder tut irgendetwas.

»Ist das ein Dschinn?«, fragt Jamaal.

Ich zucke die Schultern. »Woher soll ich das wissen?«, erwidere ich.

»Du weißt doch sonst alles«, zischt er.

»Hätte ich jemals einen Dschinn gesehen, wüsstest du davon«, zische ich zurück.

»Ja, da ist was dran«, murmelt Jamaal nachdenklich.

Das Vogelwesen legt den Kopf schief. »So muss es beginnen«, sagt die gefiederte Kreatur und deutet mit seinem Schnabel auf die vor uns im Sand liegende Platte. »Ein Wunsch für jeden. So muss es beginnen.«

Ich schaue hinunter zu der tanzenden Menge, sehe in lachende Gesichter und bin ergriffen von der Freude der Menschen, die mir so viel bedeuten. Unter Jubelrufen verlassen wir die Bühne, sind sofort umringt von all den anderen, die sich noch immer dem Rhythmus der Trommeln hingeben. Kila kommt mir entgegen und strahlt über das ganze Gesicht.

»Aki«, schallt es in diesem Moment hinter mir.

Ich drehe mich um. Erešhkigal steht am Bühnenrand und spießt mich mit ihrem Blick förmlich auf. Dass sie meinen Namen kennt, überrascht mich kaum mehr.

»Aus Staub ist die Welt der Menschen und zu Staub wird sie werden, vergiss das nie«, ruft die Frau und fährt sich mit ihren Händen durchs Haar. Weiß wird zu Schwarz und kündet von etwas Furchtbarem, das gleich geschehen wird. »Eurem Schicksal könnt ihr nicht entrinnen«, fährt sie fort. Erešhkigal streckt die Arme in die Höhe und plötzlich kommt Wind auf, wirbelt Sand nach oben wie in einem Schlot, verdunkelt die Sterne und nimmt binnen Augenblicken die Form einer Schlange an, deren Gestalt von blauem Glühen erfüllt ist.

Ich reiße mich von diesem Anblick los, falle Kila um den Hals und drücke sie an mich, halte sie, so fest ich kann. Ein Sturm bricht los, zerrt an mir, will mich zu Boden werfen, doch ich stemme mich ihm entgegen, muss die Frau in meinen Armen um alles in der Welt beschützen. Wie die Klauen eines wilden Tiers schneidet Sand in meine Haut, reißt Fetzen davon hinfort und fügt mir Schmerzen zu, die mit Worten nicht beschreibbar sind. Alles geschieht blitzschnell und plötzlich ist es vorüber. Das Tosen klingt ab, ich öffne die Augen.

Noch immer halte ich Kila im Arm, doch ihr Gesicht und ihr Haar sind vollkommen von Sand bedeckt. Sanft streiche ich ihn hinweg, doch taumle voll Entsetzen zurück, als ihre Gestalt in sich zusammenfällt, bis nicht mehr als ein Häufchen auf dem Boden von ihr übrig ist. Fassungslos drehe ich den Kopf und stelle fest, dass alles, Häuser, Bäume, Menschen, zu Sand geworden ist. Stille liegt über dem, was eben noch unser Dorf war.

In diesem Augenblick erinnere ich mich. Ich war schon einmal hier, unten in der Höhle, mit Jamaal, vor all diesen Jahren. Und ich weiß, was ich mir damals wünschte.

Jamaal und ich schauen einander an. Hat das Vogelwesen wirklich gerade gesagt, dass wir uns etwas wünschen sollen? Langsam richte ich meinen Blick nach unten auf die steinerne Tafel. Sie ist vollständig mit Symbolen und Zeichnungen bedeckt, die wie mit einem Keil in den Stein getrieben aussehen.

»Behalt das Ding im Auge«, flüstere ich Jamaal zu und gehe in die Hocke, um die Steintafel genauer zu betrachten. Die Zeichen erzählen eine Geschichte, doch ich kann mir keinen Reim darauf machen, zu vage und bizarr erscheinen die Wörter und Figuren. Zwei Wesen, eines von Schlangen umspielt, das andere an einen Vogel erinnernd, scheinen in einem Disput miteinander zu liegen, während über ihnen eine Vielzahl von Menschen dargestellt ist.

Mit zitternden Fingern greife ich nach der Platte und richte mich auf. »Wer bist du?«, frage ich, an das noch immer reglos dastehende, von Federn bedeckte Wesen vor uns gerichtet.

»Das wirst du noch erkennen, Aki«, antwortet es.

Ich zucke zusammen. Woher kennt das Ding meinen Namen?

»Doch jetzt müsst ihr tun, weswegen ihr hier seid.« Es deutet erneut auf die Steintafel in meinen Händen. »Wünscht euch etwas, legt die Hand darauf und schließt die Augen. So muss es beginnen. Nur so könnt ihr diesen Ort verlassen.«

»Wir können uns alles wünschen, was wir wollen?«, fragt Jamaal misstrauisch. »Und es wird in Erfüllung gehen?«

Das Vogelwesen nickt.

Ich wende meinem Freund den Kopf zu. »Vielleicht ist das eine Art Prüfung«, flüstere ich. »Wenn das wirklich ein Dschinn ist, sollten wir gut aufpassen, was wir uns wünschen. Ich erinnere mich an eine Geschichte, die mein Großvater mir erzählte. Da hat sich jemand gewünscht, niemals zu sterben und wurde dafür zu einem abscheulichen Ungeheuer gemacht, das Menschen verschlingt, dafür aber niemals sterben wird.«

Jamaal nickt. »Du hast recht«, antwortet er. »Wir sollten uns etwas wünschen, das weniger vermessen ist als Unsterblichkeit.« Er legt die Hand auf die Steinplatte. »Nun gut, ich wünsche mir, dass der Brunnen in unserem Dorf nie versiegen möge, damit wir stets genug Getreide anbauen können. Niemand soll jemals mehr Hunger leiden müssen.«

Ich schaue ihn an und bin gerührt von diesem selbstlosen Wunsch.

Das Vogelwesen nickt und wendet mir den Blick zu.

»Was wünschst du dir?«, fragt Jamaal und klingt aufgeregt.

Ich senke den Blick. »Das weißt du doch«, erwidere ich und fühle, wie mir die Schamesröte ins Gesicht steigt ob des weisen Wunsches, den Jamaal geäußert hat. »Ich kann nicht anders, es tut mir leid.«

»Ich weiß, mein Freund, ich weiß«, gibt Jamaal zurück und legt seine Hand auf meine Schulter. »Was glaubst du denn, warum ich mir etwas so Vernünftiges gewünscht habe, statt einen Palast aus purem Silber?« Er lacht. »Du bist immer für mich da, Aki, und egal wie oft ich mich selbst in Schwierigkeiten bringe, holst du mich raus. Da ist es nur recht und billig, wenn auch du einmal deinem Herzen folgst, statt deinem Verstand.« Jamaal greift nach meiner Hand und legt sie auf die Platte. »Nun mach schon.«

Ich schließe die Augen und kleide das in Worte, was ich mir schon so lange mehr als alles andere wünsche.

Ich schrecke hoch und mein erster Blick gilt Kila, die neben mir im Bett liegt und schläft. Es dauert eine Weile, bis ich sicher bin, dass ich nicht träume. Nur langsam setzen sich die Erinnerungen wieder zu etwas zusammen. Das Fest, der alte Mann, eine Feder in meiner Tasche. Kila, die vor meinen Augen zu Sand zerfiel.

Ich steige aus dem Bett, lege mein Gewand an und fühle mich noch immer wie umnachtet, während ich mir aus dem Krug etwas Wasser einschenke. Mit zitternden Händen greife ich nach dem Becher, doch er gleitet mir aus der Hand und fällt zu Boden. Ich gehe in die Hocke und mache mich daran, die nassen Scherben aufzuklauben. Erst nachdem ich sie in eine Schale neben der Feuerstelle gelegt habe, bemerke ich den Schmerz und den Schnitt quer über meine Handfläche. Ein roter Faden bildet sich dort, wo die scharfe Kante einer der Scherben in meine Haut schnitt. Er verläuft vom Daumen in einer nahezu geraden Linie bis zum Ansatz des kleinen Fingers.

Es war kein Traum, nichts davon. Mit einem Stück Tuch bedecke ich die Wunde, während mir klar wird, was ich tun muss. Ich gehe zur Tür, öffne sie und trete hinaus in die Nacht, ohne einen Blick zurück. Zögerte ich auch nur einen Moment länger, so fürchte ich, schwach zu werden und nicht fähig zu sein, dieses Leben hinter mir zu lassen. Mit entschlossenen Schritten nähere ich mich der Mitte des Dorfes.

Dort, wo gestern noch die Bühne stand, erblicke ich eine Hütte, aus dunklem Holz erbaut. Der Alte steht davor, auf einen Stab gestützt, und in seinem Blick liegt ein Ausdruck, den ich nicht zu interpretieren vermag.

»Tritt ein, Aki«, sagt er freundlich und lässt mich passieren. Ich traue meinen Augen kaum. Im Innern ist die Hütte größer als von außen, ihre Wände sind nicht aus Holz, sondern aus fein gehauenem Gestein, makellos und glänzend. Ich schaue den Mann fragend an, der gerade die Tür schließt. »Und, mein junger Freund, hast du verstanden, wer ich bin?«, fragt dieser.

Ich entferne das Tuch von der Wunde auf meiner Handfläche und strecke sie ihm entgegen. »Wie auch immer das möglich ist«, bringe ich hervor, »aber Ihr seid … ich.«

Der Alte grinst mich an. »Bin ich das?«, fragt er, stellt den Stab an die Wand der Hütte und breitet die Arme aus. Seine Gestalt wächst auf übermenschliche Größe heran, während das Gebäude um uns sich in einen Palast verwandelt, lichtdurchflutet, von Ehrfurcht gebietender Pracht, größer und schöner als alles, was ich jemals sah.

Ich weiche zurück, am ganzen Körper bebend. Nicht länger verwittert erscheint die Haut des Alten, stattdessen ist sie von perfektem Schwarz. Seine Arme sind Vogelschwingen und ein ohrenbetäubendes Rauschen geht von ihnen aus. Dann wird es still und wir stehen wieder in der Hütte.

»Nein, Aki«, entgegnet das Wesen. »Ich bin nicht du.« Es kommt näher, sinkt auf ein Knie vor mir und hebt den Kopf, schaut mir aus wie Obsidian schimmernden Augen entgegen. »Du, mein Freund, bist ich. Wirst es sein, eines Tages.«

»Namtar«, flüstere ich. »Der Gott des Schicksals.« Das Wesen nickt. Ich schüttle den Kopf. »Nein, ich bin kein Gott«, presse ich hervor. »Ich bin nur ein Bauer, nichts weiter, nichts Besonderes.«

Aus dem Schatten zu meiner Linken tritt eine Gestalt hervor. In ein Federkleid gehüllt und mehr Vogel als Mensch, bewegt sich das Wesen auf mich zu.

»Erinnerst du dich?«, fragt Namtar, der noch immer vor mir kniet. »Damals, in dieser Höhle, mit Jamaal.«

Ich nicke.

»Heute weißt du, dass es keine Höhle war, sondern ein Ausblick auf das Schicksal derer, die du liebst.«

Tränen rinnen über meine Wangen und ich sinke zu Boden.

»Dein Opfer, Aki, der Verzicht auf das, was du dir am meisten wünschtest, wird dafür sorgen, dass diejenigen, an denen dein Herz hängt, ihre Leben weiterleben können.«

Das Vogelwesen hat mich erreicht und streckt einen seiner Flügel aus. Sanft bedeckt es mich damit, und auch wenn ich es selbst nicht verstehe, fühle ich mich geborgen.

»Die Sterblichen brauchen keine Götter mehr, um ihre Geschicke zu lenken, sie brauchen Menschen wie dich und Jamaal«, flüstert Namtar. »Sie alle stehen in deiner Schuld, Aki, mehr als sie jemals zu begreifen in der Lage sein werden. Dein Schicksal jedoch ist es, meinen Platz einzunehmen, zu beobachten, ungesehen zu bleiben, und irgendwann, wenn alles erneut beginnt, deinen Boten hinabzuschicken in diese Höhle.« Namtar deutet auf das Vogelwesen. »Sie werden weise entscheiden, Aki, davon bin ich überzeugt.«

Zaghaft gleiten die ersten Sonnenstrahlen eines neuen Morgens über die Berggipfel in der Ferne und tauchen Felder, Häuser und ein paar der Ziegen, die zu dieser frühen Stunde bereits auf den Beinen sind, in goldenes Leuchten. Häuser werfen lange Schatten, während das Dorf erwacht. Wenig später herrscht bereits geschäftiges Treiben, Wagen werden mit Säcken voll Saatgut beladen, während weiter hinten Kila und Enisa Wasserschläuche befüllen. Ein störrischer Esel wehrt sich dagegen, vor den Karren gespannt zu werden und sorgt dafür, dass Jamaals Fluchen sogar das Schreien des Tiers übertönt.

Mein Blick schweift über den Dorfplatz und es erfüllt mich mit einem Gefühl des Stolzes, den Menschen dabei zuzusehen, wie sie ein gutes Leben führen. Ich schließe die Augen und erinnere mich an damals, als ich noch Teil ihrer Welt war, bevor Namtar mich nicht nur aus ihren Leben, sondern aus der Wirklichkeit selbst entfernte. Für Jamaal, Kila und all die anderen habe ich nie existiert, und alles ist so, wie es gewesen wäre, hätte es mich nie gegeben. Von dem, was ich aufgab, werden sie niemals wissen, nie auch nur ahnen, dass ich in ihrer Mitte bin, doch unsichtbar, außerhalb der Welt, die sie zu sehen imstande sind.

Die Mittagssonne trifft mich, doch ich spüre ihr Sengen nicht, stattdessen sehe ich Kila zu, wie sie einen Korb mit Wäsche über den Platz trägt. Enisa steht auf der anderen Seite, wartend. Kilas Blick schweift in meine Richtung, sie hält einen Augenblick lang inne, schüttelt den Kopf und setzt ihren Weg fort.

»Alles in Ordnung?«, fragt Enisa, und obgleich die beiden jetzt weit entfernt sind, verstehe ich jedes Wort.

»Ja«, erwidert Kila, »mir war nur gerade, als hätte ich da etwas gesehen.« Sie lacht. »Das ist sicher die Hitze. Ich glaube, ich sollte etwas trinken.«


DIE GOLDENE FEDER

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